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2. Die historisch-kritische Methode in der Koranforschung

2.1. Zur muslimischen und nicht-muslimischen Rezeption des Korans

2.2.1. Anfänge im 19. Jahrhundert: „Die Wissenschaft des Judentums“

Bevor die Anfänge der historisch-kritischen Koranforschung untersucht werden, soll zuerst ein Zitat von Gätje angeführt werden, in dem er die muslimischen Theologen auffordert, die Ergebnisse der europäischen Koranforschung zur Kenntnis zu nehmen:

„Andererseits wird der Zeitpunkt kommen, an dem die islamische Theologie nicht nur die geistigen Grundlagen moderner Technik und Zivilisation, sondern auch die Ergebnisse abendländischer Koranstudien in sich einbeziehen und ihnen in ihrem eigenen Bereich einen Platz zuweisen muß.“195

Bei der Koranforschung in Europa ist ohne Frage die Figur des Propheten Muḥammad zentral. Außerhalb der islamischen Welt wurde Muḥammad über Jahrhunderte als Antichrist wahrgenommen, bis er in der Aufklärungszeit als Betrüger, bestenfalls aber als Schwärmer beschrieben wurde.196 „Erst der Historismus vollbrachte die Entmythisierung des bis dahin mit Willkür und Manipulation assoziierten islamischen Propheten.“197 Der Prophet Muḥammad wurde im Historismus in den Rang „eines zwar aufrichtigen, in seinem geistigen Horizont aber begrenzten Wahrheitssuchers“198 eingeordnet.

Der Koran, der über Jahrhunderte als eine Abweichung von der christlichen Wahrheit geschmäht wurde,199 wurde im Historismus als ein dem Propheten Muḥammad zugeschriebener Text angesehen, der in sich widersprüchlich erschien. Zum einen wurde er hoch geschätzt, nicht zuletzt als Zeitzeugnis und als poetisches Werk. Zum anderen konnte er

194 Vgl. Ebd., S. 185-186.

195 Gätje 1971, S. 66.

196 Vgl. Neuwirth, Angelika: Ein Versuch der historischen und forschungsgeschichtlichen Verortung des Korans, in: Ders.: Studien zur Komposition der mekkanischen Suren, 2., durch eine korangeschichtliche Einführung erweiterte Auflage, Walter de Gruyter, Berlin 2007, S. 2.

197 Ebd., S. 2.

198 Ebd., S. 2.

199 Vgl. Sinai, Nicolai: Orientalism, Authorship, and the Onset of Revelation: Abraham Geiger and Theodor Nöldeke on Muḥammad and the Qurʾān, in: Hartwig, Dirk [u.a.] (Hrsg.): „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Ergon Verlag, Würzburg 2008, S.

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als lediglich epigonales Werk mit den älteren biblischen Vorgängerschriften verglichen werden.200

Der Prophet Muḥammad steht im Fokus des Interesses der europäischen Darstellungen. Ihm wurde der Koran als seine persönliche Errungenschaft und die islamische Religion als seine Schöpfung zugeschrieben.201

In der Neuzeit wurde „die am Alten und Neuen Testament erprobte „historisch-kritische Methode“ auf den Koran übertragen.“202 Die Quellenkritik, die auf orientalistische Texte in einigen Fällen „nach dem Vorbild der klassischen Philologie“ angewendet wurde, hatte sich in hohem Maß „aus der alttestamentlichen Exegese, also einer Subdisziplin der christlichen Theologie“203 herausentwickelt.

Die historisch-kritische Koranforschung ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie wurde eingeleitet von Abraham Geiger (Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? 1833), Gustav Weil (Mohammed der Prophet, sein Leben und seine Lehre, 1843; Historisch-kritische Einleitung in den Koran, 1844), Aloys Sprenger (Das Leben und die Lehre des Mohammed, 1861) und vor allem Theodor Nöldeke (Geschichte des Qorāns, 1860).204 Die zwei jüdischen Gelehrten Abraham Geiger und Gustav Weil gelten für Mangold als „Ahnen“ der historischen Forschungen über den Orient.205

Wann wurde aber genau damit begonnen, den Koran historisch zu lesen? Wer hat den Koran erstmals historisch gelesen? In ihrem Beitrag „Im vollen Licht der Geschichte“ - Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung behandelt Neuwirth diese zwei Fragen ausführlich. Neuwirth ist der Meinung, dass die historisch-kritische Koranforschung erst aus der Wissenschaft des Judentums206 hervorgegangen sei. In

200 Vgl. Neuwirth 2007, S. 2-3.

201 Vgl. Ebd., S. 3.

202 Kasiri, Hamid: Historisch-kritische Koranhermeneutik, in: Altermatt, Urs, Delgado, Mariano, und Vergauwen, Guida (Hrsg.): Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Kohlhammer, Stuttgart 2006, S. 169.

