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Arbeitskreis Interaktionsforschung

Tagungsbericht: Perspektiven der Interaktionsforschung

Der erste Workshop des Arbeitskreises Interaktionsforschung in der Sek-tion Wissenssoziologie (Sprecher: Olaf Kranz, Christian Meyer, Marion Müller, Rainer Schützeichel) fand am 4. und 5. Juli 2014 an der Universität Bielefeld statt.

Die beiden Eröffnungsvorträge widmeten sich der begrifflichen Konturie-rung des Begriffs sozialer Interaktion angesichts der Differenz von körperli-cher Ko-Präsenz sensu Erving Goffman und medienvermittelter Kommuni-kation. Marion Müller (Trier) plädierte in ihrem Vortrag »Zur Unverzichtbarkeit von Interaktion« für eine Schärfung des Interaktionsbegriffs im Sinn eines so-ziologischen Grundbegriffs und für eine entfaltete Interaktionstheorie, um die damit bezeichneten Phänomene aus ihrer sachlich unverdienten Randlage im aktuellen soziologischen Diskurs zu befreien. Sie plädierte dafür, Interaktion von medienvermittelter Kommunikation zu unterscheiden, und zwar anhand des auf Goffman zurückgehenden Kriteriums einer durch körperliche Koprä-senz ermöglichten und in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum realisier-ten reflexiven sozialen Wahrnehmung der Interaktionspartner. Mit Blick auf bestimmte, an Interaktion gebundene organisationale Kontexte und auf funk-tionssystemspezifische Interaktionsordnungen stellte sie die These vom zu-nehmenden Bedeutungsverlust unmittelbarer sozialer Interaktionen infrage.

Christian Meyer (Siegen) sprach in seinem Vortrag »Die Analyse verkörperter situierter Aktivitäten – eine Forschungsrichtung zwischen Soziologie, Lin-guistik und Anthropologie« die zentrale Herausforderung der Interaktions-soziologie an, die eindrucksvollen Ergebnisse einer interdisziplinären empi-rischen Forschungslandschaft zu sequentiellen Abstimmungsprozessen, die soziale reflexive Wahrnehmung ebenso umgreifen wie medienvermittelte Kommunikation, mit Hilfe eines klar geschnittenen Begriffs der sozialen In-teraktion theoretisch zu durchdringen. Dabei sollten aber hinsichtlich kör-perlicher Kopräsenz und geteilter Wahrnehmungsräume weniger a priori Annahmen gemacht und mehr Graduierungsspielraum hinsichtlich der Frage eingeräumt werden, unter welchen medialen Bedingungen sich die In-teraktionsteilnehmer wechselseitig als anwesend behandeln.

Der Vortrag von Ole Pütz (Bielefeld) »Sitzungen, Meetings & Treffen: Zur Sequenzanalyse formaler Gespräche und ihrer Outcomes« stellte anhand em-pirischer Forschungen über Anti-Atom-Gruppen die Frage, wie die Entste-hung von Entscheidungen in formalisierten Gesprächen sequenzanalytisch untersucht werden kann. Vor dem Hintergrund von Komplexität und Multi-thematizität dieses Phänomens wurden Grenzen und Probleme der konversa-tionsanalytischen Sequenzanalyse ebenso wie derjenigen der objektiven Her-meneutik diskutiert und Lösungsansätze vorgestellt.

Der Vortrag »Die situative Interaktionsordnung in sequenz- und kon-flikttheoretischer Perspektive: Sichtweisen dialogischer Semiotik im Kontext einer radikalen Mikrosoziologie« von Michael Nguyen (Darmstadt) plädierte mit Blick auf das Mikro-Makro-Verhältnis für einen methodologischen Si-tuationismus, der die Analyse situativer Interaktionsordnungen im Kontext von Gesellschaft der Analyse der Entstehung sozialer Systeme aus individu-ellen Handlungen vorzieht, da Interaktionsordnungen die unmittelbare Struktur sozialen Lebens mit dem höchsten Grad an Normativität und Sta-bilität darstellen. Nguyen begründete diese methodologische Option mittels einer konflikttheoretischen Perspektive auf soziale Dialogizität in der Tradi-tion von Michail Bachtin.

Tilmann Sutter (Bielefeld) berichtete im Abendvortrag über Ergebnisse ei-nes Forschungsprojektes über »Interaktionen im Internet«. Während tech-nische Innovationen neue Formen der Kommunikation und Sozialität wie z.B. »Chats« ermöglichen, experimentiert die Gesellschaft mit Modi, sich dieses unvertraute Geschehen vertraut werden zu lassen und greift dafür insbesondere auf anthropomorphe Kategorien interpersonaler

Kommuni-BE R I C H T E A U S D E N SE K T I O N E N 113 kation bzw. auf einen romantischen, die wechselseitige Anwesenheit beto-nenden Interaktionsbegriff zurück. Sutter plädierte dagegen dafür, den Be-griff der Interaktivität als GrundbeBe-griff zu nutzen und anhand verschiedener medialer Bedingungen der Interaktivität soziale Interaktionen sensu Goff-man als einen Sonderfall von Interaktivität zu bezeichnen.

