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Argumente für Goldhagens Buch

Goldhagens Verdienst um die politische Kultur

Goldhagen hat die ‚anschwellenden Bocksgesänge‘ der „selbstbewußten Nation”

zumindest vorübergehend zum Verstummen gebracht und sich daher „um die politische Kultur dieses Landes verdient gemacht” (Wippermann 1997, Seite 8), so Wolfgang Wippermann. Wippermanns Einschätzung nach „geht es bei der Goldhagen-Kontroverse nicht so sehr um fachwissenschaftliche, sondern weit mehr um politische Fragen, um Fragen unserer politischen Kultur, die nach wie vor von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt ist. Wer diesen Diskurs bestimmt, die Begriffe besetzt und die entscheidenden Fragen stellt, der hat, um den viel zitierten Begriff des italienischen Marxisten Antonio Gramsci zu verwenden, den Kampf um die ‚kulturelle Hegemonie‘ in diesem Lande gewonnen.”

(Wippermann 1997, Seite 155).

Darum ist Wippermann der Auffassung, dass Goldhagens Werk „trotz fach-licher Mängel” zu loben ist. Und zur Debatte um das Buch sagt er: „Insgesamt zeigt die Goldhagen-Kontroverse, die exakt zehn Jahre nach dem Ausbruch des Histori-kerstreits begann und ganz offensichtlich noch keineswegs zu Ende ist, daß der Kampf um die kulturelle Hegemonie in der Gegenwart durch Bewältigung der Vergangenheit weitergeht, obwohl es noch zu Beginn des Jahres 1996 so ausgesehen hatte, als hätten die Aufrechner, Relativierer und Leugner bereits gewonnen. Goldhagen hat ein wichtiges Buch zur rechten Zeit geschrieben.” ( Wippermann 1997, Seite 116).

An vier Punkten erläutert Wippermann, warum ‚Hitlers willige Vollstre-cker‘ seiner Meinung nach lobenswert ist: „Einmal weil es allen trivialisierenden Vergleichen des Dritten Reiches mit anderen Regimen, insbesondere mit der DDR (die überhaupt nicht vorkommt) eine scharfe Absage erteilt. [...]

Goldhagen ist zweitens deshalb zu loben, weil er sich nicht auf den bei uns modisch gewordenen Diskurs auf die ‚tragische Mittellage‘ Deutschlands eingelassen hat, was verschiedene konservative Historiker und Journalisten offensichtlich so verblüfft hat, daß sie sich erst gar nicht zu Wort gemeldet haben.

Goldhagen hat ferner drittens keinen Zweifel daran gelassen, daß Deutschland für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der zum beispiellosen ‚Rassenvernichtungs-krieg‘ eskalierte, allein schuldig ist. Die bei uns neu entfachte Kriegsschulddiskussion würdigt er keines Wortes. Goldhagen hat schließlich viertens absolut nichts übrig für die Versuche neurechter Ideologen um Rainer Zitelmann ... die Schrecken des Dritten Reiches mit Hinweisen auf die angeblich ‚guten Seiten‘ zu relativieren.” (Wippermann 1997, Seite 115).

Diese Punkte sind es auch, weshalb Goldhagen nach Wippermanns Auffas-sung u.a. so stark und heftig kritisiert worden ist. Auch wenn Wippermann zweifellos recht hat, dass es sich bei der Goldhagen-Debatte auch um einen

‚Kampf um die kulturelle Hegemonie‘ handelt – seine Begründungen, warum Goldhagens Werk zu loben ist und warum es so stark attackiert wurde, scheinen zumindest teilweise zweifelhaft. Ein Buch zu loben, weil sich darin bestimmte Punkte nicht finden lassen? Natürlich hatte Goldhagen keinen Anlass, sich z.B.

an dem Diskurs über die angeblich ‚tragische Mittellage‘ Deutschlands zu betei-ligen, an der unsäglichen Kriegsschulddiskussion oder gar an einer Debatte über angeblich ‚gute Seiten‘ des Dritten Reiches. Diese Themen spielten aber auch in der Goldhagen-Debatte insgesamt keine Rolle; dass Goldhagen sich zu den aufgeführten Punkten nicht äußerte, wurde ihm (in der von mir untersuchten Li-teratur) nirgends vorgeworfen. Dass Goldhagen Historikerinnen und Historiker, Journalistinnen und Journalisten dadurch, dass er sich zu einem Thema nicht äußert, so verblüfft, dass sie sich selbst nicht mehr zu Wort melden, erscheint doch sehr spekulativ.