203 Krech 2002, S. 110.

204 Vgl. Sinai 2008, S. 145.

205 Vgl. Mangold 2004, S. 104.

206 Die Wissenschaft des Judentums ist das Produkt des 19. Jahrhunderts, und spezieller der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung der Wissenschaft des Judentums trugen die Aufklärung und die Philosophie Kants bei. Da die Aufklärung sich nicht nur als ein politisch-emanzipatorisches, sondern als moralisch-pädagogisches Programm verstand, entstand eine neue Vorstellung der Wissenschaft im 19.

Jahrhundert. „Wissenschaft wurde in der Aufklärungszeit, aber auch im Deutschen Idealismus vor allem als ein ethisches Programm verstanden.“ Die Wissenschaft wurde nicht als ein Mittel verstanden, durch das moralische und politische Zwecke erfüllt werden könnten. Vielmehr beherrscht der Grundsatz des Ethos der Wissenschaft.

Die vom Ethos geprägte Wissenschaft der Aufklärungszeit bildete eine Herausforderung an das Judentum. Die aufgeklärte Moral ermöglichte dem Juden, sich von allen geschichtlich gewordenen Abhängigkeiten loszulösen.

In dieser Hinsicht „unterscheidet er sich nicht mehr von irgendeinem anderen wissenschaftlich denkenden und

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den 1830er wurde erstmals begonnen, „den Koran zu ,historisieren’, ihn historisch zu lesen.“207

Zunächst muss man sich darüber im Klaren sein, dass das Wort Judentum in jenem Namen

„Wissenschaft des Judentums“ nicht nur die Religion der Juden bedeutet, sondern das Judentum „in seiner umfassendsten Bedeutung“. Dabei handelt es sich um alle Aktivitäten der Juden in allen Lebensbereichen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Die Leistung der Juden in allen Disziplinen der Wissenschaft gehört auch zu den Gegenständen der Wissenschaft des Judentums.208

Da die jüdische Religion nicht mehr allein das Thema einer Wissenschaft des Judentums ist, ist auch der Blick auf die jüdische Geschichte nicht mehr religiös, sondern profan.

„Geschichtssubjekt dieser Geschichte ist nicht mehr Gott und sein Handeln, sondern allein das jüdische Volk und sein innerweltliches Ergehen.“209

Mit der Erkenntnis des Gegenstands der Wissenschaft des Judentums soll der Begriff

„Wissenschaft“ klargestellt werden. Die Wissenschaft des Judentums sollte kritisch, sittlich handlenden Menschen.“ Als eine andere unerlässliche Voraussetzung für die Entstehung der Wissenschaft des Judentums an der Schwelle zum 19. Jahrhundert war die Beschäftigung mit der hebräischen Sprache. Die Vertreter der Wissenschaft des Judentums waren davon überzeugt, dass die Erkenntnis der hebräischen Sprache eine notwendige Bedingung für die Auffassung der Eigenart des jüdischen Denkens, Fühlens und Handelns. Für das Entstehen de Wissenschaft des Judentums bestand auch die Auseinandersetzung mit Kant und vor allem mit seiner Moralphilosophie in Deutschland. „Die Schwelle vom 18. zum 19.

