• Keine Ergebnisse gefunden

Die Abklärungsaufträge des Postulats 13.3672 beschränken sich auf religiöse Zeichen und Symbole, die in öffentlichen Gebäuden angebracht oder getragen werden. Beispiele für in öffentlichen Gebäuden angebrachte religiöse Zeichen und Symbole sind Kreuze im Ge-richtssaal oder im Schulzimmer. Beispiele für dort getragene Symbole sind das islamische Kopftuch, die jüdische Kippa oder sichtbar umgehängte Kreuze. Die gesellschaftliche Debat-te über angebrachDebat-te oder getragene religiöse Zeichen und Symbole geht allerdings weit über öffentliche Gebäude hinaus und erfasst zahlreiche weitere Orte, die der Öffentlichkeit zu-gänglich sind. So kann das Anbringen religiöser Symbole in Park-, Sport- und Freizeitanla-gen, das religiös motivierte Tragen spezieller Kleidungsstücke wie z.B. des Burkini in öffentli-chen Schwimmbädern oder auch das Tragen religiöser Symbole durch das Begleitpersonal in Zügen zu Diskussionen Anlass geben. Öffentlich zugänglich können auch private Lokalitä-ten sein. Auch dort stellen sich entsprechende Fragen, etwa wenn eine Arbeitgeberin oder ein Arbeitgeber bei Arbeitnehmenden mit Kundenkontakt (z. B. Verkaufspersonal) Klei-dungsstücke, die mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit verbunden werden, nicht tole-rieren will. Mehr oder weniger kontrovers diskutierte Themen gibt es auch im öffentlichen Raum im weitesten Sinne (generelles Verhüllungsverbot, Kreuze am Wegrand, Gipfelkreu-ze).

Dieser Bericht und die Abklärungen, auf die er sich stützt, konzentrieren sich gemäss den Prüfungsaufträgen des Postulats 13.3672 auf in öffentlichen Gebäuden angebrachte oder getragene religiöse Zeichen und Symbole. Dort, wo es hilfreich ist, beispielsweise beim Überblick über die Rechtsprechung und Regelungen anderer Staaten oder bei der Erörte-rung unterschiedlicher Problemwahrnehmungen und Konfliktlösungsstrategien, werden aber auch Konstellationen einbezogen, die weitere öffentlich zugängliche Orte oder den öffentli-chen Raum generell betreffen.

2 Ergebnisse der Abklärungen zur Situation in der Schweiz 2.1 Analyse der Gesetzgebung und der Rechtsprechung im Bund

In seiner im Auftrag des BJ erstellten Studie untersuchte das Schweizerische Kompetenz-zentrum für Menschenrechte (SKMR) die Gesetzgebung und die Rechtsprechung im Bund hinsichtlich in öffentlichen Gebäuden angebrachter oder getragener religiöser Zeichen und Symbole sowie die Haltung der Lehre dazu.

Das Bundesrecht enthält in diesem Bereich keine Bestimmungen. Hinzuweisen ist immerhin auf Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe c des Bundespersonalgesetzes,4 wonach dessen Ausfüh-rungsbestimmungen vorsehen können, dass das Personal, soweit es für die Aufgabenerfül-lung notwendig ist, zum Tragen bestimmter Arbeitskleider verpflichtet werden kann. Aller-dings berief sich bislang keine Dienststelle der Bundesverwaltung auf diese Bestimmung, um Bundesangestellten das Tragen religiös konnotierter Kleidungsstücke wie zum Beispiel das islamische Kopftuch zu verbieten. Das Bundespersonal darf somit grundsätzlich religiöse Symbole tragen.5 Erwähnenswert ist auch die im Februar 2016 im Bund lancierte Volksinitia-tive «Ja zum Verhüllungsverbot», die die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum und

Mykytjuk-Hitz/lic. iur. Reto Locher, Rechtsanwalt/Nora Martin, M.A. Ethnologie, SKMR, Bern (Auftraggeber: Bundesamt für Justiz).

4 BPG, SR 172.220.1

5 So gestatten z.B. die SBB ihrem Personal, religiöse Symbole zu tragen, wenn keine Sicherheitsgründe dagegen sprechen.

Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole

5/25

an öffentlich zugänglichen Orten in gleicher Weise wie der Artikel 9a der Tessiner Kantons-verfassung verbieten will.6

Mit dem Tragen oder Anbringen religiöser Zeichen und Symbole in öffentlichen Gebäuden und im öffentlichen Raum generell hat sich auf Bundesebene hauptsächlich das Bundesge-richt befasst.

