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Anthropologie und Rassenhygiene in Kiel. Otto Aichels Weg als Wissenschaftler und Nationalsozialist

D

ie Medizinische Fakultät Kiel woll-te zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinter der Entwicklung des wis-senschaftlich immer interessanter erscheinenden Faches Anthropo-logie nicht zurückstehen. Im Jahr 1913 wurde deswegen der Privat-dozent für Anatomie Otto Aichel durch den Direktor des Anatomischen Insti-tuts Ferdinand Graf von Spee (1855-1937) aus Halle auf die Stelle des zweiten Pro-sektors der Anatomie nach Kiel geholt.1 Aichel begann alsbald mit dem Aus-bau der Anthropologie durch regelmä-ßige Vorlesungen und anthropologische Forschung. 1923 entstand trotz der da-mals bedrängenden wirtschaftlichen Si-tuation Preußens zunächst als Abteilung der Anatomie ein provisorischer Lehr-stuhl für Anthropologie. Es gelang Otto Aichel bereits 1924, in Kiel eine „anth-ropologische Abteilung“ als „Anthropo-logisches Institut“ mit einem vom Ana-tomischen Institut abgezweigten Etat zu schaffen. Das Institut war in einem Flü-gel des ersten Stockwerks des durch ei-nen Anbau erweiterten Anatomischen Instituts untergebracht.2 Es hatte ei-nen Kurssaal, drei Laboratorien, eine Dunkelkammer und konnte den Hör-saal des Anatomischen Instituts benut-zen. Mit dem Umzug der Medizinischen Klinik in das umgebaute Marinelaza-rett 1928 wurden Räume frei. Zusam-men mit dem Institut für Physikoche-mische Medizin konnte das Anthropo-logische Institut das sogenannte Esmar-chhaus, die frühere Dienstwohnung des Direktors der Chirurgie beziehen. Es er-hielt 1928 einen Teil des Kellers, das ers-te und zweiers-te Stockwerk sowie ausbau-fähige Bodenräume. Im Keller befan-den sich drei Tierställe, ein Leichentank- und Mazerierraum sowie ein Lagerraum für Tierfutter. Im ersten Stockwerk gab es einen Sammlungsraum, den Hörsaal mit 86 Sitzen, ein Laboratorium mit 16 Arbeitsplätzen für Studenten, ein Labo-ratorium für den Direktor, ein Direktor-zimmer sowie weitere Räume. Im

zwei-ten Stockwerk befanden sich ein Kurs-saal mit 24 Arbeitsplätzen, gleichzei-tig mit Umkleidekabine und als fotogra-fisches Aufnahmeatelier ausgestattet, ein großer Sammlungsraum u. a. für die Ganzskelettsammlung, zwei Laboratori-en für AssistLaboratori-entLaboratori-en, eine Dunkelkammer, ein Röntgenraum, ein Raum mit vier Ar-beitsplätzen für statische Arbeiten und eine Werkstatt.3 Damit war die Infra-struktur für eine erfolgreich arbeitende Anthropologie geschaffen.

Der mühsame Weg Otto Aichels Otto Aichel wurde am 31. Oktober 1871 als Angehöriger einer deutschen Aus-wandererfamilie in Conceptión (Chile) geboren. Wie so häufig bei Protagonisten neuer Universitätsfächer verlief auch Ai-chels Weg zur Anthropologie und Ras-senhygiene nicht geradlinig. Obwohl er bereits während seiner Studienzeit in Er-langen und Würzburg eine Neigung zur vergleichenden Anatomie und Anthro-pologie zeigte, sollten seine beruflichen Schwerpunkte zunächst in eine ganz an-dere Richtung gehen. Er wurde 1896 in Erlangen zum Dr. phil. und 1898 in Würzburg zum Dr. med. promoviert, ha-bilitierte sich dann 1901 in Erlangen für das Fach der Gynäkologie und Geburts-hilfe. 1902 wurde er außerordentlicher Professor für Gynäkologie an der Uni-versität Santiago de Chile. Dort fand sei-ne berufliche Laufbahn in Chile durch einen hochpolitischen Vorgang ein jähes Ende. Er war als Gutachter in den „Fall Beckert“ verwickelt. Der deutsche Bot-schaftssekretär Beckert hatte 1907 den chilenischen Hausmeister der deutschen Botschaft in Santiago de Chile ermor-det, die Tat durch Brandstiftung zu ver-schleiern versucht und war mit der Bot-schaftskasse geflüchtet. Der deutsche Pa-thologe Westenhöfer, Aichel und ein chi-lenischer Arzt stellten nach der Sektion der verbrannten Leiche fälschlich fest, dass das Mordopfer Beckert sei. Darauf-hin verlangte das Deutsche Reich Genug-tuung von Chile in Form der Abtretung