Jahrhundert wird, geistesgeschichtlich gesehen, durch die Philosophie Immanuel Kants markiert. Die jüdischen Zeitgenossen Kants setzten sich mit seinem Religionsbegriff auseinander. Religionsbegriff bildet einen bestimmenden Faktor, ohne den ein Selbstverständnis des Judentums nicht zu denken wäre. Kants Verständnis der Religion „als Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ wirkte auf die Juden seiner Zeit. Die Bedeutung des Religionsbegriffs für das Judentum bestand also nicht so sehr darin, das Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung der Vernunft und dem Gehorsam gegen Gott zu suchen, sondern zwischen beiden zu verknüpfen. „Kant hat gerade bei jüdischen Zeitgenossen viel Sympathie und Aufmerksamkeit gefunden.“ Nach der These von Kant sind die Pflichten, die ihm als göttliche Gebote galten, der Vernunft begreifbar. Hier besteht keinen Widerspruch zwischen der Autonomie der Vernunft und der Unterwerfung unter Gottes Gebot.

Ausgehend davon musste die Vernunft geschichtlich und damit die Geschichte vernünftig wahrgenommen werden. Ein anderes Hilfsmittel für das Entstehen der Wissenschaft des Judentums bietet auch das Wissenschaftsverständnis des Deutschen Idealismus an, durch das das allgemeine Kulturklima des frühen 19.

Jahrhunderts markiert war. Die Erkenntnis der Dokumente jüdischer Geschichte zielte darauf, „daß Juden in dem, was den Gegenstand ihrer Forschung bildet, ihre eigne Geschichte erkennen lernen und dadurch fähig werden, ihren eigenen Ort in dieser Geschichte zu bestimmen.“ Für Richard Schaeffler ist der Begründer der Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz, bei dem eine der beiden Leitideen des Wissenschaftsverständnisses des 19. Jahrhunderts deutlich erscheine, und zwar die politisch-emanzipatorische Idee. Zunz bemühte sich darum, „Fehlurteile über das Judentum zurückzuweisen und den Beitrag des Judentums zur geistigen Entwicklung der Menschheit darzulegen.“ Trotz der Herrschaft der politisch-emanzipatorischen Idee „wurde die moralisch-pädagogische zwar nicht vergessen, trat aber doch deutlich in den Hintergrund.“ Vgl. Schaeffler, Richard: Die Wissenschaft des Judentums in ihrer Beziehung zur allgemeinen Geistesgeschichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Carlebach, Julius (Hrsg.): Wissenschaft des Judentums - Anfänge der Judaistik in Europa, Wissenschaftliche Buchgesellschaft., Darmstadt 1992, S. 113-131.

207 Neuwirth 2008, S. 26.

208 Vgl. Schulte, Christoph: Kritik und „Aufhebung“ der rabbinischen Literatur in der frühen Wissenschaft des Judentums, in: Hartwig, Dirk [u.a.] (Hrsg.): „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Ergon Verlag, Würzburg 2008, S. 104.

209 Ebd., S. 104.

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vorurteilsfrei und nicht apologetisch erfolgen. Es handelte sich bei der Wissenschaft des Judentums nicht darum, eine vorgefasste Meinung zu bestätigen. Sie sollte frei von jedem Zweck sein und offen für jedes Forschungsergebnis verfahren.210

Die Auswirkung der Wissenschaft des Judentums auf die historische Lektüre des Korans im 19. Jahrhundert wird im Folgenden erörtert. Die Wissenschaft des Judentums gilt nach der Auffassung von Friedrich Niewöhner (1941-2005) „als Gründerdisziplin der kritischen Koranforschung.“211 Sie „war eine deutsche Affäre zwischen 1822 und 1942, geboren aus dem Geist der Apologie.“212 Die meisten Arbeiten der Wissenschaft des Judentums waren von Apologie und Geschichtsklitterung geprägt. Sie beschäftigten sich im Besonderen mit der Verachtung des Talmuds und der Orthodoxie, so dass das Bild dieser Wissenschaft Schaden nahm. Die Gelehrten der Wissenschaft des Judentums wurden zu großartigen „neutralen“

Philologen, wenn sie sich nicht mit der Untersuchung ihrer eigenen Religion und Geschichte beschäftigten, sondern mit der Untersuchung der islamischen Religion.213 „Diese Beschäftigung [mit dem Islam] geschah nämlich aufgrund rein wissenschaftlicher Neugierde und nicht aus apologetischer Selbstbestätigung in einer judenfeindlichen Umwelt.“214 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie der Islam von den Gelehrten der Wissenschaft des Judentums rein wissenschaftlich untersucht, während ihre eigene jüdische Religion nur apologetisch erforscht wurde.

