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Aktuelle strukturelle Entwicklungen und Herausforderungen des Detailhandels

5. Selbstdarstellung der Branche

5.2 Aktuelle strukturelle Entwicklungen und Herausforderungen des Detailhandels

Durch regelmässige GAV-Verhandlungen steht der VZH in direktem Kontakt zum Detailhandel. Der enorme Strukturwandel, den er in der Branche beobachte, sei differenziert zu betrachten, meint sein Geschäftsführer. Es gebe gut situierte und stabile Unternehmen wie die Grossverteiler und auch ge-wisse mittelgrosse Unternehmen, welche sich trotz schwierigem Umfeld in den letzten Jahren im Kampf um Marktanteile gut bis sehr gut behaupten konnten. Dann gebe es ein breites Mittelfeld von mässig Betroffenen sowie eine Anzahl Unternehmen, insbesondere kleine Läden in der Agglomeration oder abseits der Zentren, die zunehmend prekär situiert und deren Überleben fraglich sei.

Von Arbeitgebendenseite werden verschiedene Treiber des aktuellen Strukturwandels im Detailhandel identifiziert. Als einer der wichtigsten nennt der Geschäftsführer des VZH den Onlinehandel. Für des-sen Gedeihen – und den damit einhergehenden Niedergang des herkömmlichen Ladengeschäfts – sieht er in erster Linie den Zeitgeist und die damit verbundene veränderte Erwartungshaltung der Konsu-ment_innen in der Verantwortung:

« Der Onlinehandel ist brutal. Das ist ein Sinnbild für unsere Gesellschaft: Wir wollen alles und noch viel mehr, subito und möglichst gratis. Das ist die Anspruchshaltung unserer Ge-sellschaft, die einfach nicht konsequent ist. Wir wollen alles, gratis, ökologisch, sozialver-träglich, Fair Trade und ohne Kerosin. Aber wir wollen es, und zwar sofort und jetzt. Das ist die heutige schizophrene Haltung der Konsumierenden. Das hat natürlich verheerende Auswirkungen auf die kleinen und grossen Unternehmen und letztendlich auch auf die Ar-beitsplätze. Das müssen die Firmen und damit auch die Mitarbeitenden ausbaden. [...] Fakt ist, man macht sich im Internet schlau, man ist ausserordentlich preissensitiv, der Preis ist das Einzige, die Wertschätzung für das Produkt und den Menschen dahinter nimmt enorm ab. Man lässt sich oft gerne im Geschäft beraten, bestellt dann aber über das Internet. »

Geschäftsleiter des Verbands Zürcher Handelsfirmen (VZH)

Gewisse Geschäfte in der Schweiz hätten bereits versucht, eine Beratungspauschale bei Nichtkauf zu erheben, was sowohl von Unternehmer_innenseite als auch von Konsument_innenseite sehr kontrovers diskutiert wurde (der Versuch wurde abgebrochen). Läden mit den entsprechenden Ressourcen ver-suchten, einen eigenen Onlineshop aufzuziehen. Wie auch Medienberichten entnommen werden kann, ist dies jedoch sehr aufwändig, und es bleibt höchst fraglich, ob kleinere und mittlere Unternehmen

39 zusätzlich zu einem physischen Ladengeschäft einen erfolgreichen Onlinehandel betreiben können. Ei-nes der Hauptprobleme besteht hier darin, dass die Vorreiter des Onlinehandels, wie insbesondere Zalando, die Dienstleistungen mit immer besseren digitalen Beratungstools, Auslieferungen innert we-nigen Stunden nach Bestellung und gratis Retouren zu einem Grad automatisiert und perfektioniert haben, den kleinere Unternehmen nie erreichen können, der aber von der Kundschaft dieser führenden Angebote wegen zunehmend erwartet wird (NZZ 14. Januar 2017 und 23. Dezember 2016).