der Magellanstraße. Wenig später wur-de Beckert aufgegriffen und in einer Ge-richtsverhandlung wegen Mordes zum Tode verurteilt. Daraufhin verließ Ai-chel Chile und begann in Deutschland eine Universitätslaufbahn mit der Über-nahme einer Volontärassistentenstelle an der Universität Halle.4 Während der sich von 1909 bis 1911 anschließenden prak-tischen ärztlichen Tätigkeit als Volon-tärassistent in der Frauenklinik in Mün-chen galt sein Interesse jedoch weiterhin anthropologischen Fragestellungen. Im Oktober 1911 wurde er Assistent am Ana-tomischen Institut in Halle. 1913 habili-tierte er sich dort für Anatomie. Es folg-te der Wechsel nach Kiel, im Mai 1914 die Titularprofessur.

Seine Vorlesungen über Anthropolo-gie begann er im Wintersemester 1913/14 zweistündig mit dem Thema „Der prä-historische Mensch, seine Bedeutung für die Abstammungslehre und seine Bezie-hungen zur rezenten Menschheit“, im Sommersemester 1914 folgte dann zwei-stündig „Die Rassen der Erde“, seit 1917 bot er zusätzlich anthropologische Prak-tika an. Daneben war er als Prosektor der Anatomie bis 1923 verpflichtet, anatomi-sche Vorlesungen zu halten.5 1919 wurde er erster Prosektor,6 im August 1920 au-ßerplanmäßiger außerordentlicher Pro-fessor und ein Jahr später persönlicher ordentlicher Professor für Anatomie und Anthropologie.7 Die „persönliche“ or-dentliche Professur war ein besonderes Konstrukt des preußischen Kultusminis-teriums, bei dem es die Ehre der ordent-lichen Professur, aber nicht deren Bezah-lung gab. So besetzte Otto Aichel weiter-hin die Stelle eines ersten Prosektors des Anatomischen Instituts,8 auch erfolg-te die Finanzierung seines Gehalerfolg-tes und des Instituts aus dem Etat des Anatomi-schen Instituts.9 Ansonsten hatte Aichel alle Rechte eines Lehrstuhlinhabers.

Otto Aichels Bedeutung

Otto Aichels wissenschaftliche Leistun-gen und die Zahl seiner Arbeiten auf

1913

kam Otto Aichel nach Kiel, zunächst als zweiter Prosektor.

Sein mühsamer Auf-stieg war von einem zügigen Ausbau der Anthropolgie, aber auch von persönlichen Intrigen etwa sei-nes Mitarbeiters Lo-thar Löffler gekenn-zeichnet.

dem Gebiet der Anthropologie sind be-achtlich. In der Zeit zwischen 1895 und 1913 befasste er sich mit der verglei-chenden Embryologie und Histologie des Zentralnervensystems und der Sin-nesorgane der Fische, der ontogeneti-schen und phylogenetiontogeneti-schen Entwick-lung der Nebennieren sowie zytologi-schen Problemen. Bei seiner Habilitati-on für das Fach Anatomie wurden ihm von der Medizinischen Fakultät in Halle alle Habilitationsleistungen mit Ausnah-me der Antrittsvorlesung erlassen. Zwi-schen 1913 und 1934 in Kiel beschäftigte er sich dann mehr mit vergleichend ana-tomisch-anthropologischen Fragestel-lungen (Schädel, Kiefer, Zähne, Mongo-lenfalte, anthropologische Erhebungen in Schleswig-Holstein), weniger mit ge-netischen Fragen. 1927/28 unternahm er eine Forschungsreise nach Chile und Bo-livien.10 Aichel gehörte in Deutschland nicht zu den in der öffentlichen Diskus-sion führenden Rassenwissenschaftlern, hatte sich jedoch durch seine berufspo-litischen Aktivitäten und Veröffentli-chungen eine bemerkenswerte Reputati-on als Anthropologe erarbeitet. So wur-de er 1920 Mitglied wur-der Leopoldina11 und am 20. April 1923 gründete er zusammen mit dem Kieler Hygieniker Karl Kiß-kalt (1875- 1962) eine Kieler Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassen-hygiene. Nach dem Weggang Kißkalts übernahm Aichel 1925 deren Vorsitz.12 1928 wurde er korrespondierendes Mit-glied der Academia Chilena de Ciencias Naturales, 1932 der Anthropologischen Gesellschaft in Wien und 1934 der Real Academia de Ciencias y Artes in Barce-lona.13 Die Deutsche Gesellschaft für An-thropologie, Ethnologe und Urgeschich-te hatUrgeschich-te Otto Aichel 1934, schon dem na-tionalsozialistischen Führerprinzip fol-gend, zu ihrem „Führer“ ernannt.14 Die Themen seiner insgesamt etwa 250 Ar-beiten waren sehr vielfältig. Dies änder-te sich Anfang der dreißiger Jahre, als in Aichels Veröffentlichungen Rassenideo-logie und Verherrlichung des National-sozialismus Eingang fanden.15