Die Forscher aus der Wissenschaft des Judentums waren nach der Ansicht von Neuwirth für die Aufgabe, den Koran historisch-kritisch zu untersuchen, einzigartig qualifiziert. Die Gründe dafür liegen nicht nur in ihrer Bekanntschaft mit einer großen Anzahl von semitischen Sprachen, sondern auch in ihrer traditionellen jüdischen Bildung. Sie betrachteten den Koran als Text und untersuchten somit eine Phase in der Entwicklung der islamischen Religion, in der die neue Gemeinde noch zu einer später selbstständigen religiösen Gemeinschaft mutierte.

Der Koran wurde von ihnen deshalb nicht aus der Rückschau der späteren bereits islamischen Auslegung gelesen, sondern aus einer synchronen Perspektive.215

In seinem Artikel Die Originalität des arabischen Propheten spricht Fück vom Einfluss des Historismus des 19. Jahrhunderts auf die auf den Koran und den Propheten Muḥammad gerichteten abendländischen Studien. Der Historismus betonte, dass der Prophet Muḥammad

210 Vgl. Ebd., S. 105.

211 Niewöhner, Friedrich: Volles Licht der Geschichte. Mohammed und das Judentum: Ein Berliner Studientag, in: Frankfurter Allgemeiner Zeitung, 07.03.2005.

212 Ebd.

213 Vgl. Ebd.

214 Ebd.

215 Vgl. Neuwirth 2008, S. 29.

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von den älteren Offenbarungsreligionen abhängig war. Diese neue Forschungsrichtung wurde nach der Ansicht Fücks von dem jüdischen Gelehrten Abraham Geiger in seiner berühmt gewordenen Preisschrift Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? bedeutsam eingeleitet.216

Man könnte aber hier zuerst sagen, dass Geiger als Gelehrter des Judentums zu einer uneingeschränkten wissenschaftlichen Forschung der Geschichte der Juden aufrief, in der die historisch-kritische Methode auf die rabbinischen Texte und die hebräische Bibel angewendet werden sollte.217 Da es zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein Fach für das Judentum an der Universität gab und die Juden das Judentum an einer Universität wissenschaftlich nicht studieren konnten, forderte Geiger als erster Wissenschaftler im Jahr 1836 die Gründung

„einer jüdisch-theologischen Fakultät“ an einer Universität Deutschlands.218

Laut Christoph Schulte blieb Geiger in seinem ganzen Leben an die Prinzipien der frühen Wissenschaft des Judentums gebunden. Die heiligen Texte wie Thora, Koran und Neues Testament waren für Geiger, wie Schulte formuliert, „Produkte menschlicher Redaktoren“219, die „historisch-kritsich, vorurteilsfrei, ergebnisoffen und um ihrer selbst willen“220 untersucht werden. Schulte ist der Auffassung, dass Geiger diese Grundsätze nicht nur in seinem Erstlingswerk Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, in dem er an der islamischen Religion arbeitete, sondern auch in seinen Schriften über die hebräische Bibel, Jesus und das Neue Testament.221 Da der Koran von Geiger als eine von dem Propheten Muḥammad abgefasste Schrift gelesen, analysiert und interpretiert wird, wird er [der Koran]

in dieser Darstellung als „ein historischer Text“222 und Muḥammad als „eine historische Figur in einem bestimmten (religions-) historischen Kontext“223 beschrieben.

In seinem Werk Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, das von Neuwirth als bahnbrechend charakterisiert wird, versuchte Geiger „die biblischen und nachbiblischen

216 Vgl. Fück, Johann: Die Originalität des arabischen Propheten, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 90 (1936), S. 510.

