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Arbeitsplatzgestaltung: Kreativität, Kompetenz, Reglementierung und Kontrolle

7. Arbeitsplätze im Detailhandel aus der Sicht von Angestellten

7.4 Arbeitsplatzgestaltung: Kreativität, Kompetenz, Reglementierung und Kontrolle

7.4.1 Kreativität und Kompetenz

Kreativität spielt in den untersuchten Arbeitsumfeldern meist eine untergeordnete Rolle. Der Arbeitsall-tag ist meist minutiös und bis ins letzte Detail reguliert und durchgetaktet. So gibt es in einem der fokus-sierten multinationalen Kleiderunternehmen ein Regelbuch des Mutterhauses, das weltweit vorschreibt, was genau auf welchen Präsentationstischen im Laden präsentiert werden muss. Der Inhalt dieses Bu-ches wird ausserdem von den 'Visuals', spezialisierten Angestellten, umgesetzt. Damit bleibt den Ver-käufer_innen das Einräumen der neuen Ware, die Kasse, das Aufräumen der Umkleidekabinen sowie die Kund_innenbetreuung. Auch ist in der Filiale der befragten Verkäufer_innen beispielsweise genau geregelt, wie die Umgebung der Kasse eingerichtet sein muss. Hier dürfen keine persönlichen Gegen-stände wie etwa Trinkflaschen deponiert werden, und der Bostitch muss stets am exakt selben Ort platziert und in eine spezifische Richtung ausgerichtet werden. In einer Filiale eines Schweizer Gross-verteilers wiederum muss exakt zwischen .58 und .00 des Arbeitsbeginns eingestempelt werden, was immer wieder zu einem nervösen Personalklüngel vor der Stempeluhr führt. Wird dieses Zeitfenster mehrmals verpasst, droht die Kündigung.

76 Etwas grösser ist der Spielraum in gewissen Supermärkten, wo die Angestellten teilweise Früchte und Gemüse selbständig präsentieren oder Blumensträusse zusammenstellen können, und das Personal an der Theke (Käse, Fleisch, Fisch) kann die Auslage meist selber gestalten. Diese Arbeiten werden entsprechend geschätzt. Darüber hinaus bleibt der Spielraum gering. Anders gestaltet sich dies bei Rayonleiter_innen oder Teamleiter_innen, wo beispielsweise das Bestellwesen, Arbeitszeitplanung o-der Führungsarbeit die Tätigkeitspalette erweitern und mehr Kreativität verlangen.

Besonders geschätzt wird von den Angestellten, wenn sie sich im Rahmen ihrer Anstellung Fachwissen und Kompetenzen aneignen können. Dies ist im Supermarkt etwa bei der Arbeit an der Theke möglich, wo sich auch ungelernte Angestellte in Weiterbildungen Fachwissen über die Produkte anzueignen ha-ben, oder wo spezialisierte gelernte Angestellte wie z.B. Metzger an der Fleischtheke ihr Fachwissen zur Anwendung bringen können. Hier wird Wissensdurst gestillt und Stolz aufgebaut:

« [...] ich bin durch das eigentlich, glaube ich, auch ein wenig stolz auf mich, da ich mir in jenen Bereichen, in denen ich gearbeitet habe, wirklich ein rechtes Wissen aufbauen konnte. »

Nina Steiner, 26 (Food und Textil)

« Also ich musste eine neue Sprache sozusagen lernen. Sachen [von denen] ich keine Ahnung hatte. Oder ich meine die Schweiz ist ein Land wo der Käse wichtig ist. Wirklich wichtig. Und [...] ich musste lernen wie die Bezeichnungen sind wie man [einen Käse] noch anbieten kann. [...] rezent zum Beispiel oder mild oder solche Sachen. [...] Und das das war für mich sehr sehr interessant. […] Ich habe [das] sehr gerne gemacht. »

Priscilla Honegger, 54 (Food)

Umgekehrt empfinden es Angestellte, besonders in Kleiderläden, als unangenehm, wenn ihnen Fragen über Produkte gestellt werden, die sie fehlenden Wissens oder der Unternehmenspolitik wegen nicht beantworten können, wie beispielsweise der Herstellungsort oder die Produktionsbedingungen von Klei-dungsstücken. In diesem Zusammenhang kommt es manchmal zu inneren Brüchen mit dem Unterneh-men. So nimmt Pinar Arslan eine sehr kritische Haltung ihrem Unternehmen gegenüber ein, das öffent-lichkeitswirksame Kampagnen zur Unterstützung armer Kinder führe, während die firmeneigene Ware teilweise in Kinderarbeit hergestellt werde.

