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In der "aufklarerischen" und emanzipatorischen Wirkung dieses eben genannten Beitrages auf das teilweise noch stark verfestigte

DIE 'IDEOLOGIEKRITISCHE' FUNKTION DER RELIGIONSWISSENSCHAFT

I. In der uiberlieferungs- (Traditions-)Kritik, die in allen reli- gionshistorischen Untersuchungen implizit enthalten ist; sie sollte

2. In der "aufklarerischen" und emanzipatorischen Wirkung dieses eben genannten Beitrages auf das teilweise noch stark verfestigte

("orthodox-dogmatische") Selbstverstandnis der gegenwartigen Reli- gionen. Die "Fremderkenntnis", sollte hier zugleich zur "Selbster-

47 Vgl. dazu meine Ausfiihrungen in: Das Problem der Autonomie (s.o.

Anm. 27).

kenntnis" verhelfen. Zum "Wesen der geschichtlichen Wissenschaften"

geh6rt, wie H.-G. Gadamer es formuliert, "innere Durchdringung kri- tischer Aufklarung, die die naive Fortgeltung von Uberlieferungen kritisiert, und fortwirkender Tradition, die den geschichtlichen Hori- zont mitbestimmt".48 Die der religionswissenschaftlichen Arbeit implizite Komponente der Reflexion ist ein nicht zu unterschatzen- der Faktor bei der Herausbildung und F6rderung kritischen Denkens.

"Die konkrete, historische Signatur wird mittels der ideologie- kritischen Zuriistung der Reflexion an den reflektierten Gegenstin- den transparent". 49

3. In der Untersuchung, d.h. kritischen Analyse der wechselvollen Verflechtung von "Religion" und "Politik", "Thron und Altar", vor allem im Hinblick auf die vielfaltigen religi6sen Herrschaftsideo- logien in Vergangenheit und Gegenwart, die der Manipulation der Religion dienstbar gemacht worden sind. 50

4. In der Verfolgung und historischen Nachpriifung der Gedanken von K. Marx iiber die Religion einerseits als "Opium des Volkes", andererseits als "Protestation gegen das wirkliche Elend". 51 An Hand eines solchen Leitfadens lassen sich gewisse Einsichten in die Bedeu- tung und operative Verwendung religi6ser Vorstellungen gewinnen (Religion und Wirtschaft, Religion und Gesellschaftsstruktur; Escha- tologie, Apokalyptik und Heilserwartung).

5. In der notwendigen Ausweitung des Arbeitsgebietes der Rw auf pseudo- krypto- und parareligi6se Bewegungen, den "religi6sen Unter- grund in unserer Welt", wie der Untertitel eines sich mit diesen 48 In: Hermeneutik und Ideologiekritik (s.o. Anm. I6), S. 300. Vgl. oben S. IO iiber Ideologiekritik als Vorurteilskritik. Die emanzipatorische Funktion der Geschichtswissenschaft wird von H.-U. Wehler betont (Geschichte als Histo- rische Sozialwissenschaft, Frankfurt/M.: edition suhrkamp 650, 1977, S. 27f.)

49 R. Bubner, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 220.

50 Ein vorziigliches Beispiel dafiir liefert der Beitrag von H. Cancik, Christus Imperator. Zum Gebrauch militarischer Titulaturen im r6mischen Herrscherkult und im Christentum, in: H. von Stietencron (Hrsg.), Der Name Gottes, Diissel- dorf 1975 (Patmos-Paperback), S. II2ff. "Die Kritik der 'g6ttlichen Gewalt' bleibt eine der wichtigsten Aufgaben der Religionswissenschaft" (126). Vgl. auch E.

Peters u.E. Kirsch, Religionskritik bei Heinrich Heine, Leipzig 1976 (Erfurter Theol. Schriften I3), bes. S. Ioiff.

51 K. Marx/F. Engels, tUber Religion, Berlin 1958, S. Io (2. Aufl. Berlin 1976, S. 99). Vgl. dazu W. Post, Kritik der Religion bei Karl Marx, Miinchen 1969, S. I57ff; J. Kadenbach, Das Religionsverstandnis von Karl Marx, Miinchen- Paderborn-Wien 1970, I76ff.

