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3. Neurowissenschaftliche Methoden

3.3 Anatomie und Funktion des menschlichen Gehirns

Bevor auf die Methoden der Hirnforschung und Neuroökonomie eingegangen wird, erfolgt eine kurze Darstellung der Anatomie und Funktionen des menschlichen G e-hirns. Dies soll lediglich einem peripheren Überblick aus makroskopischer Sicht die-nen, um Erkenntnisse, Hypothesen und Resultate nachvollziehen zu können.

Das Nervensystem ermöglicht Menschen, mit der Umwelt zu kommunizieren und sich dieser anzupassen. Zu den Primärfunktionen des Nervensystems zählen daher Wahrnehmung, Verarbeitung, Denken und Fühlen sowie Verhaltensauslösung. Das periphere Nervensystem (PNS) dient der Rezeption und Ausführung z. B. von motori-schen Funktionen. Von Bedeutung an dieser Stelle ist das zentrale Nervensystem (ZNS), welches das Rückenmark, den Hirnstamm, die Brücke, das Mittelhirn, das Kleinhirn, Zwischenhirn und Großhirn umfasst. Die Funktionskette zwischen Wahr-nehmung und Ausführung lässt sich vereinfacht beschreiben: Stimuli werden über Rezeptoren wahrgenommen und über das PNS zum ZNS geleitet. Dort werden affe-rente (ankommende) Impulse prozessiert und über Neuronen mit effeaffe-renten (wegfüh-renden) motorischen Fasern aus dem ZNS in das PNS geleitet, um die Anweisungen zu realisieren.255F 255F253

250 Theorie des Lernens, welche davon ausgeht, „[…] dass der Lernprozess das Ergebnis von Reaktionen auf äußere Begebenheiten ist.“, Definition in: Solomon, M., Bamossy, G., Askegaard, S. (2001), S. 89

251 Vgl. Koschnick, W. J. (2007a), S. 10-11

252 Vgl. Kenning, P. et al. (2005), S. 54-56

253 Zur Lagebeschreibung werden die folgenden Bezeichnungen genutzt: medial (zur Mitte hin gelegen), lateral (zur Seite hin gelegen), dorsal (zum Rücken hin gelegen), ventral (bauchseitig gelegen), bilateral (beidseitig), anterior (vorderer, vorn liegend), posterior (hinterer, hinten liegend), inferior (unterer, unten liegend), superior (oberer, oben liegend). Vgl. Roche Lexikon Medizin (15.08.2008)

Das Gehirn als Teil des ZNS wird im Kommenden strukturiert dargestellt, wobei das Großhirn auf Grund seiner Relevanz für die Neuroökonomie im Vordergrund steht.

Das Gehirn wird vom Cortex, einer rund zwei Millimeter dicken Schicht hoher Neuronendichte, bedeckt. Die Struktur ist durch Furchen (Sulci) und Windungen (Gyri) geprägt, die eine räumlich-funktionelle Einteilung in vier Lappen (Lobi) er-möglichen. Zudem teilt sich das Gehirn in zwei Hemisphären (linke, rechte), die durch ein dichtes Nervenfaserbündel, den Balken (Corpus Callosum), miteinander verbun-den sind und über diesen Informationen austauschen.256F 256F254 Es lassen sich zwar wesentli-che Funktionen der einzelnen Hirnareale unterscheiden, jedoch besteht, begründet durch efferente und afferente Faserverbindungen untereinander, keine isolierte Aufga-benverteilung und Vernetzung. Grundlegend für neurologische Prozesse sind Neuro-nen (auf FunktioNeuro-nen spezialisierte Zellen), die über Synapsen verbunden sind und so interagieren können, sodass nicht nur einzelne Neuronen, sondern ganze Netzwerke existieren.257F 257F255 Im Folgenden wird ein Überblick über die Hirnbereiche gegeben. Im Vordergrund steht der für die Neuromarktforschung wichtige Großhirnbereich.

HIRNTEIL ELEMENTE FUNKTIONEN Kleinhirn

Cerebellum

Urkleinhirn, Altklein-hirn, Neukleinhirn

Steuerung von Haltung und Bewegung; Um-setzen der Motorikvorgaben vom Großhirn;

Steuerung, Stabilisierung, der Blickmotorik;

Erlernen/ Steuerung motorischer Abläufe Zwischenhirn

Diencehalon

Epithalamus, Thala-mus, SubthalaThala-mus, Hypothalamus, anbei Hypophyse

Thalamus: Zentrum für sensible/sensorische Impulse zum Großhirn; Hypothalamus: Regu-lation des vegetativen/endokrinen Systems258F 258F256