Erwartungsgemäss ist in Arbeitsumgebungen, welche spezialisierter als die in dieser Studie fokussier-ten sind, die Nachfrage nach Fachwissen ungleich höher. Auszubildende im Detailhandel erwerben branchenspezifisches Fachwissen im Rahmen ihrer Ausbildung, während quer einsteigende Angestellte bei Anstellungsbeginn oder bei der Übernahme einer neuen Aufgabe weitergebildet werden (in spezia-lisierten Bereichen bringen die Angestellten jedoch oft eine Ausbildung im Detailhandel mit). So wurde die oben zitierte Nespresso-Verkäuferin mit der Funktion des 'Coffee Referent' betraut, was bedeutete, dass sie sich in Weiterbildungen, welche auch eine Reise in eine südamerikanische Anbauregion ein-schloss, Fachwissen zu Kaffee aneignen konnte, um dieses im Team und an die Kundschaft weiterzu-geben. Allerdings wurde ihr für diese Aufgabe sehr begrenzte Zeit eingeräumt, was ihre Motivation für diese Aufgabe mit der Zeit tilgte.

77 Es kann also festgehalten werden, dass die Interviewten grundsätzlich insbesondere über diejenigen Tätigkeiten positiv sprechen, bei welchen ihnen eine gewisse Gestaltungsfreiheit zukommt. Gleichsam betonen einige Befragte (teilweise auch dieselben), dass sie gerade die Routine, die Planbarkeit und die strukturierte Arbeit mit klaren Regel auch schätzen. So kann Unerwartetes, anspruchsvolle Kund-schaft oder neue Aufgaben für die einen eine Belastung sein, für andere macht genau dies den täglichen Reiz ihrer Arbeit aus.

7.4.2 Reglementierung und Kontrolle

Wie bereits im Zusammenhang mit der Reglementierung des Kund_innenkontakts aufgezeigt wurde, werden die Leistungen der Angestellten streng reglementiert und kontrolliert. Die Reglementierungen nehmen verschiedenste Formen an: Reglementsbücher52; Personalreglemente53; Aushänge im Pau-senraum mit neuen Weisungen, die von allen Mitarbeitenden unterzeichnet werden müssen; direkte Anweisungen der Vorgesetzten; oder indirekte Reglementierung über zielabhängige Löhne. Auch die Kontrollen treten in unterschiedlichen Formen auf, vor allem jedoch durch Überwachung der Angestell-ten durch Vorgesetzte (direkt auf der Verkaufsfläche oder via Kamera oder Kassensoftware), aber auch durch Inspektionen durch firmeninterne Kontrolleur_innen, welche den Laden inkognito besuchen.54 Antonio Sager, der Student, der in einer Bahnhoffiliale eines Grossverteilers im Stundenlohn arbeitet, erzählt:

« Und dann ist vor ein paar Monaten diese Kontrolle gewesen, und dann hat [unsere Filiale]

das nicht erfüllt, und später hat es als Massnahme extrem viele so Richtlinien gegeben, die man lesen musste, das ganze Team, und dann unterschreiben [musste], und dann hat man gesagt, das und das und das muss man verändern und muss man verbessern, und auch eben gerade im 'Top-Service', du musst auf die Kunden zugehen, und, und, und. So mega viel so Massnahmen, wo man auf das Team abgewälzt hat, oder hat gebohrt und gesagt, 'Das musst du besser machen, das musst du besser machen, das musst du besser ma-chen', wie eben drei- bis viermal am Tag [die Ware im Regal] nach vorne ziehen und zum Teil auch einfach so Alibiübungen, also so Sachen, die man gar nicht erfüllen kann, einfach um den Umsatz zu steigern. […] Sie haben wie das Gefühl, man kann dann einfach, neben dem Kürzen der Arbeitszeiten, kann man mit mehr Druck auf die Mitarbeiter noch ein wenig mehr rausholen, wie eine Zitrone auspressen, kann man noch mehr rausholen im Umsatz.

Man tut einfach dort alles optimieren […]. Einfach alle möglichen Register zieht man dann.

Und jetzt haben wir [die Nachkontrolle] bestanden und ich […] vermute, dass das gar nicht ein grosser Unterschied gewesen ist zu vorher, denn wir haben gar nicht mehr können besser machen. Und jetzt sagt man einfach, wir haben es gut gemacht. […] Es ist einfach auch ein wneig im Konzept halt vielleicht von oben nach unten, dass man sagt, 'Wir können dort noch rausholen, indem wir sagen, die Kontrolle ist negativ gewesen, wir müssen ihnen sagen, dass sie es noch besser machen können, so dass sie sich mehr Mühe geben, durch

52 Siehe zum Beispiel auch das weiter oben beschriebene Handbuch, das die Präsentation auf den Auslagentischen in einem multinationalen Kleiderkonzern festlegt; oder das 'EB', ein Handbuch der Migros, welches ein befragter Angestellter als «Bibel der Migros» beschrieb, und welches Arbeitsprozesse und Richtlinien für die Präsentation der Waren genau festlegt.

53 Diese beinhalten etwa Vorschriften zu Hygiene, Verschwiegenheit, Arbeitszeiterfassung, Löhne, Ferienregelungen, etc.

54 Eine besonders bemerkenswerte Kontrollmethode entdeckte eine befragte Angestellte im Büro der Filialleitung eines Grossverteilers: Eine Angestelltenliste, auf der jeder Name mit mehr oder weniger Smiley-Aufklebern versehen war.