In einem 1990 ergangenen Urteil entschied das Bundesgericht, die Präsenz eines Kruzifixes in Schulzimmern sei unzulässig.7 Das Gericht hält fest, im Bereich der obligatorischen Volks-schule seien besonders hohe Anforderungen an die heute aus den Artikeln 15 und 62 Absatz 2 der Bundesverfassung abgeleitete Pflicht zur religiösen Neutralität des Staates zu stellen.

Diese Pflicht werde in besagtem Fall nicht eingehalten, da die Präsenz eines christlichen Kruzifixes in einem Schulzimmer als Bindung der öffentlichen Schule an eine bestimmte Re-ligion interpretiert werden könnte. Das Bundesgericht führt weiter aus, dass die Präsenz ei-nes solchen religiösen Symbols im Unterrichtsraum die religiösen Überzeugungen nicht-christlicher Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern, die gemäss Artikel 303 ZGB allein für die religiöse Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sind, beeinträchtigen könne. Das Bun-desgericht präzisierte aber auch, dass die im Urteil genannten Prinzipien nur für Unterrichts-räume an öffentlichen Schulen, nicht aber darüber hinaus auch allgemeine Geltung bean-spruchen können. Inwieweit religiöse Symbole in anderen öffentlichen Gebäuden, z.B. in Gerichten oder Parlamenten, zulässig sind, bleibt auch nach diesem Entscheid offen.8 Die Lehre stützt mehrheitlich den Kruzifix-Entscheid des Bundesgerichts.

Verhängte Verbote, religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden oder im öffentlichen Raum zu tragen, führten mehrfach zu Beschwerden beim Bundesgericht. Dieses stützte eine gegen einen Sikh wegen Motorradfahrens ohne Helm verhängte Sanktion. Dieser hatte geltend gemacht, seine Religion verbiete es ihm, den Turban abzulegen.9 Das Bundesgericht schütz-te auch die Entlassung einer Lehrerin an einer Genfer Primarschule, die sich geweigert hat-te, ihr islamisches Kopftuch während des Unterrichts abzulegen.10 Das Gericht berief sich dabei auf das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, da eine Lehrperson bei der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Funktion in den Augen der Schülerinnen und Schüler den Staat verkörpere. Eine Lehrperson müsse deshalb jegliche religiöse Beeinflussung der Schü-lerinnen und Schüler unterlassen, namentlich wenn es um Kinder der Primarschulstufe gehe, die aufgrund ihres Alters und ihrer Unerfahrenheit besonders beeinflussbar sind. Das Kopf-tuchtragverbot für Lehrerinnen während des Unterrichts sei auch verhältnismässig, da es um die Wahrung des religiösen Friedens an der Schule und um den Schutz der religiösen Über-zeugungen der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern gehe. Diese zwei öffentlichen Interessen können somit eine Einschränkung der Religionsfreiheit von Lehrpersonen recht-fertigen.

Das Bundesgericht hatte auch zwei Mal Gelegenheit, über das Kopftuchtragen bei Schüle-rinnen, die öffentliche Schulen besuchen, zu entscheiden. In einem 2013 ergangenen Urteil taxierte das Gericht ein Kopftuchtragverbot an Schulen als schweren Eingriff in die Glau-bens- und Gewissensfreiheit der Schülerinnen. Darum brauche es für eine Einschränkung eine klare und ausdrückliche Rechtsgrundlage in einem formellen Gesetz. Diese Bedingung

6 BBl 2016 1669

7 BGE 116 Ia 252

8 Im Entscheid BGE 121 I 42 konnte sich das Bundesgericht aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zu einem im Zuschauerraum eines Gerichts angebrachten Kruzifix äussern.

9 BGE 119 IV 260 Erw.3: Das Bundesgericht führt in seinem Entscheid unter anderem aus, die Religion der Sikhs untersage es, sich in der Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung zu zeigen. Daraus lasse sich aber nicht direkt die Pflicht ableiten, einen Turban zu tragen. Es sei einem Anhänger der Religionsgemeinschaft der Sikhs zumutbar, seinen Turban in privaten Räumlichkeiten gegen einen Helm auszutauschen, bevor er sein Motorrad benutzt. In diesem Entscheid stützt sich das Bundesgericht stark auf das offensichtliche öffentliche Interesse der Sicherheit im Strassenverkehr.