Wie Branchenberichte prognostizieren, dürfte sich der Druck durch den Onlinehandel in den nächsten Jahren noch deutlich verschärfen. Bereits heute gehen in der Schweiz insgesamt bereits 5.1 Prozent der Waren über den virtuellen Ladentisch (Credit Suisse 2016: 12). Projektionen besagen, dass bis 2022 über 10 Prozent des Schweizer Detailhandels via Internet abgewickelt werden wird (NZZ 30. Ja-nuar 2017). Der Onlinehandel dürfte sich dabei grossmehrheitlich über Portale grosser Unternehmen wie etwa IKEA, über grosse Grossportale wie Siroop und Galaxus in der Schweiz und die grossen Webshops wie Zalando und Amazon aus Deutschland abwickeln. Für andere Bereiche wie Lebensmittel werden hingegen lediglich moderate Zuwachsraten erwartet.

Die wichtigsten Strategien der Branche im Umgang mit dem Onlinehandel lassen sich wie folgt zusam-menfassen:

• Ausbau von unternehmenseigenen Onlineportalen (z.B. Le Shop) und/oder Vertrieb von Pro-dukten über dritte Onlinehändler (z.B. Brack)

• Intensivierung der Beratungsdienstleistungen und Kund_innenbetreuung

• Einkaufszentren als Wohlfühloasen, Event Locations und Freizeitzentren (Verpflegung, Bä-der, Kinos, etc.)

• Warenhäuser und grössere Läden als Wohlfühloasen und Event Locations

• in gewissen Sparten Trend hin zu kleineren Ladenflächen (Showrooms)

• verlängerte Ladenöffnungszeiten

Als weitere Herausforderung nennt der Geschäftsführer des VZH die sich immer schneller wandeln-den Produktetrends. Daraus ziehen gewisse grosse Billigkleiderläwandeln-den in der Zürcher Innenstadt bei-spielsweise die Konsequenz, unter ungeheurem Aufwand ihr gesamtes Sortiment in kurzen Abständen sprichwörtlich über Nacht auszutauschen.

In Verbindung mit dem Onlinehandel steht auch der Einkaufstourismus, der seit der Aufhebung der Bindung des Frankens an den Euro im Jahr 2015 noch einmal markant angestiegen ist29 und sich heute bei ca. 11 Mrd. Franken einzupendeln scheint. Damit fliesst etwa jeder zehnte Franken, der von in der Schweiz lebenden Konsument_innen ausgegeben wird, in die Kassen ausländischer Unternehmen.

29 Laut dem Credit Suisse Retail Outlook nahmen die stationären, also nicht online, sondern direkt im Ausland getätigten Einkäufe, im Jahr des 'Frankenschocks' (2015) um 8% zu (Credit Suisse 2016: 10).

40 Diese Einkäufe werden im Direkteinkauf (vor allem in deutschen Grenzregionen) als auch online getätigt (Credit Suisse 2016: 4). Die Gewerkschaften bemängeln jedoch, dass für die Berechnung der Kenn-zahlen zum Einkaufstourismus stets auch diejenigen Güter eingerechnet werden, welche in den Ferien eingekauft werden, wobei es sich um einen sehr massgeblichen Anteil der im Ausland gekauften Güter handeln soll. Diese dürften nicht vollumfänglich unter der Rubrik Einkaufstourismus verbucht werden, da viele diese Einkäufe auch bei einem schwächeren Franken getätigt würden. Damit wird der Diskurs um den Einkaufstourismus laut den Gewerkschaften dramatisiert. Unumstritten ist jedoch auch bei den Gewerkschaften der markante Anstieg der Auslandeinkäufe in den Grenzregionen, vor allem in Basel, Genf, im Tessin und in der Ostschweiz. Gleichzeitig fällt auf, dass sich der Schweizer Detailhandel in diesen Grenzregionen sehr unterschiedlich entwickelt: Während im Tessin die Anzahl Vollzeitstellen im Detailhandel zugenommen haben, waren sie in den Regionen Basel und Ostschweiz rückläufig. Dies wird in einem Branchenbericht darauf zurückgeführt, dass in Basel und der Ostschweiz im Gegensatz zum Tessin grosse Einkaufszentren in unmittelbarer Grenznähe stehen (Der Bund 06. Juni 2017, Credit Suisse 2016: 10).

