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BÜRO ALS ÜBERTRAG

Im Dokument Büro (Seite 106-109)

Der erste Teil handelte von der Geometrie. Ich habe gezeigt, wie die Griechen die ebene Fläche als Denkwerkzeug entdecken. Ich habe untersucht, wie sie auf der ebenen Fläche den formalen Umgang mit Punkten, Linien erlernen. Aus diesem Umgang entsteht die Abstraktion. Sie macht heterogene Dinge, Aussagen und Menschen miteinander vergleichbar. Sie sorgt für Gleichförmigkeit. Und das selbst vor Gericht. Dass alle Menschen gleich behandelt werden, gründet auf der Abstraktion. Unter welchen Bedingungen beginnen zwei Menschen einander zu ähneln? Warum kann man sie aufeinander beziehen? Den Blick auf das Gemeinsame oder das Ausblenden der Unterschiede findet man zuerst in der Geometrie. Der Abstraktion hat der Erfinder des modernen Gleichheitszeichens ein Denkmal gesetzt. Die Wahl der zwei parallelen Linien begründet Robert Recorde 1557 mit vollkommener Gleichheit – »because noe. 2. thynges, can be moare equalle«, schreibt Recorde. Aber wie kann man zwei Linien aufeinander abbilden? Warum gleichen sie einander? Und wie können sie diese Gleichheit mitteilen? Wie kann man denken, dass das Band zwischen den Dingen und der Sprache fest geknüpft ist? Man muss über etwas sprechen, was nicht anwesend ist, aber jedem scheinbar unmittelbar vor Augen steht. Wie kann man hoffen, dass der andere versteht, was man meint? Womöglich braucht jeder Anfang eine mehrheitsfähige fixe Idee.

Verstehen beruht auf Kulturtechniken, Wissen zu einem nicht geringen Teil auf Schreibflächen und ihren Zeichensätzen. Auf welchen Praktiken und Techniken des Wissens gründet die Abstraktion? Welches Wissen ruft sie hervor?

Abstrahieren beruht auf dem Absehen von Detailwissen – man wählt aus, man vergisst planmäßig. In diesem Sinne ist die Abstraktion der Schrift diametral entgegengesetzt. Ihre wichtigste Kulturtechnik ist das Tilgen, Löschen und Vergessen. Der zweite Teil dieses Buchs beschäftigt sich mit den Techniken des Löschens. Die Geschichten der Schrift sind ohne Zahl. Die Geschichte des Löschens wurde dagegen nur selten gestreift. Dabei hinterlässt auch das Löschen Spuren. Es macht einen Unterschied, ob man Zeichen von einer Wachstafel, einer Staubtafel, von Papier, Tontafeln, Statuen oder von der Festplatte eines Computers löscht. Man kann löschen, indem man wischt, ersetzt, überschreibt oder streicht. Man kann etwa Zeichen tilgen, dass am Ende noch sichtbar bleibt, dass oder was gelöscht wurde. Oder man kann Akten und Daten nahezu spurlos verschwinden lassen. Egal welche Löschtechnik man anwendet – die demokratische oder die diktatorische – jede Technik besitzt ihre eigene Grammatik. Dass die Techniken und Praktiken des Löschens in nahezu unsichtbar

bleiben, mag vermutlich weniger daran liegen, dass wir sie vergessen haben. Wir haben womöglich die Bedeutung des Löschens gar nicht bemerkt. Aber eine Kultur, die nicht löscht, muss irgendwann an ihrer eigenen Erinnerung ersticken.

Auf den Schreibflächen der Geometrie kann der Schattenstab mit einer einzigen Geste zeigen und verweisen, er verbindet die Dinge mit ihren Bildern und einer Sprache. Dabei entdecken die Griechen mit der ebenen Fläche auch den Plural.

Doch in diesem Teil geht es weniger um den Plural als um die Beweglichkeit der Zeichen. Wie kann man Zeichen zwischen Spalten, Seiten und Orten übertragen?

Wie stellt man sicher, dass die Übertragung ohne Fehler ist? An dieser Stelle kann man schon erahnen, wie aus der idealen Vorstellung einer ebenen Fläche zum ersten Mal das Büro im alltäglichen Sinne entsteht: Was verwaltet unsere Gedanken? Wenn die Klassische Geometrie mit der Abstraktion eine Straße durch unsere Gedanken legt, und mit dieser Straße unsere Gedanken erst ermöglicht, so ergänzen die Römer und das europäische Mittelalter diese Straße durch Kleeblätter, Leitplanken und eine Überholspur. In diesem Teil werde ich also zeigen, wie aus den Routen der klassischen Geometrie die Routinen der Verwaltung entstehen. Darum schaue ich an manchen Stellen zurück. Das betrifft etwa die Rechensteine. Um die römischen Rechensteine entsteht etwa – im Gegensatz zu den griechischen Zahlzeichen – ein System, das Zeichenbewegungen merkt und aufschreibt. Die die indisch-arabischen Ziffern errichten schließlich eine beispielslose Überwachung. Die Internetprotokolle, IP-Adressen und die Software-Agenten haben hier ihre sichtbarsten Vorläufer. Mit den indisch-arabischen Zahlen entsteht das Büro im engeren Sinne. Es ist Speicher- und Operationsmacht.