In Aichels Schülern spiegelt sich die innere Zerrissenheit des Anthropolo-gen in seinem Verhältnis zum National-sozialismus wider. Besonders sind die Antipoden Karl Saller und Lothar Löff-ler zu nennen. Aber auch der KieLöff-ler Ru-dolf Frercks (1908-1985)16 darf nicht ver-gessen werden, der bei Aichel als Dokto-rand das notwendige Rüstzeug für seine spätere Tätigkeit als SS-Obersturmbann-führer und Abteilungsleiter des Rassen-politischen Amtes der NSDAP in Ber-lin erwarb.

Karl Saller (1902-1969) erhielt von Otto Aichel seine wissenschaftliche Prä-gung, habilitierte sich im Februar 1928 bei ihm in Anthropologie, bevor er 1929 als planmäßiger Assistent in die Anato-mie der Universität Göttingen

wechsel-te, um dort die Anthropologie zu vertre-ten.17 Saller stand den Nationalsozialis-ten nahe. 1932 veröffentlichte er in einer

„Einführung in die menschliche Erblich-keitslehre und Eugenik“ seine Auffas-sung, dass Antisemitismus nur berech-tigt sei, „wenn er lediglich die weitgehen-den Sonder-Ansprüche und die staats-zerwühlende bzw.-zersetzende Tätigkeit erheblicher Teile des Judentums zurück-weist“.18

Saller hatte jedoch den Mut, sich auch nach der Machtergreifung 1933 in der Klinischen Wochenschrift, einer in der Ärzteschaft damals weit verbreiteten Fachzeitschrift, kritisch über Feststellun-gen des damals führenden Rassenhygie-nikers Fritz Lenz (1887-1976) im zweiten Band des damals führenden Lehrbuchs

„Baur-Fischer-Lenz“ zu äußern.19 Im Ge-gensatz zu den tonangebenden Rassen-hygienikern und den Ideologen im Ras-senpolitischen Amt der NSDAP war Saller der Auffassung, dass die wissen-schaftliche Begründung für rassehygie-nische Sozialdiagnosen nicht durch die Vererbungswissenschaft gesichert sei, und brachte dies auch zum Ausdruck.20 Die Antwort von Lenz an gleicher Stel-le auf den Vorwurf der Unwissenschaft-lichkeit ließ an DeutUnwissenschaft-lichkeit keine Wün-sche offen: „Es ist [...] für die dringenden praktischen Aufgaben der Rassenhygi-ene gar nicht entscheidend, zu wissen, wie der spezielle ERB-Gang der einzel-nen Anomalien und sonstiger Merkmale ist. Ob z. B. der Schwachsinn dominant oder recessiv, geschlechtsgebunden oder nicht, monomer oder polymer erblich ist, ist an sich wissenswert, aber es än-dert nichts daran, dass der Schwachsinn überhaupt ausgemerzt werden muß.“21 Die Konsequenzen der offenen Stel-lungnahme Sallers gegen die herrschen-de Meinung ließen nicht lange auf sich warten: Im Dezember 1934 wurden sei-ne Bücher verboten, die beantragte Er-nennung zum außerordentlichen Pro-fessor wurde abgelehnt und am 14. Ja-nuar 1935 wurden ihm die Lehrberech-tigung und die Assistentenstelle entzo-gen.22 Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein homöopathisches Sanatorium zu be-treiben.23