Als weiteren zentralen Treiber des Strukturwandels identifiziert der Geschäftsleiter des VZH die erwei-terten Ladenöffnungszeiten. Für die einen seien die neuen Ladenöffnungszeiten ein Segen, für die anderen ein Fluch. Der Druck auf die Unternehmen sei enorm, sodass auch kleinere Läden, welche der zusätzlichen Kosten wegen durch längere Öffnungen gar keinen zusätzlichen Gewinn erwirtschaften können, sich gezwungen sehen, nachzuziehen. Laut der Gewerkschaft Unia sind es in erster Linie die ganz grossen Unternehmen wie etwa Ikea, H&M sowie die Grossverteiler wie Migros, Coop, Manor und Valora und deren Tochterunternehmen, welche Tankstellen- und Convenience-Shops betreiben, die sich für verlängerte Öffnungszeiten einsetzen (Unia 2012: 42-43). Legitimiert werden die Forderungen nach längeren Öffnungszeiten in der Regel mit den veränderten Erwartungen einer zunehmend flexibi-lisierten und individuaflexibi-lisierten Kundschaft sowie mit dem generellen Druck auf die Branche durch Fran-kenstärke und Onlinehandel.

Wie die Ausführungen des Geschäftsleiters des VZH verdeutlichen, ist jedoch bei weitem nicht die ge-samte Branche an verlängerten Öffnungszeiten interessiert. Dies zeigen auch die Positionen des Schweizerischen Detaillistenverbands und der Verbände des Fachhandels, welche Ausweitungen der Ladenöffnungszeiten in der Regel ablehnen (Unia 2012: 38, 42-43). Die Einführung längerer Öffnungs-zeiten sei für kleine Unternehmen ein sehr komplexes Unterfangen, betont der Geschäftsleiter des VZH, und oft fehle es in den kleinen Betrieben am nötigen arbeitsrechtlichen Know-how. Es sei eine der Auf-gaben des VZH, diesbezüglich zu sensibilisieren und zu informieren. Zusammenfassend kann der Kampf um verlängerte Öffnungszeiten demnach als zentrale Arena des Kampfes um Marktanteile be-trachtet werden, der den markanten Konzentrationsprozess im Schweizer Detailhandel zu Gunsten der Grossverteiler und seiner Tochterunternehmen massgeblich vorantreibt.

Eine weitere zentrale Herausforderung des Detailhandels seien schliesslich die steigenden Mieten, vor allem in den Innenstädten. So gebe es an der Bahnhofstrasse in Zürich auch alteingesessene Waren-häuser, welche sich den Standort nicht mehr leisten können und internationalen Unternehmen, vor allem

41 Bekleidungsgeschäften, weichen müssen.30 Dieser Strukturwandel sei bei weitem noch nicht abge-schlossen. Wie aktuelle Medienberichte nahelegen, wirkt sich in gewissen Städten der Onlinehandel jedoch bereits wieder senkend auf die Mieten aus. In Bern etwa scheinen in der oberen Altstadt, wo vornehmlich grosse Ladenflächen zur Verfügung stehen, die Mietpreise in den letzten Jahren gesunken zu sein. Dies sei erstens eine Folge davon, dass Unternehmen wie Digitec, MyMuesli, die Apotheke zur Rose oder Aesop ihre Läden zunehmend nur noch als Showroom für ihre viel umfangreicheren Online-portale benützen und folglich weniger Ladenfläche benötigen. Zweitens schliessen in der Innenstadt Geschäfte, welche durch den Onlinehandel besonders unter Druck geraten sind, wie zum Beispiel Hei-melektronik-Anbieter (in Bern z.B. der MediaMarkt) oder Kleiderhändler (z.B. Yendi). Insgesamt bleibt das Niveau der Mieten jedoch auch in Bern weiterhin sehr hoch, und der Trend zu kleineren Ladenflä-chen führt derzeit zu einer weiteren Verteuerung der Ladenfläche in der unteren Berner Altstadt, wo kleinere attraktive Ladenlokale zur Verfügung stehen. Dies gereicht dem Berner Altstadtleist zur Sorge, treten so doch Grossunternehmen in Konkurrenz zu traditionellen kleinen Einzelbetrieben.31