217 Vgl. Krech 2002, S. 114.

218 Vgl. Schulte 2008, S. 108.

219 Ebd., S. 109.

220 Ebd., S. 109.

221 Vgl. Ebd., S. 109.

222 Ebd., S. 109.

223 Ebd., S. 109.

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Traditionen zu identifizieren, die sich im Koran reflektieren.“224 Genauer gesagt, analysiere Geiger den Koran „im Hinblick auf den Widerhall jüdischer Überlieferung.“225

In seinem Vorwort zu Geigers Werk Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833) bezeichnet Niewöhner Geigers Werk als „eines der eindrucksvollsten Dokumente des 19. Jahrhunderts.“226 Für Niewöhner gilt Geigers Werk auch als die erste Publikation in Deutschland, in der weder Muḥammad noch der Koran gering geschätzt oder verspottet wurden. Geiger bezeichnete Muḥammad in seiner Untersuchung nicht als Betrüger oder Scharlatan; er versuchte, ihn aus historischer Sicht, d. h. vor dem Hintergrund seiner Zeit und seiner Umwelt zu untersuchen. In Geigers Werk wurde der Islam Niewöhner zufolge keiner theologischen Kritik unterworfen, sondern einer historischen Darstellung. Das sei ein Ergebnis einer neuen Haltung gegenüber dem Islam gewesen, die zu Geigers Zeit in Europa entstand.227 Auch wenn Goldziher die Gründung der modernen Islamwissenschaft zu verdanken sei, habe Abraham Geiger mit seinem Werk Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? „diese neue Wissenschaft vorbereitet, ihr die Richtung gewiesen, in der sie bis heute fortgeschritten ist.“228 Abraham Geigers Schrift stellt gemäß Michael Marx die Grundlage der Entwicklung der Koranforschung in Deutschland dar.229

Insofern sollen Geigers Ideen durch die Analyse einzelner Stellen in seinem Buch hervorgehoben werden: In der Vorrede zu seinem Buch stellt Geiger die Vermutung auf, dass Muḥammad Ideen aus dem Judentum übernommen habe. Gewissheit sei in diesem Punkt jedoch schwer zu erlangen, da es aus historisch-kritischer Perspektive wahrscheinlicher ist, dass Muhammad Quellen späterer Glaubensgemeinschaften rezipiert habe.230

Nach Geiger ist die Annahme, dass der Prophet Muḥammad vieles aus dem Judentum aufgenommen habe, seit langer Zeit bekannt, jedoch nicht durch ausreichende Beweise gestützt worden. Dazu schreibt er:

224 Neuwirth 2007, S. 5.

225 Neuwirth, Angelika: Der Koran - ein Teil Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 2012, Nr.

89, S. 7.

226 Friedrich Niewöhners Vorwort zu Abraham Geigers Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Parerga, Berlin 2005, S. 9.

227 Vgl. Ebd., S. 9.

228 Ebd., S. 9.

229 Vgl. Marx, Michael J.: Ein Koran-Forschungsprojekt in der Tradition der Wissenschaft des Judentums: Zur Programmatik des Akademienvorhabens Corpus Coranicum, in: Hartwig, Dirk [u.a.] (Hrsg.): „Im vollen Licht der Geschichte“. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Ergon Verlag, Würzburg 2008, S. 46.

230 Vgl. Geiger, Abraham: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Eine von der Königl.

Preussischen Rheinuniversität gekrönte Preisschrift, 2. revidierte Auflage, Verl. von M. W. Kaufmann, Leipzig 1902, S. II.

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„so ist auch das Thema dieser Abhandlung schon längst als bekannt und gewiss vorausgesetzt, nämlich dass Mohammed in seinen Koran Vieles aus dem Judenthume, wie es ihm zu seiner Zeit sich darstellte, aufgenommen habe, obgleich für diese Annahme durchaus nicht hinlängliche Gründe da waren.“231

Nach Geiger war es der Wunsch der Fakultät, diese Vermutung zur wissenschaftlichen Gewissheit werden zu lassen und das Thema gründlich und wissenschaftlich sowohl vom Koran als auch vom Judentum in ihren Quellen zu bearbeiten.232 Das bedeutet, dass Geiger den wissenschaftlichen Beweis dafür zu erbringen suchte, dass Vieles im Koran aus dem Judentum aufgenommen wurde.