Hirnstamm Pons, Medulla

oblangata, Mesence-phalon

Steuerung grundlegende Lebensfunktionen (Herzschlag, Atmung)259F 259F257

Mittelhirn Mesencephalon

Hirnschenkel, Tegmentum (und Substantia nigra), Tectum

Tectum:optisches Reflexe (Saccaden, Orien-tierung); Teil d. Hörbahn; Tegmentum: Zent-rum motorisches System, Verbindungen zu Striatum (über Dopamin); Substantia nigra löst Reaktionen auf Reize aus260F 260F258

Großhirn

Telencephalon,Cerebrum

Frontal-, Parietal-, Tem-poral-, Okzipital-lappen; Basalgang-lien, Paläo-, Archi-, Neocortex

Verhaltenssteuerung, Informationsverarbei-tung, bewusstes Denken, Koordinations- und Kontrollaufgaben, emotionales System*

* die funktionale Betrachtung erfolgt detailliert im Text

Ferner gibt 577H577HAbbildung 9 einen Überblick aus medialer Sicht.

254 Vgl. Trepel, M. (1995), S. 94, 209; Purves, D. et al. (2000), S. 10-13

255 Vgl. Hof, P.R. et al. (1999), S. 49, 60-61

256 Vgl. Grillner, S. (2004): Fundamentals of Motor Systems, in: Squire, L.R. et al. (Hrsg.): Fundamental Neuroscience, Amsterdam [u. a.], S. 764 sowie Feldman, J.L., McCrimmon, D.R. (2004), S. 968

257 Vgl. ebenda und Trepel, M. (1995), S. 93

258 Der Ausfall oder Verletzungen in dem Bereich der Substantia nigra führt häufig zum Parkinson-Syndrom

Abbildung 9: Medialansichten des Gehirns (z.T. mit Medianschnitt)

Eigene Skizzen angelehnt an Trepel, M. (1995), S. 93-96; Zilles, K., Rehkämper, G. (1998b), S. A4; Moll, J.

(2005), S. 800

Das Großhirn gilt als maßgeblich bezüglich der Verhaltenssteuerung und lässt sich äußerlich in vier Lappen unterteilen: Der Frontallappen lässt sich grob in drei Berei-che untergliedern. Im vorderen Stirnbereich liegt der präfrontale Cortex (PFC), wel-cher rational-kognitive Funktionen (Planung zukünftiger Handlungen, kognitive Re-gulation) ausführt, aber auch an Emotionen261F 261F259 beteiligt ist. Ebenso ist der orbitofrontale Cortex (OFC) Teil des Frontallappens und Teil des limbischen Systems.

Der OFC ist in das Entscheidungsverhalten und die Bewertung von Gütern (deren Wertigkeit) involviert.262F 262F260 Im motorischen Bereich werden Bewegungen ausgeführt, wobei der Bereich in der linken Hemisphäre die rechte Körperhälfte steuert, vice ver-sa. Vor der Ausführung wählt der prämotorische Cortex die entsprechenden Bewe-gungen aus.263F 263F261 Im Temporallappen werden akustische Stimuli verarbeitet. Weiterhin ist der Bereich an Lern-, Gedächtnis-, Sprachverstehungs- und emotionalen Vorgän-gen beteiligt. Hier enthalten ist der primär auditorische Cortex, das Wernicke Sprach-zentrum sowie Gedächtnisstrukturen.264F 264F262 Der Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) teilt sich in einen primären und sekundären Teil (Sehrinde) des visuellen Cortex auf und kontrolliert das Sehen.265F 265F263 Der Scheitellappen, Parietallappen, dient primär der Verarbeitung sensorischer Informationen (Somatosensorik,266F 266F264 Körperwahrnehmung).

Daneben laufen Prozesse des Rechnens, Lesen und Erkennens ab.267F 267F265

259 Elsevier GmbH (2003): Roche Lexikon Medizin, München/Jena. www.gesundheit.de/roche/ (16.1.2009)

260 Vgl. Platt, M., Padoa-Schioppa, C. (2009, S. 443

261 Vgl. z.B. Zilles, K., Rehkämper, G. (1998), S. 264-265

262 Vgl. ebenda, S. 192-193; Trepel, M. (1995), S. 204-205

263 Vgl. Trepel, M. (1995), S. 201-204

264 Durch Reize an Körperstellen hervorgerufene Empfindungen. Handwerker, H.O. (2006), S. 203

265 Vgl. Trepel, M. (1995), S. 200

Neben der äußeren Gliederung des Großhirns lassen sich phylogenetisch die folgen-den Elemente zurechnen: Basalganglien, Paläocortex (ältester Anteil), Archicortex und Neocortex (jüngster, größter Teil). Eine Kartierung des Cortex und dessen Funk-tionen entstand Anfang des 20. Jahrhundert durch Brodmann (52 Areale).268F 268F266

578H578H

Abbildung 10 gibt einen Überblick über die Morphologie und primäre Funktionen.

