Studien
Von allen Studienleitern wurde das Protokoll ihrer Studien erbeten. Die Ber¨ucksichtigung von nur prospektiven Studien mit einheitlichem Protokoll sollte einen Grundstandard an Datenqua-lit¨at garantieren. Jede Studie musste Patienten enthalten, die mit IFN-α allein oder in Kombi-nation mit einer anderen Therapie behandelt worden waren.
Patienten
1Maximal, da durch fehlende oder nicht auswertbare Daten die Fallzahl bei der Analyse reduziert wurde.
Nur zum Zeitpunkt der Diagnose Ph-positive oder BCR-ABL-positive Patienten wurden f ¨ur die Analyse zugelassen. Angaben zu den Variablen Alter, Geschlecht, Diagnosedatum, vorgesehene Therapien (
”intention-to-treat“ [ITT]) und tats¨achliche Therapien, Therapiebeginn, Therapie-ende (ggf.), ¨Uberlebenszeit und ¨Uberlebensstatus mussten grunds¨atzlich vorhanden sein. Auch die direkt nach dem Diagnosedatum einsetzenden therapeutischen Maßnahmen (Vortherapien) mussten bekannt sein.
Zwischen Vortherapie und Kombinationstherapie wurde wie folgt unterschieden: Eine Chemothe-rapie, die bereits in der Zeit zwischen Diagnose und IFN-α-Therapiebeginn zur Anwendung kam, galt als Vortherapie. Jede Chemotherapie, die (noch) nach IFN-α-Therapiebeginn verabreicht wurde, bildete gemeinsam mit IFN-αeinen als Kombinationstherapie bezeichneten Therapiean-satz.
Das Diagnosedatum IFN-α-behandelter Patienten sollte nach dem 01.01.85 liegen, dem Jahr, ab welchem die ersten gr¨oßeren Therapievergleiche zwischen IFN-α und einer Chemotherapie gestartet wurden. Die Dosierungen waren wegen h¨aufig nicht konsequenter Dokumentation nicht erhoben worden, allerdings mussten die Patienten tats¨achlich IFN-α erhalten haben, um f¨ur die Betrachtung einer durch IFN-α induzierten Remission von Interesse zu sein. Zwischen Dia-gnosedatum und Therapiebeginn mit IFN-α durfte nicht mehr als ein halbes Jahr liegen, um sicherzustellen, dass f¨ur die meisten Patienten der Analysestichprobe die Therapie noch in der fr¨uhen chronischen Phase begonnen hatte. In Anlehnung an die von der italienischen Studien-gruppe aufgestellten Kriterien [57] wurde ¨uberpr¨uft, ob sich die Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose noch in chronischer Phase befanden. Dies war insofern erforderlich, als eine Therapie mit IFN-α im fortgeschrittenen Krankheitsstadium in den seltesten F¨allen noch wirkt und da-mit ohnehin nicht empfohlen werden kann. Entsprechend wurden Patienten ausgeschlossen, die mindestens eine der nachfolgenden Bedingungen erf¨ullten und damit bei Diagnose bereits eher der akzelerierten Phase oder Blastenphase (A/BP) zugerechnet werden mussten:
• Mehr als 10% Blasten im peripheren Blut (p.B.)
• Zusammen mehr als 30% Blasten und Promyelozyten im p.B.
• Mehr als 15% Blasten im Knochenmark
• Zusammen mehr als 50% Blasten und Promyelozyten im Knochenmark
• Extramedull¨are Manifestationen
• Mindestens eine der chromosomalen Aberrationen
”Trisomie 8“,
”zwei Ph-Chromosome“
oder ”Isochromosom 17“
Ende 1999 wurde die Datenbank zu den 11 Studien geschlossen. Tabelle 3.1 gibt eine ¨ Uber-sicht bzgl. der erhaltenen Patientenzahlen. Von den insgesamt 3009 Patienten waren 2859 (95%) bei Diagnose Ph-positiv oder ABL-positiv, bei 106 (3,5%) waren Ph-Status und BCR-ABL-Status unbekannt und 44 (1,5%) wurden als
”Ph-negativ“ diagnostiziert.2 Von den 2859
2Der Anteil Ph-negativer CML-Patienten ist nicht repr¨asentativ; einige Studienleiter verschickten von vorn-herein keine Daten Ph-negativer Patienten.