Olaf Kranz (Regensburg) schlug in seinem Vortrag »Interaktionsformate als

›Disciplines‹ am Beispiel der Krankenhausvisite: Kontexte der Disziplinierung und Identitäten im Netzwerk von Interaktionen« anhand von empirischen Untersuchungen von Chefarztvisiten vor, den Begriff der »Disciplines« aus der phänomenologischen Netzwerktheorie von Harrison White mit Hilfe des Begriffs des »Interaktionsformates« von Jürgen Markowitz zu operationalisie-ren. Zum einen wurde gezeigt, wie bestimmte Strukturkomponenten einfacher Sozialsysteme von Organisationen einerseits und von sozialen Netzwerken andererseits wie ein Medium jeweils für den eigenen Strukturaufbau ›diszipli-niert‹ und genutzt werden (Komplementärrollengefüge vs. Personen-in-Bezie-hung). Zum anderen wurde vorgeschlagen, ›disziplinierte Interaktionsformate‹

neben Personen als netzwerkfähige »Knoten« zu betrachten, so dass die bis-lang metaphorische Sprache von »Netzwerken sozialer Interaktionen« begriff-lich schärfer akzentuiert werden kann.

Christoph Mautz’ (Münster) Vortrag »Potentiale und Probleme der Analy-sen der Multimodalität von Interaktion« plädierte für eine holistische, d.h., verbale und non-verbale Phänomene gleichermaßen integrierende Perspek-tive auf Interaktion. Die empirische Erforschung und theoretische Beschrei-bung der Multimodalität von Interaktion muss einerseits an den anhand von sprachlichen Interaktionen gebildeten Begriffen wie Bedeutung, Intentiona-lität, Normativität bzw. Konventionalität ansetzen und diese für den Bereich non-verbaler Gesten im Rahmen einer pragmatischen Gebrauchstheorie respezifizieren und andererseits das Verhältnis von verbalem und non-ver-balem Ausdrucksverhalten bestimmen.

Der Vortrag »Facework, Politeness und die Logik der Herausforderung in Konfliktinteraktionen« von Oliver Schmidtke (Frankfurt am Main) disku-tierte anhand der Feinanalyse eines prominent gewordenen Fernsehinter-views die Bedeutung des Goffmanschen »Face«-Begriffs im Kontext einer Logik von Herausforderung und Erwiderung (Bourdieu) für die soziologi-sche Interaktionsanalyse. Soziolinguistisoziologi-sche Kategorien, wie z.B. der dro-hende Zusammenbruch des turn takings und der damit zusammenhängende Gesprächsabbruch, lassen sich als individuelle Teilnehmerstrategien der

Konflikterzeugung und -bewältigung auffassen, mit deren Hilfe kommuni-kative Interessen gegen Widerstand durchgesetzt werden sollen. Dabei ist das Verhalten jedes einzelnen Teilnehmers als das Ergebnis widerstreitender normativer Anforderungen zu verstehen, die wiederum aus deren Positio-nierung im sozialen Raum und Institutionengefüge resultieren.

Justus Heck (Bielefeld) systematisierte im Vortrag »Triadische Konfliktbe-arbeitung in Mediationsinteraktionen« heterogene empirische und theoreti-sche Forschungen zur Mediation in einer interaktionstheoretitheoreti-schen Sekundär-analyse. Heck fragte, welchen Unterschied der vermittelnde Dritte im Media-tionsverfahren insbesondere für die latente Funktion der Erzeugung von un-wahrscheinlicher Nachgiebigkeit der beteiligten Konfliktparteien macht.

Im Lichte dieser Vorträge lässt sich die Frage des Workshops nach den

»Perspektiven der Interaktionsforschung« summarisch mindestens wie folgt beantworten: Erstens kommt der klassische Begriff der sozialen Interaktion durch technische Innovationen ebenso wie durch gesellschaftliche Struktur-veränderungen unter Druck und muss in seinen Grenzen immer wieder neu bestimmt werden. Zweitens scheint die empirische Interaktionsanalyse in ihren partikulären Erkenntnissen der Interaktionstheorie weit vorausgeeilt zu sein. Drittens zeichnet sich paradigmenübergreifend ein Interesse an der Analyse funktional differenzierter bzw. sachlich spezialisierter und hoch for-malisierter Interaktionen ab. Viertens muss zusammen mit dem Begriff der Interaktion das Verhältnis geklärt werden, in dem Interaktionen einerseits zu ihren Teilnehmern und andererseits zu anderen Ebenen der Bildung von Sozialität (Organisation, Gesellschaft) stehen. Fünftens ist der Phänomen-bereich der Interaktion bestens geeignet, als ein boundary object (Susan L. Star) der interdisziplinären Zusammenarbeit zu fungieren.

Olaf Kranz

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Habilitationen

Dr. phil. Walter Gehres wurde durch den Fachbereich 1 Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim am 27. Mai 2014 habili-tiert. Die Habilitationsschrift trägt den Titel »Sozialisation und Erziehung im Als-Ob am Beispiel von Pflegefamilien. Zwischen Kompensation und der Förderung selbständiger Lebensbewältigung«. Die venia legendi lautet Soziologie.