10 BGE 123 I 296, bestätigt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vgl. EGMR, Dhalab c. Suisse vom 15.

Februar 2001, Nr. 42393/98, Unzulässigkeit der Beschwerde.

Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole

6/25

war im betreffenden Fall nicht erfüllt.11 In einem Urteil von 2015 konkretisierte das Bundesge-richt seine Rechtsprechung. Trotz Verankerung in einem Gesetz im formellen Sinn liess es ein allgemeines Verbot für Schülerinnen an öffentlichen Schulen, das islamische Kopftuch zu tragen, nicht zu. 12 Im zu beurteilenden Fall sei das Verbot unverhältnismässig gewesen. Die Rechtmässigkeit eines punktuellen Verbots, das sich auf ein überwiegendes öffentliches Interesse stützt, schloss das Bundesgericht aber nicht aus. Solche Interessen sind bei-spielsweise die Gewährleistung eines geordneten Schulbetriebs, die Wahrung des religiösen Friedens, der Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit der anderen Schülerinnen und Schüler, die Integration der betroffenen Schülerinnen und Schüler oder die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Gleichstellung von Frau und Mann. Im konkreten Fall kam das Bundesgericht zum Schluss, keines der genannten öffentlichen Interessen sei hö-her zu gewichten als das auf die Religionsfreiheit gestützte Begehren der betreffenden Schü-lerin, das islamische Kopftuch im Unterricht tragen zu dürfen.

Die Lehre beurteilt solche Verbote grossmehrheitlich kritisch. Das Kopftuchtragverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen wird am häufigsten kritisiert. Anders als ein im Klassen-zimmer angebrachtes Kruzifix bedeute das von einer Lehrerin getragene Kopftuch keine di-rekte Identifikation der öffentlichen Schule mit einer bestimmten Religion, weshalb von einem geringen Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler auszugehen sei. Das Kopftuchtragverbot sei darum ein unverhältnismässiger Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit der be-troffenen Lehrerin. Demgegenüber teilt eine Mehrheit der Lehre die Haltung des Bundesge-richts, wonach ein generelles Kopftuchtragverbot gegenüber Schülerinnen verfassungswidrig ist. Einzelne Autoren sagen – ähnlich wie das Bundesgericht – dass ein solches Verbot dann in Betracht gezogen werden könnte, wenn das Kopftuchtragen dermassen verbreitet wäre, dass es zu Spannungen und interreligiösen Konflikten führt.

2.2 Analyse der politischen Vorstösse in den Kantonen (2001-2015)

Die Analyse des Instituts für Föderalismus der Universität Freiburg erfasst kantonale Vor-stösse, Petitionen und Volksinitiativen im Zeitraum von 2001 bis 2015, die in einem Bezug zum "Anbringen" und "Tragen" religiöser Zeichen im öffentlichen Raum13 stehen. Die Ergeb-nisse wurden nach Themen (Kruzifix und Kreuz, Gebetsstätten und ihre Wahrzeichen, Ru-hestätten und ihre Ausgestaltung, christliche Feiern und deren Symbole in der Schule, Ge-sichts- und Ganzkörperverschleierung, Kopfbedeckung mit Fokus auf das islamische Kopf-tuch, Exkurs zur Grösse von religiösen Zeichen) sowie nach Kantonen gegliedert. Die Aus-führungen in dieser Ziffer stützen sich weitgehend auf diese Analyse.

Die Analyse zeigt, dass politische Interventionen mit dem genannten Bezug im untersuchten Zeitraum häufig waren. Allerdings gibt es einzelne Kantone ohne grössere Agglomerationen, in denen die Untersuchung keine relevanten Ergebnisse verzeichnete.14 Schwerpunkte lie-gen bei politischen Interventionen zu den follie-genden Themen:

 Kruzifixe und Kreuze v.a. in Schulen, Spitälern, Parlamentsgebäuden und Gerichten so-wie das Feiern christlicher Feste (z.B. Weihnachten) und deren Symbole in Schulen;

 Zunahme muslimischer Gebets- und Ruhestätten (Errichtung von Moscheen, Gebets- und Kulturzentren, Einrichtung separater Grabfelder);