Andere Kritikerinnen und Kritiker konnten Goldhagens Werk durchaus et-was positives abgewinnen, ohne sich dabei auf Punkte zu beziehen, zu denen Goldhagen sich berechtigterweise nicht äußert. Ihre Positionen werden in den folgenden Abschnitten dargestellt.

Wissensverbreitung – gegen das Vergessen

Ein wichtiges Argument für Goldhagens Buch lautet: Es ist ein Werk, das dem Vergessen und Verdrängen entgegenarbeitet, und zwar mehr als andere fach-wissenschaftliche Veröffentlichungen. Durch die Verbreitung von Goldhagens Studie werden notwendige Diskussionen ausgelöst und wahrscheinlich weitere Forschungen angeregt. So bleibt ein Thema in der Öffentlichkeit präsent, unter das viele Deutsche gerne ‚einen Schlussstrich ziehen‘ würden, um anschließend zur ‚Normalität‘ überzugehen.

Für Ingrid Gilcher-Holtey ist „das Buch von Daniel Jonah Goldhagen [...] vor allem eine methodische Herausforderung an die Geschichtswissenschaft, die Debatte über eine vertiefte Mentalitätengeschichte des deutschen Antisemitismus und des Na-tionalsozialismus endlich weiterzutreiben.”74

Über die Kapitel zu den Arbeitslagern und den Todesmärschen schreibt Gor-don Craig: „Diese Kapitel sind zutiefst verstörend und zwingen jeden Erforscher des Holocaust zu wichtigen Fragen.”75

Doch nicht nur für die Geschichtswissenschaft wird das Buch als wichtig empfunden. Viele Kritikerinnen und Kritiker, die in Goldhagens Werk etwas Neues sehen und es auch als der Befassung würdig einstufen, heben als positiv heraus, dass durch das Buch (und die Debatte darum) Wissen über die NS-Zeit verbreitet wird, weit über die Historikerinnen- und Historiker-Fachkreise hinaus. Um diese Verbreitung von „bestürzende(n) und überraschende(n) Wahr-heiten, die die Deutschen zu lange nicht wahrhaben und mit denen sie sich auch nicht auseinandersetzen wollten”,76 weiter zu fördern, fordert Elie Wiesel: das Buch, das „einen beachtlichen Beitrag zum Verständnis und zur Vermittlung des Holocaust (liefert), (sollte) in Deutschland ... in jeder Schule gelesen werden.”77

Und auch Josef Joffe, der einiges an der Studie zu kritisieren hat, ist der Auffassung: „[Trotzdem] sollte das Buch zur Pflichtlektüre werden. Wer weiß zum Bei-spiel, daß solche legendären Anti-Nazi-Theologen wie Pastor Niemöller oder Karl Barth antisemitische Predigten gehalten haben [...] Nach diesem streitbaren und nicht nur in Deutschland umstrittenen Buch wird es nicht mehr so einfach sein, das einzigartige Verbrechen unter der Rubrik ‚im deutschen Namen‘ abzulegen oder den beruhigenden Trennstrich zwischen Nazis und ‚Normalen‘ aufrechtzuerhalten.”78

Goldhagens Forschungsleistung und neue Ansätze

Wie bereits erwähnt, gibt es einige Kritikerinnen und Kritiker, die in ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ neue Ansätze und Informationen ausmachen, die es wert seien, verbreitet und diskutiert zu werden, auch weil sie unseren Blick auf die NS-Vergangenheit verändern und zu einem neuen Umgang mit dieser Vergan-genheit führen können. So schreibt z.B. Andrei Markovits: „Nein, Goldhagens Buch ist neu: in seiner Interpretation- und Materialfülle, in der Direktheit der Sprache.