Ganz anders verlief der Werdegang Lothar Löfflers (1901-1983). Er war Nach-folger Sallers im Anthropologischen In-stitut und wie dieser 1. Assistent ohne Planstelle.24 Entsprechend niedrig war mit rund 200 Reichsmark im Monat sein Einkommen. Nach Zeiten am Kaiser-Wilhelm-Institut für Menschliche Erb-lehre in Berlin-Dahlem wurde er 1929 Assistent bei Aichel. Seine Habilitation erfolgte 1931 in Kiel für das Fach Physi-sche Anthropologie, Menschliche Erb-lehre und Eugenik. Im Mai 1934 war der sich schon früh zum Nationalsozialis-mus bekennende Löffler für den erbbio-logischen Lehrstuhl in Frankfurt am

„In-stitut für Erbbiologie und Rassenhygi-ene“ vorgesehen. Er lehnte den Ruf ab,

„da ihm Frankfurt mit seinen vielen Ju-den als zu konfliktreich erschien“, folg-te dann aber noch 1934 einer Berufung zum ordentlichen Professor für Erb- und Rassenbiologie und Direktor des Ras-senbiologischen Instituts in Königs-berg. Dort wurde er auch Leiter des ört-lichen Rassenpolitischen Amtes,25 spä-ter dann auch Gauamtsleispä-ter des Rassen-politischen Amtes Ostpreußen. Im Rah-men der „Kinder-Euthanasie“ übte er Gutachtertätigkeiten aus. 1942-1945 war er Direktor des Instituts für Rassenbiolo-gie und RassenhyRassenbiolo-giene Wien26 und 1944 im Wissenschaftlichen Beirat des 1947 wegen seiner Verantwortung für die T4-Aktion hingerichteten „Bevollmächtig-ten des Führers für das Gesundheitswe-sen” Karl Brandt. Nach dem Krieg er-folgte die Internierung Löfflers, danach war er an verschiedenen Stellen wieder anthropologisch und „sozialbiologisch“

tätig, 1961 wurde ihm das Bundesver-dienstkreuz 1. Klasse verliehen.27 Aichels Verhältnis zur

NS-Rassenideologie

Otto Aichel trat, wahrscheinlich von Löffler beeinflusst, zusammen mit sei-nem Assistenten am 1. August 1932 als erster Kieler Medizinprofessor der NSDAP bei.28 Bis zum Sommer 1932 war es den Beamten in Preußen durch einen

„Radikalenerlass“ aus dem Jahr 1930 ver-boten, der NSDAP (wie auch der KPD) anzugehören. Aichel hatte sich trotz sei-ner soliden fachlichen Herkunft und der eigentlich erforderlichen Distanz eines Hochschulwissenschaftlers zur wissen-schaftlich unhaltbaren nationalsozialis-tischen Rassenideologie dem neuen Re-gime verschrieben. Die Präambel sei-nes 1933 erschienen Werkes „Der Deut-sche Mensch“ könnte den Eindruck be-dingungsloser Unterwerfung unter die nationalsozialistische Rassenideologie erwecken, beim zweiten Hinsehen al-lerdings zeigen die pathetischen Wor-te Aichels eine vorsichtige fachliche Ab-grenzung: „Dieses Buch ist meinen in Rassenkunde und Rassenpropagan-da sich betätigenden Parteigenossen ge-widmet. Durch die nationalsozialistische Revolution erhielt der Staat neue Grund-mauern. Auch die das Gebäude stützen-den Säulen müssen ersetzt oder doch wesentlich umgebaut werden. Für die Beurteilung der rassischen Grundlagen des Deutschen Menschen und für die Entstehung seines besonderen Erbgutes gibt diese Abhandlung neue Unterlagen.

Wissenschaftliche Forschung und poli-tische Propaganda dürfen nicht gegen-einander arbeiten, ihr gemeinsames Ziel sei die Gesundung des Deutschen Men-schen.“29 Wenn Aichel fordert, dass „wis-senschaftliche Forschung und politische Propaganda“ nicht gegeneinander

arbei-1932

trat Aichel – wahr-scheinlich beeinflusst von seinem Mitarbei-ter Lothar Löffler – in die NSDAP ein. Da-mit war er der erste Kieler Medizinprofes-sor, der diesen Schritt vornahm. Später folg-ten zahlreiche Kol-legen.

ten dürfen, meint er nicht die Unterwer-fung der Wissenschaft unter die Partei-propaganda, sondern bringt im Zusam-menhang mit dem Inhalt seines Buches zum Ausdruck, dass die Propaganda sich nach den Ergebnissen der Wissenschaft zu richten habe. Seine Äußerungen zei-gen große Vorsicht. Er wollte zweifel-los den Nationalsozialisten folgen, mein-te jedoch wie viele andere in anderen Be-reichen, durch Einbringung seiner fach-lichen Kompetenz die Auffassungen des Regimes beeinflussen zu können.

