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Die Angst "stimmt"

Im Dokument Laut, Ton, Stärke (Seite 33-37)

1. Der erstrittene Schrei

1.2. Strategien der Abwehr von Stimmung

1.2.3 Die Angst "stimmt"

In Heideggers Blickfeld befinden sich seit Sein und Zeit gerade die „ontisch betrieblichen“, d.

h. die realen und faktischen Zusammenhänge alltäglichen Lebens, Meinens und Urteilens, deren Sicherheit nur selten fragwürdig wird, die aber eine gezielte Geste oder im Augenblick des Überfalls einer Stimmung ins Leere reißt. Die Stimmung übernimmt in gewisser Weise die Leitung für den Sprung in die abgründigen Tiefen der alltäglichen Befindlichkeit, so wie die Philosophie die Leitung des Denkens und Fragens von alters her zu übernehmen beauftragt ist; und auch diese bedarf, wenn sie denn unterrichtet wird, einer Befreiung und Führung: „Einer Befreiung, bei der das Dasein gegen sich selbst Gewalt brauchen muss. Alle Gewalt aber birgt in sich den Schmerz.“78 Und sie fordert Mut und Entschlossenheit gegen eine „Benommenheit“ oder haltlose „Verfallenheit“ an die meist tief empfundene

„Wirklichkeit“.

Im gewöhnlichen Dahintreiben jagt und hastet der Mensch, ja oft ein ganzes Volk, nach zufälligen Gegenständen und Gelegenheiten, durch die sie in kleine und große Stimmungen versetzt und darin gehalten sein wollen, (...) statt zu begreifen, dass es umgekehrt gilt, Grundstimmungen zu schaffen und zu wecken aus dem ursprünglichen Mut, dass dann alle Dinge sichtbar, entscheidbar werden und beständig. Wiederhole: der Mut zum eigenen Ursprünglichen.79

Das Dasein ist dadurch, dass es sich in der Welt befindet, immer auch von ihr durchstimmt.

Stimmung oder gestimmt sein ist die „Grundart unseres Daseins“: das Dasein befindet sich als Gestimmtes immer an einem bestimmten Ort in der Welt und bei den Dingen. Solche Nähe gelingt wohl auch in einem unvermuteten „Jubel des Herzens“, oder in einer „tiefen Langeweile“. Für Artaud relevant und seit Sein und Zeit oder Was ist Metaphysik? gesichert ist jedoch die besagte Angst, die die eigentliche Tiefe des Daseins unmittelbar zu spüren gibt, und dabei die analytische Sicht auf die Befindlichkeit des Daseins befördert, welche sie eigentlich stört. Die Angst ist „eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ (Sein und Zeit, § 40.), und dem Dasein ein untrügliches Zeichen, dass die Stabilität des individuell

77 Artaud, Briefe aus Rodez, S. 28-29.

78Heidegger, Einleitung in die Philosophie, S. 220.

79 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 87-88.

alltäglichen Aufenthalts als „Man-Selbst“ und dessen Sicherung durch die alltägliche Sprache versagen können: also die beunruhigende Tatsache bedeutet, dass diese Systeme weder unantastbar noch unendlich sind. „Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches“, das Dasein ängstigt sich in der Angst um sich selbst als Dasein in einer Welt. „Das Sichängstigen erschließt ursprünglich und direkt die Welt als Welt. Nicht wird etwa zunächst durch Überlegung von innerweltlich Seiendem abgesehen und nur noch die Welt gedacht, vor der dann die Angst entsteht, sondern die Angst erschließt als Modus der Befindlichkeit allererst die Welt als Welt.“80Auf ihrem Weg von einer leichten Beunruhigung über die Furcht bis zur manifesten „Angst, die herannaht und sich entfernt, jedes Mal massiger, jedes Mal schwerer und vollgepropfter“81, ist sie jene Stimmung, die eigentlich versteht. Hierin sieht Heidegger auch ihr eigentümlich Positives, dass sie an sich unverhüllt in die „Wahrheit, Offenbarkeit, die in dieser Stimmung wie in jeder überhaupt liegt,“82 weist. Der Grund gibt hier selbst Zeichen und erschallt als ein An- und Aufruf zu den noch ausstehenden Möglichkeiten, das Dasein in jedem Augenblick neu zu ergreifen, oder aber zu springen.