11 BGE 139 I 280

12 BGE 142 I 49

13 Erfasst wurden nicht nur politische Interventionen mit Bezug zu staatlichen oder der Erfüllung staatlicher Aufträge dienenden Gebäuden wie Gerichte, Verwaltungen, Schulen, Spitäler oder Haftanstalten. In die Untersuchung einbezogen wurden auch Interventionen mit Bezug zu öffentlich zugänglichen Räumen wie z.B. Sport-, Kultur- und Freizeitstätten, Friedhöfe, Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs, Kinos, Restaurants, Hotels, Verkaufsgeschäfte. Weit interpretiert wurde auch das "Anbringen" religiöser Zeichen. Unter dieser Kategorie erfasst wurden auch Fälle, bei denen die religiöse Symbolik in der Baute selber oder in ihrer Gestaltung liegt (z.B. Minarette, Gebets- und Ruhestätten, Gräber). Zudem wurden auch Interventionen zu "temporären" Installationen und Veranstaltungen wie z.B. Weihnachtsfeiern oder Christbäume an Schulen einbezogen.

14 Es handelt sich um Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Nidwalden, Obwalden und Uri.

Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole

7/25

 muslimische Gesichtsverhüllung und von Musliminnen getragenes Kopftuch.

In den Vorstössen, die sich mit christlichen Religionssymbolen und Festen befassen, kommt vor allem die Besorgnis über das mögliche Verschwinden dieser Zeichen und Bräuche in öffentlichen Gebäuden, anderen öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum zum Ausdruck. Bei Vorstössen mit Bezug zu muslimischen Symbolen und von Musliminnen ge-tragenen Kleidungsstücken werden Befürchtungen vor einem zunehmenden Einfluss des muslimischen Bevölkerungsteils bzw. vor einer zu grossen staatlichen Nachgiebigkeit ge-äussert.

Die untersuchten politischen Interventionen führten insgesamt eher selten zu gesetzgeberi-schen Folgeprojekten. Keine rechtlichen Konsequenzen hatten namentlich Vorstösse zur Beibehaltung des Feierns christlicher Feste an Schulen. Solche Feiern werden kantonsüber-greifend als zur schulischen Tradition gehörig verstanden.

Bei der Anbringung von Kruzifixen (mit Korpus Christi) und einfachen Kreuzen in öffentlichen Gebäuden, wobei primär die Schulen im Fokus stehen, variieren die Reaktionen. Bei diesem Thema spielen kantonsspezifische Eigenheiten eine Rolle. Der wegleitende, kontrovers dis-kutierte Kruzifix-Entscheid des Bundesgerichts von 1990 im Fall der Tessiner Gemeinde Cadro15 führte nicht zu einheitlichen Regelungen und Auslegungen in den Kantonen. So steht in den Kantonen Genf und Neuenburg aufgrund ihrer laizistischen Tradition das An-bringen religiöser Zeichen in Schulzimmern oder Gerichten ausser Diskussion. Der Staatsrat des Kantons Jura interpretiert das Cadro-Urteil ebenfalls streng im Sinne eines vollständigen Ausschlusses religiöser Zeichen aus Schulen und Gerichtssälen. Demgegenüber vertritt der Tessiner Staatsrat die Auffassung, dass Kruzifixe in Eingängen und Korridoren von Schul-häusern weiterhin aufgehängt werden dürften, da diese Räume nicht dem Unterricht dienten.

Und im Kanton Wallis sind Kreuze, teils auch Kruzifixe, in Schulzimmern weit verbreitet.16 Das hat mit der lokalen Kultur zu tun, in der die Präsenz solcher religiöser Zeichen in öffentli-chen Gebäuden noch weitgehend mit der Glaubensüberzeugung der Mehrheitsbevölkerung übereinstimmen dürfte.

Wie im Bund befassten sich in den letzten Jahren auch viele kantonale politische Interven-tionen mit der islamischen Kleidung (Ganzkörperverschleierung, Kopftuch). Im Fall des Kopf-tuchs kam es eher selten zu neuen kantonalen Regelungen. Das ist wohl wesentlich auf das 1997 ergangene, grundlegende Bundesgerichtsurteil im “Genfer Kopftuch-Fall“ zurückzufüh-ren.17 In jenem Entscheid stützte das Bundesgericht einen Entscheid der Genfer Schulbe-hörden, einer zum Islam konvertierten Volksschullehrerin, die ihr Kopftuch im Unterricht nicht ablegen wollte, zu kündigen. Das Gericht hatte nur den Fall eines von einer Lehrperson ge-tragenen Kopftuchs zu beurteilen. Es liess aber durchblicken, dass es im Fall eines von einer Schülerin getragenen Kopftuchs zu einem anderen Entscheid kommen könnte. Genau das tat es in einem Ende 2015 gefällten Urteil.18 Darin kommt das Bundesgericht zum Schluss,