Phanomenen beschaftigenden Buches heifit. 52 Aus diesem Bereich er- gibt sich, daB das "Problem der Religion" neue Formen annimmt, mit denen sich die Rw beschaftigen mu3. 53 Mit Hilfe ihrer Methode und Erkenntnisfindung k6nnen diese Erscheinungen nicht nur historisch, traditionsgeschichtlich "erklart", sondern auch als Ausdruck eines weltweiten Neuauflebens unterdruckter natiirlicher Religiositat ver- standen werden. Diese Analyse zeitigt zugleich die von mir aufge- zeigte emanzipatorisch-desillusionistische, eben ideologiekritische Wirkung.

Aus diesen Aufgaben erwachst der Rw nicht nur eine neue Dimension ihrer Arbeit, sondern auch eine grol3e Verantwortung, vor allem in der sog. "Dritten Welt", die sich in einem tiefgreifenden Emanzipa- tionsprozeg befindet, der sich auch auf die eigene Uberlieferung erstreckt. "Die "Unmittelbarkeit der dogmatisch-normativen (insti- tutionell festgelegten und sozial verbindlichen) 'Applikation' des Traditionsverstandnisses, wie sie bis in die Aufklarungszeit hin- ein in Europa, und bis in die Gegenwart hinein in den meisten auBer- europaischen Kulturen, funktionierte", urteilt K. O. Apel mit Recht, kann nicht wiederhergestellt werden".54 Diese Kulturen "werden durch die fiir sie unvermeidliche Verfremdung ihrer eigenen Tradi- tion auch sogleich auf die Tatsachen hingewiesen, daB geistige Sinn- deutungen der Welt, z.B. religi6s-moralische Wertordnungen, im eng- sten Zusammenhang mit den sozialen Lebensformen (den Institutionen) zu begreifen sind. Was sie daher vor allem suchen, ist eine philo- sophisch-wissenschaftliche Orientierung, welche das hermeneutische Verstindnis der eigenen und fremden Sinn-Traditionen durch soziolo- gische Analysen der jeweils zugehorigen Wirtschafts- und Gesell- schaftsordnungen vermittelt. Dies vor allem macht die Faszinations-

52 F. W. Haack, Von Gott und der Welt verlassen, Diisseldorf I974. Weitere Literatur zu diesen Phanomenen: M.-D. Marsch, Pladoyers in Sachen Religion, Giitersloh I973; G. Lanczkowski, Die neuen Religionen, Frankfurt/M. 1974;

E. Benz, Neue Religionen, Stuttgart 1971; H. Reller, Handbuch religi6ser Ge- meinschaften, Giitersloh 1976.

53 Vgl. bereits die Untersuchungen von G. Stephenson, Zum Religionsver- standnis der Gegenwart, in: Ztschr. f. Religions- u. Missionswiss. 60, 1976, S. 181-216 und R. J. Zwi Werblowsky, Beyond Tradition and Modernity, London 1976 (Jordan Lectures I974).

54 In: Hermeneutik und Ideologiekritik (s.o. Anm. I6), S. 35.

kraft des Marxismus fiir die Intellektuellen der Entwicklungslander verstindlich". 55

In dieser Situation kann die Rw eine Hilfe bei der Gewinnung eines neuen kritisch-reflektierten Verhaltnisses zur weithin stark reli- gios gepragten Tradition sein. Denn, um Apel noch einmal zu zitie- ren, "Traditionsvermittlung muB zu einem komplizierten, wissenschaft- lich vermittelten ProzeB werden, sobald die, wenn auch nur proviso- rische, Objektivierung und Distanzierung des zu verstehenden Sinnes durch hermeneutische Abstraktion von der normativen Geltung m6glich geworden ist". 56

Weiterhin ist m.E. allein durch die angedeutete, von der religions- wissenschaftlichen Arbeit eingeleitete kritische Relativierung der religiosen Bekenntnisse und Uiberlieferungen ein Abbau gegenseitiger Vorurteile und MiBverstandnisse m6glich. Insofern hat die religions- wissenschaftliche (historische, philologische, soziologische, psycholo- gische) Kritik auch eine durchaus positive Bedeutung fur das Zu- sammenleben der Menscheit: sie f6rdert Verstandnis, Toleranz und gegenseitige Anerkennung auf dem Boden eines gleiches Zuganges zur nicht unbesehen hingenommenen Tradition. "Kultur und Wissenschaft k6nnen den Menschen sowohl von seiner naturlichen, unkultivierten Umwelt befreien, wie auch ... aus seiner Versklavung durch seine eigene Irrationalitat". 57

