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Baby Blues

Im Dokument Die Aliens sind unter uns (Seite 197-200)

Der Maquis

2. Baby Blues

Kritik gibt es im Alienismus zum Schweinefüttern. Das meiste davon wird von Aliens selbst geschrieben, die darin ein blühen-des Geschäft für sich entdeckt haben. Am Ende der Alienismus-Kritik, die Aliens für die Zivilisten schreiben, steht immer der überwältigende Eindruck, dass alles wirklich sehr schwierig, sehr kompliziert, unheimlich interdependent ist und dass man das müh-selige Geschäft des Denkens lieber denen überlässt, die was davon verstehen. Aliens eben. Auf diese Weise verwaltet der Alie-nismus seine eigene Opposition.

Kritik an sich ist deshalb billig und reichlich zu haben. Jeder zwei-te regt sich an der Supermarkt-Kasse auf, dass die Schlangen zu lang, die Preise zu teuer und das Wetter zu schlecht ist; aber man zahlt trotzdem, und das war's. Aliens denken vielleicht noch dar-über nach, ob sich mit kurzschlangigen oder kassenfreien Super-märkten möglicherweise mehr Geld machen ließe; Faschisten sinnen darüber nach, dass wahrscheinlich wieder die schuld sind, die eh an allem schuld sind, und dass Schlangestehen primitiveren Rassen vorbehalten sein sollte; und Zivilisten kennen Kritik sowieso nur als eine Form von Hospitalismus: Man murrt und brummt sich in den Schlaf. Wenn man durch die Unis geht, kann man die verschiedenen Abteilungen nach ihren kritischen Geräuschen unterscheiden: hier das helle, schnelle Knistern alie-nistischer Verbesserungskritik, die irgendwie nach Geldscheinen klingt, dort das hohle Brummen des kritischen Hospitalismus, vorzugsweise in den Gesellschaftswissenschaften.

Im Maquis ist der Maßstab von Kritik, was sie zu einer Theorie der Befreiung beiträgt. Eine Theorie der Befreiung ist eine Unterweisung in der Praxis von Emanzipation. Sinn, Zweck und Wesen maquisianischer Kritik ist, wie man sich in einem Raum voller Aliens den Weg nach draußen freikämpft. Nur dass dieses

„draußen“ nicht einfach draußen liegt, sondern gemacht werden muss, und dass man es alleine nicht schafft, sondern nur im Zusammenhang mit der Emanzipation anderer. Aber bloßes Räsonnieren und Problematisieren ist für den Maquis ohne Wert.

Eine Kritik, die sich nicht als Akt und Baustein einer Theorie der Befreiung versteht, ändert die Welt nicht. Und man kommt nicht zur Tür, ohne gleichzeitig die Welt zu ändern.

Eine Theorie der Befreiung ist nichts Harmloses. Sie kann Men-schen dazu bringen, ihr Leben zu verändern. Sie kann dazu füh-ren, dass man sich organisiert, um die Verhältnisse zu ändern.

Sie kann dazu führen, dass man sich scheiden lässt, Beziehungen verlässt und beginnt, sein Leben neu aufzubauen. Sie kann bedeuten, dass Menschen ihr bisheriges Leben beiseiteschieben oder verändern, weil sie erkannt haben, dass nicht sie verrückt, unrealistisch, ungerecht, maßlos oder unfähig sind, sondern die Verhältnisse. Dass diejenigen sie nicht begreifen, die sich ihnen bedingungslos anpassen. Dass es Gründe gibt für das, womit man nicht zurechtkommt. Möglichkeiten, es anders zu machen. Dass man dabei nicht allein ist.

Eine Theorie der Befreiung ist nicht irgendwas. Sie ist mehr als Detailkritik, mehr als bloße Unzufriedenheit, mehr als ein Ensem-ble von Verbesserungsvorschlägen. Sie ist auch mehr als bloße moralische Empörung über die Verhältnisse oder die Suche nach persönlicher Gerechtigkeit und Unangreifbarkeit. Eine Theorie der Befreiung bedeutet, ernst zu machen. Verstehen zu wollen, was das Wesen der Unterdrückung ist, weshalb sie funktioniert, und wie man sie wirklich ändern kann. Sie ist eine aktive Theo-rie. Sie hat Absichten. Sie will sich nicht beschweren und bekla-gen. Sie will herausfinden, wie es anders wird.

Oft setzt uns eine Theorie der Befreiung überhaupt erst in die Lage, Unterdrückung zu erkennen und zu benennen. Denn das ist keineswegs selbstverständlich. Sehr oft beginnt das Bemühen um eine Theorie der Befreiung an dem Punkt, wo man feststellt, dass alle persönlichen Handlungsalternativen falsch sind. Dass die Widersprüche nicht aufhebbar sind. Sie beginnt mit der Erfahrung, herauszufallen. Der Erfahrung, dass man sowohl im alienistischen System als auch in den alten Organisationen von Opposition nur eine subalterne Stellung einnehmen kann. Egal, was man tut. Es sei denn, man mutiert.