15 BGE 116 Ia 252 vom 26. September 1990.Der Gemeinderat der Gemeinde Cadro hatte im Herbst 1984 angeordnet, dass in jedem Klassenzimmer der örtlichen Primarschule ein Kruzifix anzubringen sei. Gegen diese Anordnung erhob ein Lehrer der betroffenen Schule in Cadro Beschwerde. Nachdem das Tessiner Verwaltungsgericht die Anordnung des Gemeinderats wegen Verletzung der Pflicht zur konfessionellen Neutralität der Volksschulen aufgehoben hatte, gelangte die Gemeinde an das Bundesgericht. Dieses lehnte die Beschwerde ab. Es hielt insbesondere fest, dass das Anbringen eines Kruzifixes in den Schulzimmern einer Primarschule der von der Bundesverfassung garantierten Religionsneutralität des obligatorischen Schulunterrichts widerspreche.

16 Einem Lehrer an der Orientierungsschule Stalden (VS), der der Bewegung der Freidenker angehört, wurde im Jahr 2010 von der Schulkommission gekündigt, weil er sich weigerte, ein Kruzifix, das er in seinem Schulzimmer abgehängt hatte, dort wieder anzubringen. 2012 erklärte das Walliser Kantonsgericht die Kündigung für rechtswidrig.

17 BGE 123 I 296 vom 25. November 1996. Das Bundesgericht befand, die Pflicht zu einem religiös neutralen Volksschul-unterricht verlange es, dass eine Lehrperson, die im Rahmen ihrer Berufsausübung die staatliche Schule repräsentiert, während des Unterrichts das als Zeichen der Bekenntnis zu ihrer Religion getragene Kopftuch ablegt.

18 BGE 142 I 49 vom 11. Dezember 2015. In einem den privaten Sektor betreffenden Urteil vom 8. September 2016 erklärte das Regionalgericht Bern-Mittelland eine Kündigung gegen eine muslimische Arbeitnehmerin wegen Tragen des Kopftuchs am Arbeitsplatz für missbräuchlich. Die Frau war bei einer Berner Grosswäscherei angestellt und arbeitete seit Jahren zur Zufriedenheit des Arbeitgebers. Dann begann die junge Frau, aus religiösen Gründen an ihrem Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen. Dies führte zu ihrer sofortigen Entlassung, aus Sicherheits- und Hygienegründen, wie das Unternehmen behauptete.

Anforderungen der Sicherheit und der Hygiene am Arbeitsplatz können Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte der

Ar-Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole

8/25

dass ein von der Schulgemeinde St. Margrethen (SG) gegenüber einem muslimischen Mäd-chen ausgesproMäd-chenes Verbot, das islamische Kopftuch in der Schule zu tragen, mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht vereinbar ist. Die allermeisten Kanto-ne differenzierten schon vor dieser Klärung zwischen kopftuchtragenden SchülerinKanto-nen (er-laubt) und Lehrerinnen (nicht er(er-laubt).19

Im Untersuchungszeitraum, vor allem nach 2009, kam es zu zahlreichen politischen Inter-ventionen mit dem Ziel, Gesichtsverhüllungsverbote im öffentlichen Raum einzuführen.20 Gesetzesanpassungen resultierten daraus aber nur vereinzelt,21 und flächendeckende Ver-bote lehnten die Kantonsparlamente ab. Eine Ausnahme bildet der Kanton Tessin, der am 1. Juli 2016 ein gesetzlich definiertes Gesichtsverhüllungsverbot im öffentlichen Raum in Kraft setzte.22

Stark diskutierte, polarisierende Vorstösse zum islamischen Kopftuch oder zur Gesichtsver-hüllung zeigten aber insofern Wirkung, als sie seitens der Kantonsregierungen und der kan-tonalen Verwaltungen zu einer vertieften thematischen Auseinandersetzung genutzt wurden.