Meist wird der Anruf aber nicht durchgestellt, und geht im Rauschen des Kanals alltäglicher Sinnbezüge, oder im Geräusch der Alltäglichkeit selber verloren. Das Positive in der Gefahr eines solchen Sprungs wird jedoch einhellig maskiert, oder stößt zumindest auf Unverständnis, welches hier als die strategische Kraft alltäglicher Beruhigung erscheint. Dies Gerede von der Angst, die sich fälschlicher Weise vor etwas fürchtet, verwandelt die Unheimlichkeit, die sie ja ist, in ein gegenständliches Etwas, und überblendet so den eigentlichen Aufriss vom Grund, Sein und Da. Denn im Gegensatz zur Furcht, die in einer

„phänomenalen“ Nähe zur Angst steht und ein gegenständliches Gegenüber bedarf, geht es der Angst niemals um irgendein Objekt. Das alleinige »Objekt« der Angst ist das Daseins als

„je solches“ und „je meines“, oder wie Heidegger sich ausdrückt: das Dasein sorgt sich weniger um sich selbst als ein »von fremder Hand« in die Welt geworfenes, als vielmehr um die schicksalhafte Tatsache, dass das Dasein sich an dessen äußerster Grenze, d. h. beim Einlösen des „Ausstandes“, selbst gefährlich nahe kommt. Für Artaud ist die Frage nach dem existentialen Verbund von Geworfenheit, Entwurf und Sprung daher auch eine Frage des Anfangs oder der Geburt, zumal auch der Tod für ihn ganz konkret zum Thema werden wird, der „mit einer gewissen Sensibilität“83 auch zugänglich ist.

80Heidegger, Sein und Zeit, § 40., S. 187.

81Artaud, Die Kunst und der Tod, in: Frühe Schriften, S. 117.

82 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 209.

83 Artaud, Die Kunst und der Tod, S. 121.

Ich erinnere mich nicht, in Marseille in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1896 geboren worden zu sein, wie mein Personenstand lautet, aber ich erinnere mich, dort eine ernste Frage erörtert zu haben, an einem Ort, der keiner war (...). Die Frage, die ich erörterte, war, zu erfahren, ob ich in ein weißes Beinhaus gehen würde, ob ich mich – seit jeher vom Existieren erschöpft – diesem weißen Zentrum ausliefern würde, das ... oder ob ich diesem schwarzen Wasser treu bleiben würde, diesem wässrigen Deckel einer Kiste aus schwarzem Wasser, die mich hartnäckig festhielt. (Paris, den 27. Juli 1946)84

Im Aufgabenbereich des so genannten „Geredes“ als eines dominanten »Double« des anonymen „Man“, dessen Aufgabe und Mechanismus gerade der Verbreitung alltäglicher Sinndefinitionen dient, vollzieht sich das Zerreden und Nivellieren des Todes, indem er von dessen Betrieb inszeniert, verwaltet, und in die alltäglichen Wahrnehmung eingeblendet wird, wie ein gewöhnliches Vorkommnis. Die alltägliche Rede spricht hier deutlich: Jeder stirbt mal, man stirbt halt, doch das „Man“ stirbt nie. Der Tod ist also lediglich ein alltägliches und

„bekanntes innerweltlich vorkommendes“ Ereignis, das jeden früher oder später, und je nach seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit, ereilt. „Als solches bleibt er in der für das alltäglich Begegnende charakteristischen Unauffälligkeit.“85 Auf den Betriebslärm der national-sozialistischen Propaganda gewendet, und konkret auf die anlaufende Vernichtungsmaschine, heißt es nach den übermächtigen Tagen Deutscher Geschichte für Martin Heidegger:

Massenhafte Nöte zahlloser, grausig ungestorbener Tode überall – und gleichwohl ist das Wesen des Todes dem Menschen verstellt. Der Mensch ist noch nicht der Sterbliche (...) Sterben aber heißt, den Tod in sein Wesen austragen. Sterben können heißt, diesen Austrag mögen. Wir vermögen es nur, wenn unser Wesen das Wesen des Todes mag.86

Und Artaud wird bis 1946 ganze 46 Male unter Elektroschock gestorben, pulverisiert (pul-ver-i-ser tönt es ekstatisch und jede Silbe skandierend 1946 aus dem Radio), bereits an andern Orten geschlagen oder erstochen, und niemals aus natürlichen oder in guten „anderen“

Umständen geboren worden sein. So ist er zwar nicht unsterblich, wie er am 4. März 1948, an seinem offiziellen Todesdatum und auf der Bettkante sitzend87 erfahren musste, aber

84Artaud, an Peter Watson, in: Elena Kapralik (= Bernd Mattheus), Antonin Artaud, Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs, München 1977, S. 420.