Das Bedürfnis nach einer Theorie der Befreiung entsteht an der Schnittstelle des Übergangs in den Maquis, wenn man anfängt,

die richtigen Fragen zu stellen. Es gibt keine für alle richtigen Fragen; die richtige Frage ist eine sehr persönliche Sache. Helke Sander notierte in ihrem „Versuch, die richtigen Fragen zu fin-den“: „warum bin ich agressiv als mutter? warum bin ich unglück-lich mit einem mann, den ich liebe? warum ist auch der mann unglücklich und warum erscheint mir sein unglück trotzdem erträglicher als meines?“ Der Weg dieser Fragen führte geradewegs in den „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“, für den Helke Sander 1968 die berühmte Rede auf der 23. Delegierten-konferenz des SDS hielt, nach der drei Tomaten in die Gesichter der Genossen auf dem Podium geworfen wurden – weil diese für die Anliegen des „Aktionsrates“, wie Kinderbetreuung und „Poli-tisierung des Privatlebens“, nicht mehr als ein hämisches Grin-sen übrig hatten. Die drei Tomaten (Sigrid Rüger warf sie) wurden zum symbolischen Auftakt der Neuen Frauenbewegung. Aber so etwas tun Tomaten nur, wenn sie mit dem Rückenwind der rich-tigen Fragen und mit der Flugrichtung einer Theorie der Befrei-ung fliegen. Steve Biko, schwarzer Student der medizinischen Fakultät für „Nicht-Europäer“ an der Universität von Durban, Südafrika, dachte über die Frage nach, wie schwarze Jugendliche es fertigbrachten, die verbalen Erniedrigungen, mit denen Weiße sie Tag für Tag bedachten, in vielen Fällen mit solcher augen-scheinlicher Gelassenheit zu ertragen. Seine Antwort war, dass das Leben in einer rassistischen Gesellschaft in den Unterdrück-ten ein Maß an Selbsthass hervorruft, das jede Bereitschaft zur Änderung der Lage von vornherein blockiert, und dass die Bekämpfung dieses Selbsthasses der Dreh- und Angelpunkt jeder Veränderung war. Der Weg dieser Fragen führte zum Bruch mit dem nationalen studentischen Dachverband, zur Gründung von SASO, der ersten schwarzen StudentInnen-Vereinigung in Südafrika, und zur Theorie und Praxis des Black Consciousness Movements, das den Grundstein für die jugendlichen Aufstände der späten 70er- und 80er-Jahre gegen das Apartheid-Regime legte.

Andere stellten andere Fragen, mit denen sie entdeckten, dass die geordnete, selbstverständliche Welt des alienistischen Alltags von Herrschaft zusammengehalten wird. Fragen, mit denen die

Notwendigkeit, sich zu emanzipieren, unabweisbar wird. Die Fra-gen sind einfach, aber sie sind schwierig zu stellen, weil sie alles umdeuten. Sie beinhalten die Erkenntnis, dass man selbst „nicht richtig“, unkomplett, nicht in Ordnung ist. Dass die bisherigen Strategien, sich „in Ordnung zu bringen“, nicht funktionieren.

Dass es dort keine Hilfe gibt, wo man bisher am ehesten geglaubt hat, welche zu finden. In diesem Moment ist man in der Welt des Alienismus zum Gespenst geworden, zur nicht vorhergesehenen Größe. Und man fängt notgedrungen an, sich für das Gespräch der anderen Gespenster zu interessieren.

Was heißt „Theorie der Befreiung“?

Die Suche nach einer neuen Theorie der Befreiung hat den Maquis beschäftigt, seit die Frustration über die Unbrauchbar-keit des vorfindlichen Sozialismus und der vorfindlichen Linken den Maquis in die Diaspora bombte. Es ist die Idee eines neuen Versprechens, das dem sozialistischen folgt und es ablöst.

Das Vorbild jeder Theorie des Befreiung (und alle maquisiani-schen Gespenster knirmaquisiani-schen mit den Zähnen, wenn sie das sagen) ist bis heute der Marxismus. Nur dass er nicht für sie gemacht war und deshalb für sie nicht brauchbar ist. Marx dachte weder an seine Frau noch an sein Hausmädchen, wenn es um Befreiung ging. Er dachte auch nicht darüber nach, wieso er mit den beiden zusammenlebte und nicht mit Engels. Die Reihe lässt sich fortsetzen.

Aber der Marxismus hatte alles, was eine Theorie der Befreiung haben muss und was sie von bloßer Kritik unterscheidet: Eine Analyse dessen, was ist, die nicht von Fehlern und Irrtümern spricht, sondern von Herrschaft. Eine Rekonstruktion dieses Herr-schaftssystems, wonach die herrschende Klasse nicht einfach aus schlechten Menschen besteht (so dass man bessere bräuchte), sondern ihre Interessen verfolgt. Eine Antwort darauf, was geän-dert werden muss, um dieses Herrschaftssystem zu beenden. Und eine Strategie, wie man diese Änderungen erreicht.

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