78 grösseren Druck geben sie sich mehr Mühe, vielleicht können wir dort im Umsatz, im Ge-winn noch ein wenig mehr rausholen. »

Antonio Sager, 28 (Food)

Die Reglementierung der Arbeit und die Kontrolle der Leistungen erscheinen hier als (Selbst-) Diszipli-nierungsmechanismus mit dem Ziel, die «Zitrone» – die Angestellten – zu Gunsten eines gesteigerten Umsatzes «noch mehr auszupressen». Der minutiösen Reglementierung und Kontrolle jeder Einzelleis-tung kommt damit eine zentrale Rolle zu im gezielten Aufbau des Drucks auf das Personal. Dieser Druck wird durch weitere Faktoren verstärkt, insbesondere durch den mantrahaft wiederholten Diskurs des Drucks auf die Branche («Wir müssen sparen», «Wir haben dieses Jahr einen rückläufigen Umsatz gehabt», «Wir sind im Minus») sowie durch die Beschleunigung des Arbeitstempos bei gleichzeitiger Zunahme der zu erledigenden Aufgaben.

Die Überwachung durch Vorgesetzte trägt zudem massgeblich zur Herstellung einer Angstkultur bei, welche von befragten Angestellten unterschiedlichster Unternehmen beschrieben wurde. Implizite und explizite Kündigungsandrohungen bei Nichterbringen der Leistung sind verbreitet, wobei sich ältere Personen sowie Personen in prekären Lebenssituationen besonders ausgesetzt fühlen.

Die minutiöse Reglementierung jedes einzelnen Arbeitsschritts vermittelt überdies ein Gefühl, ein «Ro-boter» oder in eine «Maschine» geraten zu sein. Dazu die Studentin Leila Sägesser:

« Ich weiss nicht ob ich das klar ausgedrückt habe, es ist wirklich für mich im Nachhinein betrachtet ein guter Job gewesen, obwohl jetzt […] merke ich, dass sehr viel nicht gut war, das ist irgendwie so 'Hä was passiert da für eine optische Täuschung?' (lacht) Ich komme selber nicht so draus, und ich glaube aber, dass […] es äuä so ein menschlicher Instinkt ist oder so ein Überlebensmechanismus, dass man sich so an das anpasst und dass diese klaren Strukturen und Regelungen einem äuä helfen um diesen Alltag zu überwinden und so von Pause zu Pause zu überleben und nachher auch diese Freizeit uu zu schätzen die man hat, und [dass man die] Verfügungszeiten selber [angeben kann], ich glaube das gibt einem so das Gefühl 'Ah man hat uu viel Freiheiten' (lacht), dabei stimmt es gar nicht. Das ist wirklich so, man wird gerade ein bisschen getäuscht (lacht) und findet es nachher super, und eigentlich stimmen glaube ich ganz viele Sachen nicht oder man wird extrem eingeengt wo ich [es] nachher eben sehr unmenschlich finde, und so schleichend kommen nachher immer mehr so Sachen dazu, eben mehr Waren, mehr Kontrolle durch diese Zeitmessun-gen, nachher werden ungefragt einfach Stunden gestrichen, und das wird nachher aber kompensiert, indem man in den Pausenraum eine grosse Schale mit Schöggeli stellt die gratis sind, oder dass man Sachen 75 Prozent reduziert einkaufen [kann] […] ich glaube so Sachen muss [das Unternehmen] fast bringen weil sonst würde das gar nicht funktio-nieren (lacht) […] äuä durch so Zückerli und so. »

Leila Sägesser, 26 (Food)

Die Arbeit im Grossverteiler erscheint hier quasi als manipulative Produktions- und Blendmaschinerie, welche seitens der Angestellten des durchgetakteten Arbeitsalltags wegen keine selbstreflexive Distanz mehr zulässt. Diese Sichtweise wurde in ihrem Grundsatz durch andere Berichte bestätigt (siehe zum Beispiel Kapitel 7.7).

79 7.4.3 Fazit

Der Gestaltungsraum ist für Angestellte des Detailhandels in den untersuchten Bereichen klein, wird jedoch, wo vorhanden, sehr geschätzt. Dominantestes Merkmal der angetroffenen Arbeitsplätze sind jedoch die immer rigidere Reglementierung des Arbeitsalltags, die strenge Überwachung der Einhaltung der Regeln sowie an individuellen Leistungszielen gemessene Kontrollen und Sanktionen. Die daraus hervorgehenden Angst- und Überwachungskulturen wirken sich massgeblich auf das Wohlbefinden der Angestellten aus und bringen zusätzlichen Druck in einen bereits durch Rationalisierungsprozesse sehr verdichteten Arbeitsalltag. Mit diesem Druck und anderen gesundheitlichen Themen befasst sich der nächste Abschnitt.

7.5 Gesundheit am Arbeitsplatz Detailhandel: Psychische und physische