Ph-positiven3Patienten sollten initial, ¨uberwiegend qua Randomisierungsergebnis, 1788 (62,5%) eine IFN-α-Therapie erhalten, die ¨ubrigen 1071 (37,5%) eine reine Chemotherapie. Von den 1788 Patienten, f¨ur die eine IFN-α-Therapie vorgesehen war, mussten entsprechend obiger Kriterien weitere Patienten von der Analyse ausgeschlossen werden. Nach Anwendung aller Ausschlusskri-terien außer den sechs KriAusschlusskri-terien f¨ur Akzeleration bzw. Blastenkrise und mit der Hinzunahme von einigen wenigen der 1071
”Chemotherapie-Patienten“, die außerplanm¨aßig (zus¨atzlich) IFN-α bekommen hatten und auch gem¨aß der anderen Charakteristika qualifiziert waren, umfasste die Analysestichprobe 1485 Patienten.
Aufgrund fehlender Daten konnten v.a. die letzten vier der Kriterien f¨ur Akzeleration / Blasten-krise nicht bei allen Patienten ¨uberpr¨uft werden. Ein grunds¨atzlicher Ausschluss aller Patienten, bei welchen mindestens einer der zu untersuchenden Parameter fehlte, h¨atte die Reduktion der Patientenstichprobe auf 27% der F¨alle bedeutet und damit die Aussagekraft nachfolgender Ana-lyseresultate entscheidend eingeschr¨ankt. Andererseits konnten, wie oben begr¨undet, Patienten
Tabelle 3.1: Studien und Patienten
F¨ur eine Zur Analyse Zur Analyse Anzahl IFN-α-Therapie vorgesehene Pat. zugelassene Pat.
der vorgesehene, ohne Ausschluss nach Ausschluss Studie Studien- Ph-positive wegen Akzeleration wegen Akzeleration
patienten Patienten (ITT) bzw. Blastenphase bzw. Blastenphase
n n na nb
A - CML III [115] 52 52 46 45
A - CML V [116] 72 72 70 69
B/NL/LUX [15] 200 100 96 84
D - CML I [47] 605 134 121 96
D - CML II [48] 366 226 216 184
D - Essen [65] 51 51 0 0
E - C.-Le´on [78] 50 29 0 0
E - Madrid [107] 131 131 100 99
F - Bordeaux [74] 164 156 141 141
F - Poitiers [37] 207 207 207 196
GB - CML III [2] 554 262 198 186
I - Bologna [57] 322 218 210 209
I - Rom [1] 55 49 0 0
J - Hamamatsu [80] 160 81 80 75
USA - Ann A. [106] 20 20 0 0
Gesamt 3009 1788 1485 1384
aNach Anwendung aller Ein- und Ausschlusskriterien gem¨aß Abschnitt 3.3, jedoch ohne die sechs Kriterien f¨ur Akzeleration bzw. Blastenkrise.
bNach Anwendung aller Ein- und Ausschlusskriterien gem¨aß Abschnitt 3.3, einschließlich der sechs Kriterien f¨ur Akzeleration bzw. Blastenkrise. Diese 1384 Patienten bildeten zun¨achst die Analysestichprobe.
3Zwischen ”Ph-positiv“ und ”Ph-negativ, aber BCR-ABL-positiv“ wird hier wie im folgenden nicht mehr unterschieden, der Zusatz
”oder BCR-ABL-positiv“ wird weggelassen und nur noch von
”Ph-positiven“ Patienten gesprochen.