Schliesslich weist der Geschäftsleiter des VZH auf die Herausforderungen der Organisation der Bran-che hin. So sei es bisher nicht gelungen, internationale Players aus der Sparte Textil wie etwa Zara oder H&M zu einer Mitgliedschaft im Verband zu bewegen, weswegen es für den VZH auch schwierig sei, Aussagen zum Strukturwandel oder den Arbeitsverhältnissen in diesem Bereich zu machen. Be-kannt sei aber beispielsweise, dass Zara teilweise ganze Belegschaften aus Spanien in die Schweiz importiere. Eine Gewerkschaftsvertreterin erklärte in einem weiteren Beispiel, dass H&M in der Schweiz nicht nach den strengen Gewerkschaftsregelungen des Heimatlandes des Konzerns, Schweden, agiere, sondern gezielt die Spielräume im Schweizer Arbeitsrecht ausreizten (SRF 02. Mai 2017).

Auch bei kleineren lokalen Unternehmen ist jedoch die Anwerbung von Mitgliedern für den VZH schwie-rig. Der Geschäftsleiter des VZH führt aus:

« Mitgliedschaft in einem Verband ist keine Selbstverständlichkeit. Und wenn eine Firma zu sparen beginnt, dann wird als erstes geschaut, wo man Mitglied ist und welche Mitglied-schaft nicht gebraucht wird. Das ist wieder das generelle Kundenverhalten: Man will alles, subito, gratis, ökologisch und ökonomisch super. »

Geschäftsleiter des Verbands Zürcher Handelsfirmen (VZH)

Häufig geschehe es in dieser «Gratis-Mentalität», dass eine Beratung abgeholt werden wolle, ohne Mitglied zu werden. «Alle erwarten, dass ihre Interessen wahrgenommen werden. [...] Aber sich selbst engagieren, das machen sie die wenigsten», resümiert er. Die oft unsichtbare Verbandsarbeit werde

30 Hier bleibt anzumerken, dass auch internationale Unternehmen von Schliessungen betroffen sind. Teilweise trifft es diese sogar stärker als alteingesessene Geschäfte, welche auf eine treue Stammkundschaft zurückgreifen können. Für weitere Informationen siehe: Nicht allen Modeläden geht es schlecht. Der Bund vom 15. Juni 2016: http://www.der-bund.ch/wirtschaft/nicht-allen-modelaeden-geht-es-schlecht/story/13239331 (zuletzt aufgerufen am 12.06.2017).

31 Für weitere Informationen siehe auch: Wenn der Laden vor allem noch Ausstellungsraum ist. Der Bund vom 20. Mai 2017: http://www.derbund.ch/bern/stadt/wenn-der-laden-vor-allem-nochausstellungsraum-ist/story/14670010 (zuletzt auf-gerufen am 12.06.2017). Sowie: Sinkender Platzbedarf macht untere Altstadt beliebter. Der Bund vom 20. Mai 2017:

http://www.derbund.ch/bern/stadt/sinkender-platzbedarf-macht-untere-altstadt-beliebter/story/12325463 (zuletzt aufgeru-fen am 12.06.2017).

42 wenig wahrgenommen und kaum geschätzt. Die Lage sei mittlerweile hochdramatisch einzuschätzen, da auch bei den Gewerkschaften die Mitgliederzahl rückläufig sei (siehe auch Kapitel 6). Für einen guten GAV brauche es jedoch starke Sozialpartner_innen; das sei im Detailhandel heute nicht gegeben. Die Repräsentativität sei in der Regel «jämmerlich», und das ziehe berechtigte Legitimationsfragen nach sich.

5.3 Aktuelle Herausforderungen für Detailhandelsangestellte aus Sicht der