Das Wissen der Römer, das auf den Kulturtechniken des Löschens beruht, muss eine eigene Gewalt besitzen. Diese brachiale Macht der Schreibflächen zeigt sich etwa in der römischen Verwaltung, ihren Posten, ihren Gesetzen, den Prozessen, ihren Strafsystemen, sie schlägt sich nicht zuletzt in der Ausbreitung ihres Reiches nieder. Wie ist diese Macht der Oberfläche strukturiert? Welche Körper diszipliniert sie? Welche Imperien bewohnt sie außerhalb unserer Köpfe?

Wie die griechischen Rechensteine gründen auch die römischen Steine, die calculi, auf einem Stellenwertsystem. Und so müssen die römischen Zahlen nicht mehr verweisen. Ihren Wert beziehen sie von ihrem Stellenwert auf der Fläche.

Nachdem ich im ersten Teil gezeigt habe, wie sich die Schreibfläche formiert, blicke ich nunmehr auf die Zahlen und Operationen, die die Fläche zu einem Ort der Verwaltung machen. Wie bei den Griechen steht am Anfang ein kultureller Übertrag. Pythagoras, Thales, Anaximander bringen die ägyptische Mathematik

von ihren ägyptischen Reisen als Souvenir nach Griechenland. Sie erfinden mit ihr die Abstraktion – eine Eigenschaft, die ihnen nur zufällt, weil sie die ägyptische Mathematik ignorieren und missverstehen. Die Römer übersetzen wiederum die griechischen Schriften und passen sie der eigenen Kultur an. Auch Cicero hat griechische Philosophen übersetzt. Es gehe aber weniger darum, sie zu verstehen, so versichert er,

»...es war vielmehr immer meine Überzeugung, dass unsere Landsleute in allem teils aus eigener Kraft klügere Erfindungen gemacht haben als die Griechen, teils das von ihnen Übernommene verbessert haben, soweit sie es jedenfalls für würdig erachteten, sich damit zu beschäftigen.«257

Man kann nur aneignen, wenn man löscht. Das scheint Cicero sagen zu wollen.

Doch das kann man auf unterschiedliche Art und Weise. Noch einmal kehre ich zu den Steinen zurück. Ich will das Löschen weniger aus der sicheren Flughöhe einer Kultur beschreiben. Darüber kann man bestenfalls spekulieren. Auf der Schreibfläche zeigt sich dagegen das Löschen in konkreten Operationen. So kann man etwa fragen: Wie löschen die Römer auf ihren Rechenbrettern? Aber auch, wie kann man Zahlen bewegen? Denn wenn man Zahlen von einem Ort zu einem anderen übertragen will, wie etwa beim Zehnerübertrag, muss man sie andernorts löschen. So sind Löschen und Schreiben untrennbar miteinander verbunden. Die Steine der Römer, ähneln den griechischen Rechensteinen nur bedingt. Ihre Tafeln sind anderen Zahlsystemen angeschlossen. Sie existieren in einer anderen kulturellen Konstellation. Um diesen Übertrag und Unterschied zu diskutieren, gebe ich insgesamt drei Antworten. Eine erste Antwort suche ich bei den Griechen. Ich schaue auf die Zahlsysteme, die ihrem Alphabet entspringen:

Das sind die akrophonische Zählschrift und die Buchstabenzahlen. Meine zweite Antwort ist römisch und darin sprechend: Sie vergisst ihre griechischen Ursprünge. Die römische Zahlschrift reicht über das Rechenbrett des Kaufmanns und Buchhalters hinaus. Sie ist ein Werkzeug der Verwaltung. Auf die Zahl gründen darum die Römer in einem sehr buchstäblichen Sinn die Einheit des Imperiums. So ende ich mit einem Ausblick auf das Amt des Stellvertreters, um an einem einzigen Beispiel zu skizzieren, auf welchem Weg die Löschtechniken der Schreibfläche auf die Verwaltung des Imperiums überspringen. In einer dritten und letzten Antwort streife ich die Null. Ich will zeigen, wie die calculi zum Fundament einer Kulturtechnik werden, die Zahlenbewegungen protokolliert überschreibt.

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257 Cicero, Gespräche in Tusculum I 1, 1

Im Dokument Büro (Seite 106-109)