mit Parameterwerten, die auf akzelerierte Phase oder Blastenkrise hinwiesen, nicht zur Analyse zugelassen werden. Ein Vorabvergleich der Patienten mit vollst¨andigen und nicht vollst¨andigen Daten zu den relevanten Kriterien (vgl. Tabelle 3.2) war erforderlich.4
Tabelle 3.2 enth¨alt die Anzahl der auszuschließenden Patienten pro Ausschlusskriterium. So waren z.B. im Falle des Kriteriums
”> 10% Blasten im p.B.“ 34 der 1463 Patienten mit vor-liegenden Daten auszuschließen, ein Anteil von 0,0232. Diesem Anteil entsprechend, wurde die
Tabelle 3.2: Ausschluss wegen nicht chronischer Phase zum Diagnosezeitpunkt Anzahl der Anzahl der Gesch¨atzte Anzahl Anzahl Patienten Patienten auszuschließender
Untersuchtes auszu- ohne Zutreffen mit F¨alle unter
Ausschlusskriterium schließender des Ausschluss- fehlenden Patienten mit bei 1485 Patienten Patienten kriteriums Werten fehlenden Werten
n (Prozent)a n(Prozent)b n n [95%-K.I.]c
>10% Blasten im p.B. 34 (2,32%) 1429 (97,68%) 22 1 [0; 1]
>30% (Blasten +
Promyelozyten) im p.B. 6 (0,45%) 1321 (99,55%) 158 1 [0; 2]
>15% Blasten
im Knochenmark 10 (1,11%) 888 (98,89%) 587 7 [3;13]
>50% (Blasten +
Promye-lozyten) im Knochenmark 1 (0,17%) 574 (99,83%) 910 2 [0; 9]
Extramedull¨are
Manifestationen 48 (3,94%) 1170 (96,06%) 267 11 [7;14]
Bestimmte chromosomale
Aberrationd 15 (1,69%) 871 (98,31%) 599 11 [5;17]
Gesamt 114 33
aDie Prozentzahl der auszuschließenden Patienten bezieht sich auf die Gesamtzahl der Patienten (Anzahl Spalte 2 + Anzahl Spalte 3), f¨ur die das Kriterium ¨uberpr¨ufbar war.
bDie Prozentzahl der Patienten ohne Zutreffen des Ausschlusskriteriums bezieht sich auf die Gesamtzahl der Patienten (Anzahl Spalte 2 + Anzahl Spalte 3), f¨ur die das Kriterium ¨uberpr¨ufbar war.
cAnzahl Spalte 5 berechnete sich aus Anzahl Spalte 4 multipliziert mit dem gesch¨atzten Anteil in Spalte 2 (Pro-zentzahl). Das 95%-Konfidenzintervall [95%-K.I.] wurde auf Basis einer Approximation der Binomialverteilung durch die Poissonverteilung gesch¨atzt (vgl. R¨uger [94]). Bei Bestimmung der unteren Grenze des 95%-K.I. wurde zur n¨achstkleineren ganzen Zahl abgerundet, bei Bestimmung der oberen Grenze des 95%-K.I. zur n¨achstgr¨oßeren ganzen Zahl aufgerundet. Die tats¨achlichen K.I. sind damit etwas kleiner.
dMindestens eine der chromosomalen Aberrationen
”Trisomie 8“,
”zwei Ph-Chromosome“ oder
”Isochromosom 17“.
Anzahl auszuschließender Patienten unter den Patienten mit fehlenden Werten auf 1 gesch¨atzt.
Wegen der sechs Ausschlusskriterien mussten bei 1485 Patienten sechs Variablen mit insgesamt 8910 Werten ¨uberpr¨uft werden. Davon waren 6367 Werte ¨uberpr¨ufbar, 2543 Werte fehlten. Bei 11 Patienten lagen zwei Ausschlussgr¨unde vor und bei einem Patienten drei, so dass die 114 verschiedenen Hinweise auf akzelerierte Phase / Blastenkrise zum Ausschluss von 101 Patienten
4Vor dem Zusammenf¨ugen von Daten mit verschiedenen Therapieans¨atzen bedarf es im Hinblick auf den Zielparameter einer Untersuchung auf dessen Abh¨angigkeit vom Therapieansatz. Diese Untersuchung wird im n¨achsten Abschnitt nachgereicht.
Abbildung 3.1: ¨Uberpr¨ufung von 1485 Patienten auf chronische Phase zum Dia-gnosezeitpunkt. Kaplan-Meier-Kurven zur Sch¨atzung der ¨ Uberlebenswahrschein-lichkeiten dreier unterschiedlicher Patientengruppen. Mit Kriterien / Kriterium sind die Aus-schlusskriterien gemeint. Die Legende ”(396/185), 66 Monate“ bedeutet: Unter den 396 Patienten mit anhand der zugeh¨origen Kaplan-Meier-Kurve beschriebenen ¨Uberlebenswahrscheinlichkeiten wurden 185 Todesf¨alle be-obachtet. Die mediane ¨Uberlebenszeit betrug 66 Monate. Zu den Zeitpunkten 3, 6 und 9 Jahre wurden um die gesch¨atzte ¨Uberlebenswahrscheinlichkeit mit Hilfe der Greenwood-Formel [36, 40] 95%-K.I. berechnet. Die L¨ange der horizentalen Abschlusslinien f¨ur die in die Kurven eingezeichneten 95%-K.I. w¨achst mit der Reihenfolge der Nennung in der Legende von oben nach unten.