In seinem Werk „Der Deutsche Mensch“ nutzte er die Möglichkeit der Einleitung, um Ordnung in die ver-worrenen rassenideologischen Vorstel-lungen der neuen Machthaber und ih-rer Anhänger zu bringen. Zunächst kri-tisierte er, dass „andere Schriftsteller, die über die notwendigen anthropolo-gischen Kenntnisse nicht verfügten“, den Boden der Tatsachen in der Verfol-gung ihrer Ideale verlieren müssten, in-dem sie „Teile des deutschen Volkes als Fremdlinge, in ihren Qualitäten als Ju-den gleich“ glaubten bewerten zu müs-sen. Seine durchaus mutige Stellungnah-me hierzu war: „Die wissenschaftliche Anthropologie bekannte offen, daß die Kenntnisse auf rassenpsychologischem Gebiet nicht soweit gediehen seien, daß ein Urteil gefällt werden könne; bei vol-ler Anerkennung des Wertes nordischen Erbgutes könne den anderen Rassenan-teilen des deutschen Volkes eine Bedeu-tung nicht abgesprochen werden.“30 An anderer Stelle schrieb er: „Wenn man von ‚Volk‘ im Sinne einer durch ‚Blut, Sprache, Kultur und Geschichte gewach-senen Einheit‘ spricht, dann werden die Begriffe ‚Rasse‘ und ‚Volk‘ zu einer Ein-heit verschmolzen.“31

Dies musste Essig in den Wein der nationalsozialistischen, wie Aichel sie nannte, „populären Schriftsteller“ sein.

Aichels Argumente waren nicht gegen die Rassenideologie der Nationalsozia-listen gerichtet, erkennbar bemühte er sich, seine wissenschaftlichen Vorstel-lungen mehr zur Richtigstellung verwor-rener Darstellungen zu nutzen. Er konn-te jedoch damals noch nicht wissen, dass die von ihm betriebene „Rassenwissen-schaft“ von führenden nationalsozialis-tischen Ideologen für den nationalsozi-alistischen Rassenmythos als gar nicht notwendig angesehen wurde.32 Er konn-te nicht die erst späkonn-ter veröffentlichkonn-te zy-nische Aussage des Leiters der Rassen-politischen Amtes der NSDAP, Walter Groß (1904-1945), kennen – „Den Streit der Wissenschaftler lassen wir unange-tastet; er gehört in die Gelehrtenbespre-chung. Vor das Forum der Öffentlich-keit darf aber nur die erwiesene Tatsa-che und nicht die umstrittene Meinung kommen.“33

Anders als Karl Saller war Otto Ai-chel durch sein Alter und seine Position einigermaßen geschützt. Dies sollte aber nicht bedeuten, dass er sich nicht krän-kender Intrigen seines Assistenten Löff-ler und dreister Übergriffe des neu nach Kiel berufenen Pathologen und national-sozialistischen Rassenideologen Staemmler erwehren musste, um seine angesehene Stellung innerhalb der Medi-zinischen Fakultät bewahren zu können.

Die weiteren Vorgänge um Aichel Im Januar 1934 wurde vom Minister dem Antrag der Kieler Medizinischen Fakul-tät, den Lehrauftrag von Otto Aichel auf die Physische Anthropologie, mensch-liche Erblichkeitslehre und

Rassenhy-giene zu erweitern, entsprochen.34 Für Otto Aichel schien sich also sein Ein-schwenken auf die nationalsozialisti-sche Rassenideologie ausgezahlt zu ha-ben. Ein Weiteres ergab sich durch den Beschluss der Philosophischen Fakultät, ihren Studenten, unter diesen besonders den künftigen Studienräten, den aka-demischen Unterricht in Rassenkunde, menschlicher Erblichkeitslehre und Ras-senhygiene nahezubringen. Aichel sollte mit seinen Vorlesungen künftig auch bei der Philosophischen Fakultät im Vorle-sungsverzeichnis aufgeführt werden und sowohl der Medizinischen als auch der Philosophischen Fakultät angehören.35 Auch weiterhin hatte er jedoch nur seine Planstelle im Anatomischen Institut.

