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Antisemitische Orientierungen Jugendlicher: Ausgangsbedingungen

und Perspektiven gesellschaftspoli-tischer Bildungsarbeit

Die Aufgabenstellung des von der Freudenbergstiftung und der Amadeu-Antonio-Stiftung geförderten Projektes lag darin, eine für die außerschulische und schulische Bil-dungsarbeit hilfreiche Beschreibung der Verbreitung und der Ausprägung antisemitischer Orientierungen unter ge-genwärtigen Jugendlichen vorzulegen.

Hierfür wurden Daten aus der Einstellungsforschung analysiert und eine eigenständige qualitative Erhebung durchgeführt: In der Form von 20 Gruppeninterviews wur-den Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus in West- und Ostdeutschland befragt. Auf dieser Grundlage konnten differenzierte Beschreibungen antisemitischer To-poi und Argumentationen und darin begründete Empfeh-lungen für eine zeitgemäße Bildungsarbeit gegen Antise-mitismus entwickelt werden.

Relevanz und Zielsetzung

Zahlreiche Untersuchungen haben aufgezeigt, dass an-tisemitische Stereotype auch gegenwärtig noch unter Erwachsenen, aber auch unter Jugendlichen eine erheb-liche Verbreitung haben. So stimmt zum Beispiel 1/3 aller

Befragten in repräsentativen Erhebungen der Aussage zu, dass Juden heute noch zu viel Einfluss auf der Welt haben.

Nahezu 50% sind der Überzeugung, dass „viele Juden ver-suchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen“.

In gängigen Konzepten der schulischen Bildungsar-beit wird darauf bezogen versucht, durch ein historisches Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust Schüler gegen Antisemitismus zu „immunisieren“.

Dieser Logik folgende pädagogische Konzepte sind je-doch nur begrenzt aussichtsreich. Sie tragen zwar zur Ver-ankerung eines moralischen Anti-Antisemitismus bei. Sie übersehen jedoch, dass sich eine Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust keineswegs notwendig und direkt in eine Ablehnung aktueller Ausprägungen von Antisemitismus übersetzt. Sie können zudem dazu beitra-gen, dass antisemitische Stereotype tradiert werden.

Deshalb war es erforderlich zu erforschen, was an-tisemitischen, aber auch anti-antisemitischen Haltungen gegenwärtiger Jugendlicher zu Grunde liegt und welche Ansatzpunkte und Anforderungen für eine zeitgemäße Bil-dungsarbeit daraus resultieren.

Angestrebt war also, Daten zu erheben, die dazu bei-tragen, das Wissen, die Überzeugungen und die Motive zu verstehen, die Jugendliche veranlassen, Distanz und ggf.

auch Feindseligkeit gegenüber Juden als eine aus ihrer

ei-Projektergebnisse

Ergebnis des Projektes sind differenzierte Beschreibungen unterschiedlicher Ausprägungen antisemitischer und anti-antisemitischer Orientierungen in unterschiedlichen Ju-gendszenen, von denen hier nur einige Aspekte knapp skizziert werden können.

Grundlegend für das Projekt war zunächst die Beo-bachtung, dass Versuche einer vereindeutigenden Un-terscheidung zwischen antisemitischen und nicht-antisemitischen Jugendlichen nur begrenzt hilfreich sind. Denn antisemitische Ste- reotype finden sich auch bei solchen Ju-gendlichen, die dezidiert keine Antise-miten sein wollen.

Eindeutige und offene antisemi-tische Positionierungen finden sich im Material unserer Unter-suchung einerseits in Verbin-dung mit rechtsextremen Posi-tionen, anderseits als Ausdruck bestimmter Varianten einer muslimischen Selbstidentifikati-on, also keineswegs durchgängig bei allen Jugendlichen, die sich als Muslime begreifen.

Deutlich wurde dagegen, dass Jugendliche jedoch gewöhnlich keine Antisemiten sein wollen. Dies ist aber kei-neswegs hinreichend ist, um antisemitische Haltungen zu überwinden. Denn ein moralisch grundierter Anti-Antisemitismus verbindet sich wieder-kehrend mit der Überzeugung, dass bestimmte Stereotype tatsächlich zutreffend sind sowie mit Varianten einer folgen-reichen Differenzkonstruktion: Juden werden – und dies ist bei allen sonstigen Unterschieden ein durchgängiges Mo-ment in den von uns durchgeführten Interviews – als ein in sich homogenes Kollektiv wahrgenommen, das grund-legend von der jeweiligen Eigengruppe, z.B. „uns Deut-schen“, unterschieden wird. Entsprechende Differenzkon-genen Sicht begründete Haltung einzunehmen. Denn eine

Bildungsarbeit, die auf ein solches Verstehen verzichtet, operiert quasi im Blindflug und muss sich deshalb über ein Scheitern ihrer zweifellos guten pädagogischen Absichten nicht wundern.