Geiger ist der Meinung, Muḥammad habe gewünscht, die Juden zu seinen Anhängern zu machen, da sie damals viel Macht auf der arabischen Halbinsel besessen hätten.233 Obwohl die Juden dieser Gegend nach der Ansicht von Geiger zu den Unwissendsten gehörten und der Talmud234 nichts über sie sage, hätten sie viele Erzählungen und viele richtige Aussprüche gehabt, durch die ihre geistige Überlegenheit im Vergleich zu anderen religiösen Gemeinden bekannt sei. Muḥammad habe die Ansichten der Juden kennenlernen wollen, um sie mit in sein religiöses Gedankengebäude aufzunehmen.235

Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, wie Muḥammad in Geigers Darstellung gesehen wird. Marx ist der Meinung, dass Muḥammad in Geigers Schrift nicht als ein Betrüger oder falscher Verkünder dargestellt wurde, sondern als ein prophetischer Verkünder, der in einer Umwelt auftrat, die durch jüdische Traditionen gekennzeichnet war.236

Geiger widerspricht der Auffassung, der zufolge Muḥammad ein Betrüger gewesen sei. Er betont, dass seine Untersuchung, die die Entwicklung in Muḥammads Seele behandelt, nicht so verstanden werden dürfe,

„als betrachteten wir ihn als einen mit völligem Bewusstsein und mit gehöriger Ueberlegung eines jeden Schrittes handelnden Betrüger, der Alles, bevor er es thut, genau erwägt, ob Dies denn auch wirklich zur Erreichung seines trügerischen Zweckes förderlich sei, wie ihn neuerdings Wahl aufgefasst hat. Im Gegentheile müssen wir uns

231 Ebd., S. 1.

232 Vgl. Ebd., S. 1-2.

233 Vgl. Ebd., S. 6.

234 Ob die Juden Arabiens vom Talmud wußten, der in Babylonien angefertigt worden war, kann nach der Ansicht von Werner Ende und Udo Steibach mit Gewißheit nicht gesagt werden, ist aber wahrscheinlich. Vgl.

Ende, Werner und Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, Fünfte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Verl. C. H. Beck, München 2005, S. 22.

235 Vgl. Geiger 1902, S. 9-10.

236 Marx 2008, S. 46.

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gegen diese Meinung ernstlich verwahren und sie bloss als ein Zeichen eingelebter Einseitigkeit und gänzlicher Verkennung des menschlichen Herzens betrachten.“237

Aber auch wenn Muḥammad für Geiger kein Betrüger ist, so bedeutet dies nicht, wie Niewöhner238 schreibt, dass er ihn als einen Propheten oder Gesandten Gottes betrachtete.

Muḥammad sei für Geiger „ein wirklicher Schwärmer, der von seiner göttlichen Sendung selbst überzeugt war.“239 Um die Menschen zu heilen, habe Muḥammad, so Geiger, an die Vereinigung der religiösen Vorstellungen gedacht, so dass er sich in diese Sache „so ganz hineingedacht, gefühlt und gelebt hatte, dass ein jeder Einfall ihm göttliche Eingebung schien.“240

Mit den zwei im oben genannten Zitat erwähnten Wörtern (‚ihm‘ und ‚schien‘) wird deutlich, dass Geiger den Koran nicht als ein göttliches Buch betrachtet. Er bezeichnet ihn als ein Werk eines Menschen, eines dichtenden Schwärmers,241 nicht als das eines prophetischen Verkünders.

Da Geiger Muḥammad weder eine göttliche Sendung noch eine betrügerische Absicht zuschreibt, konnte er nach der Auffassung von Niewöhner „den Koran als Text-Corpus einer historischen Person“242 erforschen. Wenn nachgewiesen werde, dass diese historische Person oder dieser historische Autor Muḥammad Erzählungen, Begriffe und Ideen aus dem Judentum entlehnt habe, so heiße das, dass die Texte der koranischen Offenbarungen der Profanierung unterlägen.243 „Für Geiger ist der Koran weder ein unantastbar heiliger Text, noch ein betrügerisches Machwerk; vielmehr liest er ihn als Dichtung.“244

Marx erklärt den in dem Titel von Geigers Schrift genannten Begriff „Aufgenommen“, indem er sagt, dass mit der Aufnahme nicht zu verstehen ist, dass der Prophet Muḥammad einen direkten Zugang zu den Schriften des Judentums hatte.245 In seinem Werk verweist Geiger darauf:

„Das Vermögen, aus dem Judenthume aufzunehmen, lag für Mohammed theils in

„Das Vermögen, aus dem Judenthume aufzunehmen, lag für Mohammed theils in