Es ist bemerkens- und sehr begriifenswert, da13 gerade auch von theo- logischer Seite in letzter Zeit zu diesen Fragen Weiterfiihrendes gesagt worden ist. Hans Kiing hat in seinem bekannten Buch "Christ sein" einen Abschnitt iiber die "Herausforderung der Weltreligionen"

geschrieben, der fur mich zu den herausragendsten, besten AuBerun- gen gehort, die in letzter Zeit zu diesem Thema von seiten eines engagierten christlichen Theologen vorgetragen worden sind. 58 Es geht mir aber jetzt nicht primar um das von echtem christlichem To-

55 Ebd. S. 37.

56 Ebd. 35. Eine Stimme zu dem anvisierten Problem "3. Welt und Rw" ist z.B.

G. O. M. Tasie, Africans and the Religious Dimension. An Appraisal, in:

Africana Marburgensia IX, I, 1976, S. 34-70. Verwiesen sei auch auf das bekannte Buch von J. S. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin I974.

57 Urial Tal, in: Concilium Io, H. io (Okt. I974), S.' 607 im Zusammen- hang der jiidisch-christlichen Debatte.

58 Miinchen/Zurich 1974 (2. Auf.), S. 8I-I07 (A III).

leranzdenken getragene Verstandnis fur die anderen Religionen, das Kiing zum Ausdruck bringt, sondern darum dab hier an "eine un- voreingenommene sachlich arbeitende Religionsgeschichte, Religions- phanomenologie, Religionspsychologie, Religionssoziologie und Reli- gionstheologie" appelliert wird, die zu einer ernsthaften Auseinander- setzung zwischen Christentum und den nichtchristlichen Religionen provozieren kann. 59 Kung weiB um die "geistige Unbeweglichkeit"

und Abkapselung der fremden Religionen, die sich der "v6llig neue(n) Form von BewuB3tsein", des "unumgangliche(n) Sakularismus", die beide mit den 6konomischen und gesellschaftlichen Veranderungen unseres Zeitalters in diese auB3ereuropaischen Lander Einzug gehalten haben, noch nicht voll bewuB3t geworden sind. Dafiir zeugen die un- geniigenden Antworten, die von ihnen darauf oftmals gegeben werden.

Kiing la13t es aber nicht bei dieser Feststellung, sondem gibt im Sinne der "helfenden Diagnose" einige Punkte an, die einer kriti- schen Reflexion (K. nennt den Islam, Buddhismus, Hinduismus, Dschainismus, Konfuzianismus) bediirfen (wobei er iibrigens - und das zeichnet sein selbstkritisches Bemiihen aus - in diese Fragen auch das Christentum einbezieht): Ungeschichtlichkeit (Fehlen eines historisch-kritischen Denkens), zyklisches Denken, der daraus resul- tierende Fatalismus und Pessimismus, Weltlosigkeit, Passivitat, Kasten- geist, soziales Desinteresse, Traditionalismus. 60 Dies sind die Tat- sachen, die die Rw schon langer zur Kenntnis genommen hat, sie oft aber nur als Objekt ihrer Untersuchungen mit teilweise unkritischer Bewunderung betrachtete. Dies sollte sich im Anblick der gegen- wartigen industriellen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse griind- lich andern und zu dem von mir anvisierten "ideologiekritischen"

Verhaltnis der Rw zu ihrem Gegenstand verhelfen. Sie will nicht mutwillig zerst6ren, aber sie weiB3 von ihrem Ursprung und ihrer Sache her, daB Religionen, ihre Formen und "Ideologien" immer einem Wandel ausgesetzt waren, der von den Ursachen her nicht aufzu- halten war und sein wird. Es gibt religi6se Traditionen und Formen, die iiberlebt sind und deren Beibehalten bzw. Fortexistenz kein Gewinn, sondern Verhangnis und Verlust an Sch6pfertum, ja einer neuen Identitatsfindung hinderlich sein k6nnen. Das Ethos wissenschaft-

59 Ebd. S. 97.

60 Ebd. S. 98-102,

licher Wahrheitssuche laBt fur die Rw die Autoritat des "Heiligen"

zwar in der kritischen Reflexion "untergehen" (im Hegelschen Sinne), aber sie hat ein Ma3 an Achtung fiir eine durch das Feuer der Kritik gegangene und erprobte Religiositit, die dem Forscher selbst eignen kann.

70o Leipzig, DDR, KURT RUDOLPH

Karl-Marx-Universitit

ESQUISSE D'UNE PHENOMENOLOGIE DU