Mehrere Entwicklungen standen Aichels weiterem Weg in eine völli-ge Gleichberechtigung als Lehrstuhl-inhaber im Weg. Zum einen war er we-gen einer schweren Koronarsklerose zu-nehmend nicht mehr einsatzbereit und musste deswegen für das Wintersemes-ter 1933/34 um seine Beurlaubung bitten.

Mit seiner Vertretung wurde sein Assistent Löffler beauftragt.36 Dieser war wenig loyal und nutzte die Blößen, die sich Aichel mit seinem Bemühen um möglichst weitgehende wissenschaftli-che Korrektheit gab, um seinen Chef in Misskredit zu bringen. So berichtet er im Mai 1934 einem nicht näher zu identifi-zierenden Adressaten, dass es eine Be-schwerde über Aichel gegeben habe. Im Dezember 1933 habe er einen Vortrag vor der Medizinischen Fachschaft gehalten, der „wegen seiner Stellung zur Rassen-frage wenig Anklang gefunden habe“.37 Selbst die vage Information, angeblich von einem Neffen Aichels, dass eine sei-ner Großmütter „nichtarischer” Her-kunft gewesen sei, wurde von ihm wei-tergegeben. Zusammen mit seinen doch hier und da wahrgenommenen bereits dargestellten Ausführungen in seinem Buch „Der Deutsche Mensch“ entstand für Aichel eine schwierige Situation.

Die schwer zu ertragende Illoyalität seines Assistenten Löffler war nicht das einzige Ärgernis, das Aichel nach sei-ner Rückkehr aus Spanien zu verkraf-ten hatte. Ende Juni war ihm bekannt ge-worden, dass der neu nach Kiel berufe-ne Pathologe Martin Staemmler ab Win-tersemester 1934/1935 vom Ministeri-um auf seinen eigenen Antrag hin den Auftrag erhalten habe, in der Medizini-schen Fakultät eine Vorlesung über Ras-senpflege zu halten. Bereits in den Zwan-zigern in der Gesellschaft für Rassenhy-giene engagiert,38 war Staemmler 1931 in die NSDAP eingetreten und nach sei-nem Wechsel nach Kiel als Referent für das Rassenpolitische Amt der NSDAP tätig.39 Insofern war es nachvollziehbar, dass er auch in Kiel seinem rassenpoli-tischen Engagement nachgehen wollte.

Staemmler war im Juni 1934 seitens der Der Anthropologe

Otto Aichel war ab 1913 in Kiel tätig. Ai-chel gehörte nicht zu den in der öffentlichen Diskussion führenden Rassenwissenschaft-lern in Deutschland, hatte sich aber durch seine berufspoliti-schen Aktivitäten und Veröffentlichungen eine bemerkenswerte Reputation als Anthropologe erar-beitet.

Studentenschaft gebeten worden, für das Wintersemester Rassenvorlesungen an-zukündigen. Aichel war durch die Be-auftragung eines Ordinarius eines „ganz fernstehenden Faches“ in hohem Maße gekränkt und sah sich veranlasst, um das Ausmaß seiner Kränkung deutlich wer-den zu lassen, wer-den ihm erteilten Lehrauf-trag über Rassenhygiene in einem direk-ten Schreiben an das Wissenschaftsmi-nisterium in die „Hände des Ministers“

zurück zu legen.40 Der fachlich nicht ver-sierte und rassen-ideologisch der NSDAP blind folgende Rektor Lothar Wolf (1901-1969), Professor für Physika-lische Chemie, bat im Juli den Dekan der Medizinischen Fakultät, Robert Schrö-der (1884-1959), um eine Stellungnahme, versah aber bereits seine Bitte mit seiner Auffassung: „Ich bin der Ansicht, dass wir es freudig begrüßen sollen, dass der Herr Minister für das Fach Rassenpfle-ge hier zwei LehraufträRassenpfle-ge erteilt und uns

zurück zu legen.40 Der fachlich nicht ver-sierte und rassen-ideologisch der NSDAP blind folgende Rektor Lothar Wolf (1901-1969), Professor für Physika-lische Chemie, bat im Juli den Dekan der Medizinischen Fakultät, Robert Schrö-der (1884-1959), um eine Stellungnahme, versah aber bereits seine Bitte mit seiner Auffassung: „Ich bin der Ansicht, dass wir es freudig begrüßen sollen, dass der Herr Minister für das Fach Rassenpfle-ge hier zwei LehraufträRassenpfle-ge erteilt und uns