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 Evidenz und Rationale

Evidenz und Rationale

Die Versorgung von Patienten mit Multimedikation ist aufgrund zahlreicher potentieller Interaktionen hochkomplex. Vor diesem Hintergrund stellt die Bestandsaufnahme eine essentielle und zentrale Komponente des Medikationsprozesses dar: Diese umfasst die Erfassung und Bewertung aller Erkran-kungen und Beschwerden des Patienten (inkl.

Schweregrad sowie Beeinträchtigung der Lebens-qualität und Funktionalität), die aktuelle Medikation (inkl. potentieller Interaktionen, unerwünschte Arz-neimittelwirkungen unter Berücksichtigung von Ver-schreibungskaskaden, Untertherapie und Therapie-adhärenz), sowie die Erhebung klinischer wie kon-textbezogener Parameter (z. B. familiäre Unter-stützung, Pflegesituation, Migrationsstatus, Sozial-status).61 Ausgangslage für die Bestandsaufnahme stellt neben den Selbstangaben des Patienten der aktuelle Medikationsplan dar. Obgleich ein positiver Einfluss von Medikationsreviews (ob allein oder als Bestandteil einer komplexen Intervention) auf patientenrelevante Endpunkte, wie z.B. Lebens-qualität oder Hospitalisierung, in kontrollierten Studien nicht eindeutig gezeigt werden konnte, so gibt es Evidenz zu positiven Effekten auf die Ver-ordnungsqualität und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS).62-69 Medikationsreviews sind daher bereits integraler Bestandteil von strukturierten sektorüber-greifenden Versorgungsprogrammen in anderen Ländern. In Australien konnten mittels strukturierter Medikationsreviews in ambulanter wie stationärer Versorgung unter Einbezug von Apothekern

Pro-Adhärenz verbessert, Kosten gesenkt und in weni-gen Studien auch Krankenhausaufnahmen redu-ziert werden – allerdings stammen diese Ergebnis-se überwiegend aus (nicht-kontrollierten) Beobach-tungsstudien. 70

Systematischer Leitlinienreview (SLR):3 In den be-rücksichtigten Leitlinien besteht Konsens darüber, dass strukturierte Medikationsreviews zur Er-fassung der Ausgangslage erforderlich sind.1 6-8 10 11 48 49 Darüber hinaus wurden in sieben der identifi-zierten Leitlinien die medizinische Anamnese, die Berücksichtigung von sowohl medikamentösen als auch nicht-medikamtenöse Therapien, das Assess-ment von klinischen wie psychosozialen Faktoren sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitsleis-tungen als weitere relevante Komponenten identi-fiziert 5-7 9-11 42; insbesondere

Anamnese: Dokumentation aller medizinischen Diagnosen und Zustände, relevanten Laborer-gebnisse und medikationsbezogenen Probleme (bspw. Unverträglichkeiten) in der elektroni-schen Patientenakte, ggf. mittels strukturierter Fragebogen (STRIP71 1 49),

medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapien: Erfassung aller Behandlungen (inkl.

Arzneimittelverordnungen, OTC), der potentiel-len Interaktionen, UAWs, 1 6-8 10 11 48 49

Adhärenz und Implementierung des Medika-tions-/Behandlungsplans,1 6

Verpflichtungen von Patienten in der Rolle als Pflegende.1072

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Belastung des Patienten2: Einschätzung der Auswirkungen von Erkrankungen, Behand-lungen und Selbstmanagement auf das tägliche Leben (Selbstsorge, mentale Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität)48,

Klinisches Assessment: Identifizierung von Pro-blemen und Beschwerden, insbesondere chro-nische Schmerzen, Symptome für Depression und Angst, Inkontinenz, funktioneller Status inkl. Frailty, Ernährungs- und Hydratations-zustand.10 48

In die Behandlung einbezogene Berufsgruppen:

Erfassung aller Patientenkontakte, erfolgter Än-derungen in der Versorgung unter Nutzung elektronischer Patientenakten, ggf. in multipro-fessionellen Teams.1 10 11 48