Das führte oft dazu, dass sogenannte “Handreichungen“, in denen die Kantone praktische Empfehlungen zum Umgang mit religiösen Symbolen und Situationen mit religiösem Bezug festhalten, präzisiert oder erweitert wurden. Dabei wird versucht, bundesgerichtliche Grund-satzentscheidungen im Alltag pragmatisch umzusetzen, etwa bei der Möglichkeit, am obliga-torischen Schwimmunterricht im Ganzkörperschwimmanzug (Burkini) teilzunehmen. Im Ent-scheid Osmanoglu et Kocabas c. Suisse bestätigt der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte, dass die Schweizer Kantone weiterhin einen für alle Schüler obligatorischen Schwimmunterricht an der Volksschule vorsehen dürfen. Der Gerichtshof teilt in seinem ein-stimmig gefällten Entscheid die Auffassung des Schweizer Bundesgerichts, das 2008 seine Rechtsprechung verschärft hat und Dispensationen von obligatorischen Schulfächern wegen religiöser Motive grundsätzlich ablehnt.23 Der EGMR anerkennt damit den weiten Beurtei-lungsspielraum der Vertragsstaaten in Fragen der Religionsfreiheit und in Glaubensfragen und teilt die Auffassung des Bundesgerichts, wonach die Teilnahme am obligatorischen Schulunterricht der Beachtung religiöser Gebote einzelner Bevölkerungsteile grundsätzlich vorgeht. Kinder aus allen Kulturen sollen in die in der Schweiz geltenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen integriert werden.

Zu pragmatischen Lösungen Hand bieten verschiedene Gemeinden bei Wünschen nicht-christlicher Religionsgemeinschaften nach spezifischen Bestattungsritualen oder

beitnehmenden rechtfertigen. Im konkreten Fall konnte die Arbeitgeberin aber nicht überzeugend darlegen, weshalb ein Kopftuchverbot für einen reibungslosen Ablauf der Arbeit notwendig war.

19 Eine Ausnahme bildet der Kanton St.Gallen, dessen Erziehungsrat in einem 2010 erlassenen Kreisschreiben das islamische Kopftuch als nichtreligiöses Symbol eingestuft hatte, was den Schulgemeinden ermöglichen sollte, gestützt auf eigene Weisungen das Tragen des Kopftuchs an den Schulen zu untersagen. BGE 136 I 280 (den Kanton Thurgau betreffend) stützt diese Position nicht. Das Bundesgericht stellt dort fest, dass es sich beim Verbot des Kopftuchtragens um einen Eingriff in die Religionsfreiheit handelt, der eine formelle gesetzliche Grundlage verlangt. Vgl. ausserdem BGE 142 I 49.

20 So neben dem Kanton Tessin (vgl. Fn. 6) in den Kantonen BS, BL, FR, VS, JU, TG, St. Gallen, SO, SZ, ZH. Der Kanton Aargau reichte 2010 auf der Bundesebene eine Standesinitiative ein (Pa.Iv. 10.333 vom 14.09.2010 “Nationales Verhül-lungsverbot im öffentlichen Raum“. Stände- und Nationalrat gaben der Initiative am 09.03.2011 bzw. am 28.09.2012 keine Folge. Im Wallis reichte die SVP am 22. Februar 2016 eine kantonale Volksinitiative “Kopfbedeckungsverbot an Walliser Schulen“ ein.

21 Der Kanton Freiburg änderte mit Wirkung ab 01.08.2015 sein Schulgesetz. Dieses verpflichtet Schülerinnen und Schüler nun explizit, die Schule “mit unverhülltem Gesicht“ zu besuchen. Der Kanton Wallis will eine ähnliche Bestimmung erlassen.

Die Gesichtsverhüllung an Schulen dürfte aber bereits gestützt auf die generelle Pflicht, den Unterricht beeinträchtigendes Verhalten zu unterlassen, unzulässig sein.

22 Am 23.09.2013 hiessen die Tessiner Stimmberechtigten eine Volksinitiative gut, die die Aufnahme eines Gesichtsverhüllungsverbots in der Kantonsverfassung verlangte. Gestützt auf die Botschaft des Bundesrates vom

12.11.2014 (BBl 2014 9121) stimmten der Ständerat am 05.03.2015 und der Nationalrat am 11.03.2015 der Gewährleistung dieser Verfassungsbestimmung zu.

23 BGE 135 I 79.

Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole

Getragene und an Bauten angebrachte religiöse Zeichen und Symbole