f¨uhrten. Mit derselben Quote w¨are bei 33 verschiedenen Hinweisen eine gesch¨atzte Anzahl von 29 Patienten auszuschließen.5
Da die Erf¨ullung eines Kriteriums zum Ausschluss gen¨ugte, war das Fehlen anderer Merkmals-auspr¨agungen bei den 101 Patienten (7% von 1485) nicht weiter relevant - diese Patienten sind zu Recht ausgeschlossen. Bei 396 Patienten (27%) waren die Werte zu allen sechs Variablen vorhanden und kein Ausschlusskriterium erf¨ullt - diese Patienten sind zu Recht eingeschlossen.
Bei den ¨ubrigen 988 Patienten (67%) fehlte mindestens eine der sechs Merkmalsauspr¨agungen, jedoch f¨uhrten die vorhandenen Werte nicht zu einem Ausschluss. Gem¨aß obiger Hochrechnung, h¨atten bei Vorliegen aller Merkmalsauspr¨agungen 29 der 988 Patienten (3% von 988) ausge-schlossen werden m¨ussen. Ung¨unstigenfalls, bei Addition der oberen Intervallgrenzen (Spalte 5) und bei Vernachl¨assigung, dass mehrere Ausschlussgr¨unde jeweils nur einen Patienten betreffen
5Es ist zu beachten, dass bei diesen Sch¨atzungen von einem zuf¨alligen Fehlen der Werte ausgegangen wurde, d.h. das Fehlen der Werte galt als unabh¨angig von der unbekannten Merkmalsauspr¨agung. Auch wurden keine Korrelationen zwischen den Variablen ber¨ucksichtigt.
k¨onnten, h¨atte man ca. 56 Patienten (6%) ausschließen m¨ussen.
Abbildung 3.1 zeigt deutlich niedrigere ¨Uberlebenswahrscheinlichkeiten f¨ur die 101 Patienten, deren Phase zum Diagnosezeitpunkt als
”nicht chronisch“ bewertet wurde. Beim jeweiligen Ver-gleich mit einer der oberen Kurven lagen beide p-Werte der Logrank-Tests unter 0,0005. Zu-sammen mit der medianen ¨Uberlebenszeit von 47 Monaten best¨atigten die Testergebnisse das Gelingen, mit Hilfe der sechs Ausschlusskriterien eine Gruppe von Patienten zu identifizieren, die sich zum Diagnosezeitpunkt offensichtlich bereits in fortgeschrittener Krankheitsphase befanden und deren ¨Uberlebenszeit durch Anwendung einer IFN-α-Therapie nur in Einzelf¨allen verl¨angert werden konnte. Wie erwartet, bedurfte es hier zur Erkennung der ung¨unstigen Prognose keines Modells; die Patienten wurden zu Recht von weiteren Analysen ausgeschlossen.
Die ¨Uberlebenskurve der 988 Patienten mit mindestens einem fehlenden Wert lag nach Ende des f¨unften Jahres erkennbar oberhalb der Kurve zu den 396 komplett ¨uberpr¨ufbaren Patienten, bei welchen definitiv keines der Ausschlusskriterien zutraf. Der Logrank-Test zeigte einen statistisch signifikanten ¨Uberlebensvorteil zugunsten der 988 Patienten (p = 0,0140). Aus diesem Unter-schied ließ sich keine medizinische Erkenntnis ableiten, wohl aber bekr¨aftigte er das Ergebnis auf Basis der Hochrechnungen: Unter den 988 nicht komplett ¨uberpr¨ufbaren Patienten d¨urften sich zum Diagnosezeitpunkt nur wenige bereits in fortgeschrittener Phase befunden haben. Die Zulassung der 988 Patienten beinhaltete die Verletzung der Ausschlusskriterien f ¨ur gesch¨atzte 29 Patienten, ein verschwindend geringer Nachteil im Vergleich zur Chance, dank der Daten zu ca. 950 zu Recht eingeschlossenen Patienten ¨uberhaupt ein verl¨assliches Prognosesystem identi-fizieren zu k¨onnen.