85 Heidegger, Sein und Zeit, § 51, S. 253.

86 Heidegger, Einblicke in das was ist. Die Gefahr, in: Bremer Vorträge, S. 56.

87 Zur Selbstständigkeit eines Werkes „bedarf es manchmal – vom Gesichtspunkt eines vorausgesetzten Modells, dem der erlebten Perzeptionen und Affektionen – einer gehörigen Portion geometrischer Unwahrscheinlichkeit, physischer Unvollkommenheit, organischer Anomalie, aber diese sublimen Fehler erreichen die Notwendigkeit der Kunst, wenn sie die inneren Mittel sind, sich

vielleicht übersterblich im ekstatischen Sinne, d. h. er lebt die Sterblichkeit als kontinuierliche

„Erdrosselung“, und folglich die eigene Geburt nicht als Faktum, sondern als Frage. Das Ereignis, das wie kein anderes dem Dasein gehört, weil es ihm zugehört, verliert im Modus des alltäglichen Sprachbetriebs jedoch zumeist an fundamentaler Bedrohlichkeit. Oder es wird zu etwas degradiert, vor dem man sich bestenfalls noch fürchten kann. Und als ein derartiges Fürchten-vor, das sich als Angst-haben-vor tarnt, hat diese Befindlichkeit oder Stimmung bereits die ausgewiesene Dasein bildende Kraft verloren, die Heidegger im Sinn hat, wenn er gerade von ihr als von einer „ausgezeichneten Erschlossenheit“ oder „Offenheit“

spricht.

Artaud verwandelt diese verhüllte Nähe in einen lebendigen Zustand, der das Dasein in eine Leere, in das Nichts oder in einen Abgrund hineinhält, so dass sie aufgrund dieser Gefahr von Grundlosigkeit, die sich noch ihre eigene Sprache sucht, dem gepflegten und besorgten Dasein die reinste Unheimlichkeit bedeuten muss. „Diese Angst, einem Gummiband gleich, das sich wieder spannt und einem plötzlich an die Kehle springt,“88 ist immer präsent, wenn auch niedergehalten und verborgen.: „Ich behaupte – und ich klammere mich an diese Vorstellung, dass der Tod nicht außerhalb des Geistes liegt, dass er innerhalb gewisser Grenzen erkennbar“ ist, und auch eine „erregende und wunderbare Empfindung“89 sein kann, die aber als Möglichkeit des Daseins zu sich selbst (in positiver Weise) meist „brachliegt“.

Das Gerede spricht hier »vernünftiger Weise« von Wahnsinn, also ebenso metaphysisch, wie wenn es erklärt, warum man in Gesellschaft nicht gähnen darf, warum überhaupt in Gesellschaft Langeweile nicht aufkommen darf, d. h. warum auch geschäftiger Zeitvertreib90 immer rege Konjunktur hat. Dringlicher aber ist es, die Angst wie die Langeweile zu

„vertiefen“, zu welcher Vertiefung oder Versenkung allerdings nur ein mutiger Sprung oder, um es anders zu betonen, nur ein ur-sprünglicher Mut hinreicht. „Dieser Mut schafft erst das Gemüt, die Grundstimmungen, in denen das Dasein an die Grenzen des Seienden hinaus- und zurückschwingt.“91

aufrecht (oder sitzend oder liegend) zu halten.“, in: Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 1996, S. 192.

88 Artaud, Die Kunst und der Tod, S. 118-119.

89 Artaud, ebd., S. 117.

90 Zum Beispiel das Rauchen in Gesellschaft – „wir rauchen, nicht um schläfrig zu werden, auch nicht, um durch das Nikotin angeregt zu werden, sondern weil das Rauchen ein gesellschaftlich idealer Zeitvertreib ist, womit nicht gesagt ist, dass jeder, der raucht, sich dabei die Zeit vertreibt, d. h. sich langweilt“, in: Grundbegriffe der Metaphysik S. 169. Immerhin aber „gewinnen wir im Zeitvertreib gerade erst die rechte Haltung, in der uns die Langeweile unverstellt entgegenkommt.“ (ebd., S. 136)

91Heidegger, Sein und Wahrheit, S. 87.

Im Dokument Laut, Ton, Stärke (Seite 33-37)