Abbildung 10: Morphologie und Funktionen des Großhirns

Trepel, M. (1995), S. 173-219; Zilles, K., Rehkämper, G. (1998a), 247-250, 263-267, 283-285, 302-307, 310

Die Basalganglien (Striatum, Nucleus subthalamicus, Claustrum) dienen vornehmlich der motorischen Steuerung und inhibitorischen Impulsbeeinflussung. Das Striatum setzt sich dorsal aus Putamen und Nucleus caudatus zusammen und wird ventral durch den Nucleus accumbens (NAcc) verbunden (ventrales Striatum).269F 269F267 Speziell das vent-rale Striatum (speziell NAcc) zeigt enge Faserverbindungen zur Amygdala, dem PFC und dem Gyrus cinguli und damit zum limbischen System. So wird vom NAcc als

„[...] Relaisstelle für die Umsetzung von „Motivation in Aktion“ [...]“270F270F268gesprochen.

Antagonistische Funktionen lassen sich dem Striatum gemäß fördernder und inhibitorischer (motorisch) Reaktionen auf Reize zuschreiben. Darüber hinaus finden wichtige emotionale aber auch kognitive Prozesse im Striatum statt.

Der älteste Teil des Großhirns, der Paläocortex, umfasst insbesondere das olfaktori-sche System und die beiden Amygdalae. Zusammen mit den Teilen des Archicortex bildet sich das limbische System, welches mediale Teile des Frontal-, Temporal- und

266 Vgl. Brodmann, K. (1909), S. 130-150, Bild siehe Anhang B, Anhnag-Abb. 5, S. XXVII; neben der cytoarchitekto-nischen Untersuchung von Menschenhirnen untersuchte Brodmann (Universität Berlin) unter anderem auch die Hirne niederer Affen, Halbaffen (Lemur) und diversen Nagetieren.

267 Vgl. Benninghoff, A. (1992), S. 410-412

268 Trepel., M. (1995), S. 182

Parietallappens umfasst und zur Steuerung emotionaler und motivierender Prozesse dient.271F 271F269 Das System ist essentiell für die Neuromarktforschung und wird im Gegen-satz zum Cortex als emotionales Informationsbearbeitungssystem272F 272F270verstanden. Wei-testgehend unterbewusst werden Stimuli auf Basis vergangener Erfahrungen bewertet und in bewussten positiven oder negativen Gefühlen ausgedrückt.273F 273F271 Das limbische System umfasst speziell die Hippocampi (Gedächtnis, Motivation), den Gyrus Cinguli (Psychomotorik), die Amygdalae (Affekt), und den Hypothalamus (neuroendokrin).274F 274F272 Die Amygdalae275F 275F273 sind im Rahmen der Emotionsentstehung von Relevanz. Sie verar-beiten und bewerten sensorische Signale aus dem Cortex und drücken diese Emoti o-nen über Faserverbindungen zum Hypothalamus (Zwischenhirn) durch körperliche Reaktionen (erhöhter Puls, Blutdruck) aus. Ferner sind beide Mandelkerne für affekti-ves Verhalten (Wut, Aggression) maßgeblich, wozu überdies die Steuerung von Angstkonditionierung und appetitivem Verhalten zu zählen ist.276F 276F274 Darüber hinaus ha-ben die Amygdalae einen bedeutsamen Einfluss auf das Gedächtnis, da emotional aufgeladene Ereignisse eher gespeichert werden als neutrale Informationen.277F 277F275 Die Amygdalae bewerten ferner Entscheidungen, die negative Auswirkungen nach sich ziehen können und ist für diverse Verhaltensweisen verantwortlich.278F 278F276

Der Neokortex, als phylogenetisch jüngster Großhirnrindenteil, nimmt fast die kom-plette Hemisphärenoberfläche des Cortex des Menschen ein und wird als „[...] kogni-tive Zentrum der Informationsverarbeitung[...]“279F 279F277 verstanden, in dem (bewusstes) Denken, Koordinations- und Kontrollaufgaben erfolgen. Ein Element des Neocortex ist die Inselrinde (insularer Cortex, Insula), die unter anderem an der Steuerung von Lern- und Gedächtnisprozessen beteiligt ist. Negative Emotionen werden maßgeblich im insularen Cortex aufgezeigt, der auch mit Emotionen und kognitiver Kontrolle ver-bunden wird.280F 280F278 Ein weiterer Bestandteil des Neocortex ist der PFC, der regulierend auf Reizbewertungen durch die Amygdala und das limbische System wirkt und in enger Verbindung zum Thalamus (sensorischen Reize) steht.281F 281F279Jene vom Thalamus verarbeiteten Sinnesinformationen werden vom PFC interpretiert und als Handlungs-reaktion, gemessen an früheren Erfahrungen, realisiert. Vereinfacht ausgedrückt