Methoden und Forschungsstrategie

Das Forschungsprojekt konnte nicht davon ausge-hen, dass bereits bekannt ist, was antisemitische Orien-tierungen gegenwärtiger Jugendlicher charakterisiert und deshalb auch nicht mit den Methoden einer standardisier-ten Befragung arbeistandardisier-ten, die die quantitative Verbreitung solcher Orientierungen zu erheben versucht.

Erforderlich war daher eine offene Anlage der Daten-erhebung, die Jugendliche dazu anregt, ihr Wissen und ihre Überzeugungen in ihrer eigenen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Deshalb wurden – in Anlehnung an methodische Prinzipien qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung – Grup-peninterviews mit Schulklassen und Jugendzentrumscliquen geführt, deren Ausgangspunkt ein Gesprächsimpuls war, der als solcher wenig Festlegungen enthält. Mit Hilfe eines Interviewleitfadens wurde sichergestellt, dass unterschied-liche Aspekte der Thematik zum Gegenstand wurden.

Die Auswahl der zu interviewenden Jugendgruppen erfolgte – im Sinne der Forschungsmethodologie der Grounded Theory – durch ein offenes Sampling, das da-rauf zielte, das heterogene Spektrum unterschiedlicher Jugendszenen möglichst breit und differenziert abzubil-den. Kriterien hierfür waren unter anderem das Bildungs-niveau, politische und religiöse sowie jugendkulturelle Verortungen. In die Befragung einbezogenen wurden auch jüdische Jugendliche, um rekonstruieren zu können, wel-che Erfahrungen mit Antisemitismus diese mawel-chen und wie sie damit umgehen.

Aus den Forschungsergebnissen wurden Empfeh-lungen für die schulische und außerschulische Bildungs-arbeit abgeleitet, die in der Fachöffentlichkeit breite Reso-nanz gefunden haben.

struktion finden sich in kulturnationalistischen, aber auch in religiösen, christlichen und muslimischen Ausprägungen.

In anderen Fällen zeichnet sich ein politisch fundierter Antisemitismus ab, dessen vermeintlich rationale Grundla-ge eine undifferenzierte Kritik israelischer Politik im Nah-ostkonflikt ist.

Für eine erfolgversprechende Bildungsarbeit gegen Antisemitismus ist es vor diesem Hintergrund erforderlich, einerseits Distanz zu gängigen moralisierenden

Zu-schreibungen an Jugendliche bzw. Schüler einzu-nehmen, um Kommunikationsdynamiken zu

vermeiden, die zu Abwehrhaltungen und Lernblockaden führen.

Andererseits ist es geboten, die kollektiven

Identitätskonstruk-tion jeweiliger Jugendlicher und die darin eingelassenen

Diffe-renzkonstruktionen sowie die politischen und religiösen Überzeugungen als unhin-tergehbaren Bezugspunkt für Bildungsangebote zu begreifen.

Ausgewählte Publikationen

Scherr, A., Schäuble, B. (2008). „Ich habe nicht gegen Ju-den, aber …“ Ausgangsbedingungen und Perspektiven ge-sellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus.

Berlin: Amadeu Antonio Stiftung.

Scherr, A., Schäuble, B. (2008). „Wir“ und „die Juden“. Ge-genwärtiger Antisemitismus als Differenzkonstruktion. Ber-liner Debatte Initial, 19. Jg., 2008, S. 3-14.

Schäuble, B., Scherr, A. (2006). Widersprüchliche und frag-mentarische Formen von Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen. In Fritz Bauer Institut / Jugendbegegnungs-stätte Anne Frank (Hrsg.), Neue Judenfeindschaft? Per-spektiven für der pädagogischen Umgang mit globalisier-tem Antisemitismus (S. 51-79). Frankfurt, New York.

Leitung: Prof. Dr. Albert Scherr Mitwirkende: Barbara Schäuble

Institut: Sozialwissenschaften, Abt. Soziologie Laufzeit: Okt. 2006 - Aug. 2008

Volumen: 25.000 €

Kontakt: scherr@ph-freiburg.de