Einbeziehung von Patienten, ggf. pflegenden An- und Zugehörigen und professionell Pfle-genden zur Klärung von Missverständnissen.1 11 Zur strukturierten Durchführung einer Medikations-überprüfung wurden in den Leitlinien jeweils unter-schiedliche Instrumente empfohlen:

a) implizite, d. h. patientenzentrierte Bewertungs-instrumente, wie

MAI (Medication Appropriateness Index)73 ACOVE (Assessing Care of Vulnerable Elders)74 oder NO TEARS75 sowie

b) explizite, kriterienbasierte Instrumente, wie bspw.

STOPP (Screening Tool of Older Person’s Prescriptions) / START (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment)76 77, die EU-PIM-Liste78, PRISCUS79, FORTA (Fit for The Aged)80-82

2Der Treatment Burden für pflegende An- und

Empfohlen wird außerdem die Nutzung von Daten-banken mit Hinweisen auf Medikamente mit Ver-längerung der QT-Zeit (s.w.u.) zur Identifikation von Arzneimittelwechselwirkungen, von Medikamenten mit sturzinduzierenden Nebenwirkungen sowie zur nierenfunktionsbezogenen Dosisadaptation.3 Es gibt zwar eine Vielzahl von Instrumenten, zur Erfas-sung der Verordnungsqualität, doch es fehlt vielfach an externen Validierungsstudien, die untersuchen, ob sich patientenbezogene Parameter bei Anwen-dung dieser Instrumente verbessern. So zeigt ein systematischer Review von 201883, dass nur bei 50% von 42 erfassten Instrumenten entsprechende Studien vorliegen.

Treatment Burden

„Treatment Burden“ ist ein neueres Konzept, in dem die „Arbeit, ein Patient zu sein“ dargestellt wird und welchen Einfluss diese auf funktionellen Status und Wohlbefinden hat.60 84 85 Diese „Arbeit“ – wie bspw.

Medikamenteneinnahme, Beachtung von Diätem-pfehlungen, Koordination von Arztbesuchen, Labor-tests und Selbstmanagement - kann von Patienten (und Angehörigen) auf unterschiedliche Art als be-lastend empfunden werden, z. B. weil etwas schwierig, (zeit-)aufwändig oder mit Kosten verbun-den ist.86 Patienten und deren (pflegende) Angehö-rige empfinden die Belastung durch Erkrankungen und Therapien jedoch ganz subjektiv, d. h., die Ein-nahme von (multiplen) Medikamenten zu unter-schiedlichen Zeiten und unter Beachtung spezifi-scher Einnahmehinweise ist für manche unproble-matisch, andere leiden darunter.

Empfehlungen zur Erkennung und zum Umgang damit

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Auch pflegende Angehörige sehen sich als medizi-nische Laien oft mit Aufgaben konfrontiert, mit denen sie nicht vertraut sind.55 In der Folge können Behandlungsmaßnahmen zu negativen emotiona-len wie physischen Symptomen führen, bestehende Beziehungen zu Behandlern wie Angehörigen belasten und die eigene Identität in Frage stellen.51 Betroffene Patienten versuchen, diese Störungen zu minimieren, indem sie entweder zusätzliche An-strengungen aufwenden, um sich anzupassen oder indem sie sich non-adhärent verhalten.51

Systematischer Leitlinienreview zu Treatment Burden: Das Konzept „Treatment Burden“ wurde in allen eingeschlossenen Leitlinien berücksichtigt. Es variierte lediglich der Bezug: in einigen Leitlinien wurden multimorbide (ältere) Patienten mit hohen Behandlungsbelastungen als Risikogruppe für ne-gative gesundheitliche Outcomes gekennzeichnet, in weiteren wurde explizit die Erfassung des Treat-ment Burdens empfohlen, in anderen wurde das Konzept für die gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Patienten herangezogen und schließlich wurde die Reduktion des Burden als Ziel von Maß-nahmen zur Verbesserung von Behandlung und Selbstmanagement bei Multimorbidität mit Multi-medikation formuliert.1 6-8 10 11 48 49