269 Lehmann-Waffenschmidt, M., Hain, C., Kenning, P. (2007), S.13-16; Koschnick, W.J. (2007a), S. 13-15

270 Koschnick, W.J. (2007a), S. 15

271 Vgl. ebenda, S. 15

272 Vgl. Trepel., M. (1995), S. 190-191, Zilles, K., Rehkämper, G. (1998), S. 302-303

273 Vgl. Darstellung Anhang B, Anhang-Abb. 4, S.XXV

274 Vgl. Eichenbaum, H.B. (2004), S. 1121, 1315-1318

275 Vgl. ebenda, S. 1319

276 Vgl. Kahn, I. (2002), S. 983; Koschnick, W. J. (2007a), S. 15

277 Koschnick, W. J. (2007a), S. 14

278 Vgl. Nitschke, J.B. et al. (2006), S. 435-442; Shapira, N.A. et al. (2003), S. 751-756

279 Vgl. Koch, C. (2005), S. 135

hemmt der PFC Emotionen in bestimmten Situationen.282F 282F280Ferner ermöglicht der PFC Assoziationen zu vergangenen Zuständen aufzubauen und das Verhalten an frühere Belohnungen oder Bestrafungen anzupassen.283F 283F281 Die exekutive Funktion des präfrontalen Areals bedingt sich durch den Informationseingang aus vielen Arealen und die darauf basierende Determinierung von Zielen und die Aktionsplanung zu de-ren Erreichung.284F 284F282 Hinsichtlich der Gedächtnisprozesse, speziell der Konsolidierung, spielen die beiden Hippocampi eine zentrale Rolle, da er sensorische Informationen verarbeitet und die an den Cortex weiterleitet. Dort werden sie gespeichert. Demnach sind jene „Ammonshörner“ für den Transfer von Informationen aus dem Kurz- in das Langzeitgedächtnis verantwortlich.285F 285F283

Schließlich wird häufig von Belohnungszentren gesprochen, die bis dato die folgen-de Hirnstrukturen umfassen: Teile folgen-des PFK und folgen-des Thalamus, die Amygdalae, das Striatum, den NAcc sowie das ventrale tegmentale Areal und der OFC.286F 286F284Diese Struk-turen werden mit dem Gefühl eines Nutzengewinns in Verbindung gebracht. So ver-zeichnen Elemente des Belohnungssystems u. a. dann Aktivitäten, wenn Personen als Resultat ihrer Entscheidungen Gewinne (z.B. monetärer Art) erhalten.287F 287F285 Auch der OFC ist an belohnungsabhängigen Reaktionen beteiligt und dessen Aktivierung kor-respondiert z. B. mit dem Wert eines Stimulus bzw. eines erwarteten Stimulus, d. h.

der Höhe einer Belohnung (medialer OFC) oder Bestrafung (lateraler OFC). Eine Ak-tivierung der Amygdala wird wiederum als abhängig von der Intensität der Belohnung gesehen und der NAcc spielt eine zentrale Rolle in Bezug auf die Vorhersagbarkeit einer Belohnung sowie bei Fehlern in der Vorhersage (prediction error). Somit führen nicht nur tatsächlich erhaltene, sondern ebenso erwartete Belohnungen, also auch Mo-tivationund Anreize, zu Aktivität im Belohnungssystem.288F 288F286

Zusammenfassend lässt sich, basierend auf den Interdependenzen der Strukturen, kei-ne eindeutige räumliche und funktionale Trennung verschiedekei-ner Hirnareale vorkei-neh- vorneh-men. Die Bezeichnung rationaler (Neocortex) und emotionaler Bereiche (limbisches System) sowie der Belohnungszentren erscheint jedoch zur Interpretation der Ergeb-nisse der Neuroökonomie sinnvoll, sollte jedoch mit Vorsicht angewandt werden, um populärwissenschaftliche Ableitungen zu vermeiden.

280 Vgl. Koschnick, W.J. (2007a), S. 15

281 Vgl. Cohen, M. X., Elger, C. E., Weber, B. (2007), S. 1405-1406

282 Vgl. Camerer, C, Loewenstein, G., Prelec, D. (2005), S. 17

283 Vgl. Koschnick, W.J. (2007a), S. 16

284 Vgl. Lehmann-Waffenschmidt, M., Hain, C., Kenning, P. (2007), S. 16-17

285 Vgl. Kenning, P., Plassmann, H. (2005), S. 348

286Eine relevante Rolle bei motivationalen Aspekten spielt der Neurotransmitter Dopamin; dopam inerge Neuronen kommen v.a.im ventralen tegmentalen Areal vor Vgl. Walter, H. et al. (2005), S. 369, 371 - 373