74 Gilcher-Holtey, Ingrid: Die Mentalität der Täter. ZEIT vom 07.06.1996 75 Craig, Gordon A.: Ein Volk von Antisemiten? ZEIT vom 10.05.1996

76 Wiesel, Elie: Little Hitlers. In: The Observer vom 31.03.1996, Übersetzung von Tina Hohl.

77 ebd. - Eine Diskussion über die Eignung eines solchen Buches als pädagogisches Material kann nicht Gegenstand meiner Arbeit sein.

78 Joffe, Josef: „Die Killer waren normale Deutsche, also waren die normalen Deutschen Killer”. In: Schoeps 1996. Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Artikel des Verfassers in der Süddeutschen Zeitung („Hitlers willfährige Henker” vom 13./14.04.1996) und in Time („Once Again, Why the Germans?” vom 29.04.1996).

Vor allem schließt es die schamvolle Wissenslücke in der deutschen Historiographie, die zwar über die Schreibtischtäter des Dritten Reiches ziemlich viel, über die Vollstrecker des Holocaust erschreckend wenig weiß.”79

Und Ullrich ist der Auffassung: „Doch wird diese provozierende Studie unseren Blick auf die Nazizeit verändern. Denn so scharf wie kein zweiter Historiker vor ihm hat Goldhagen die Frage nach der Beteiligung der ‚gewöhnlichen Deutschen‘ am Holocaust gestellt und danach, was sie bei ihrem möderischen Tun antrieb.”80

Wiesel spricht von „gründliche(r) Recherche” und „scharfe(r) Analyse”81. Joffe erwähnt, dass Goldhagen „haufenweise Neues zutage gefördert hat” (Joffe 1996).

Weiter schreibt er: „(Das Buch) geht unter die Haut, weil es uns zwingt, ‚die Unter-scheidung zwischen Nazis und „gewöhnlichen Deutschen“ zu überdenken‘ (Dietrich Barlow) [...] Was auch immer die Intention, Religion oder Biographie des Autors, sie tun nichts zur Sache - jedenfalls nicht für ernsthafte Historiker. Das Buch selbst, brillant, aufrüttelnd und fragwürdig zugleich, ist die Sache - mitsamt seiner interpretativen Originalität und seinen logischen Defekten, seiner großartigen Forschungsleistung und seinem eifernden Ton. Es verdient eine harte Diskussion, freilich eine integere und intellektuelle - mit dem Florett des Arguments, nicht mit dem Hackebeil der Verdäch-tigung und Verachtung.” (Joffe 1996).

Akzentsetzung auf die Täterinnen und Täter sowie deren Entscheidungsmög-lichkeiten

Die Kritikerinnen und Kritiker, die sich nicht einreihen bei denen, welche Gold-hagens Studie abtun mit: „was gut ist, ist nicht neu und was neu ist, ist nicht gut”, beurteilen es positiv, dass Goldhagen, anders als die klassische Holo-caust-Forschung, seinen Akzent auf die Täterinnen und Täter als Individuen mit Entscheidungsmöglichkeiten setzt.

Während sich ‚Intentionalisten‘ und ‚Funktionalisten‘ streiten, ob nun ‚Hitler‘

oder ‚das System‘ für den Holocaust verantwortlich ist, betont Goldhagen die Verantwortung der Einzelnen und macht deutlich, dass jede Person immer wie-der die Möglichkeit hatte, sich zu entscheiden: mitzumachen, voranzutreiben, nicht mitzumachen, Widerstand zu leisten. Wenn aus Geschichte überhaupt gelernt werden kann, dann sicher an Punkten wie diesem: die Frage, wie ge-hen wir als einzelne Individuen mit unseren vorhandenen Entscheidungs- und Eingriffsmöglichkeiten um, stellt sich nicht nur in der Diktatur oder in einem totalitärem Regime, sondern sollte ganz alltäglich gegenwärtig sein.

79 Markovits, Andrei S.: Störfall im Endlager der Geschichte. In: Schoeps 1996. Eine geringfügig veränderte Fassung dieses Beitrags ist den Blättern für deutsche und internationale Politik, 6/1996, erschienen.

80 Ullrich, Volker: Vertraute Töne. ZEIT vom 14.06.1996

81 Wiesel, Elie: Little Hitlers. In: The Observer vom 31.03.1996, Übersetzung von Tina Hohl.