Weitere Evidenz zu Treatment Burden: Bislang gibt es in der Literatur keine einheitlichen Definitionen und Konzepte zum „Treatment Burden“55 56. Dennoch ist man sich darüber einig, dass die Belastungen, die aus der medizinischen

Versor-Behandlung von Gesundheitsproblemen zu erledi-gen. Dies führt dazu, dass ihnen Zeit für die Befrie-digung anderer (z.B. sozialer) Bedürfnisse fehlt.

Zudem werden Abhängigkeiten von Familie und Freunden in den Fokus gerückt und damit das Erle-ben von Autonomieeinschränkung. In systemati-schen Reviews wurden insbesondere qualitative Studien zusammengefasst, welche die möglichen Dimensionen und Folgen des Treatment Burden untersucht hatten – häufig in Verbindung mit Indexerkrankungen, wie Schlaganfall, Herzinsuffi-zienz und Diabetes mellitus.51 53 54 Zudem wurde kürzlich ein systematischer Review zur Erfassung des Treatment Burden publiziert, in dem die Mehr-zahl der berücksichtigten Studien (34/48) krank-heitsspezifische Umstände erfassten.55 Bei 14 Stu-dien wurde der Treatment Burden in Verbindung mit Multimorbidität untersucht, wobei jedoch eine Viel-zahl von Instrumenten verwendet wurde.55 (Zu den Instrumenten s. S. 34)

Unterversorgung

Während Über- und Fehlversorgung (Potential In-appropriate Medication, PIM) und damit zusammen-hängende Deprescribing-Strategien bereits seit längerem als zentrale Probleme von Multimedika-tion verfolgt werden, wird das (paradoxe) Phäno-men der Unterversorgung von relevanten Gesund-heitsproblemen (Potential Prescribing Omissions, PPO) bei Patienten mit Multimedikation deutlich sel-tener wahrgenommen und dessen negativer Effekt auf gesundheitliche Auswirkungen (Outcomes) nun

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Bewertung der Instrumente für eine struktu-rierte Medikationsbewertung:

Die Zahl der expliziten, kriterienbasierten Instru-mente überwiegt laut einem kürzlich publizierten systematischen Review (SR)93 deutlich die der im-pliziten, d.h., den individuellen Patienten mit den je-wieligen Erkrankungen und Therapien berücksichti-genden Instrumente (67 vs. 9). Empirische Belege für die Wirksamkeit der Instrumente waren in die-sem SR93 umgekehrt proportional zu diesem Zah-lenverhältnis (implizite Instrumente: positive Effekte in vier und negative Effekte in einer kontrollierten Studie, kriterienbasiert: eine positive und sieben ne-gative Studien). Da in diesem SR deutlich weniger Studien berücksichtigt wurden, als in anderen SRs64-69, muss das Ergebnis mit Vorsicht interpre-tiert werden. Zudem sind die Ergebnisse von inter-nationalen Studien, in denen PIMs untersucht wur-den, schlecht generalisierbar, da das Verordnungs-verhalten in verschiendenen Ländern erheblich von-einander abweicht und damit auch die Art und der Anteil an PIMs.

Zusammenfassung:

Medikationsüberprüfungen (Reviews) sind inzwi-schen in verschiedenen Ländern in unterschied-lichen Settings, oftmals auch gemeinsam mit Apo-thekern, etabliert. Die Inhalte ähneln sich und um-fassen eine ausführliche Anamnese sowie ein klinisches Assessment, die pharmakologische Be-wertung der Medikation sowie eine Erhebung der Belastungen des Patienten durch die Erkrankung wie auch den Therapieaufwand. Idealerweise wer-den Angehörige und andere an der Behandlung be-teiligte Berufsgruppen einbezogen.

Zur Medikationsbewertung stehen verschiedene In-strumente zur Verfügung. In wieweit sich die ge-sundheitliche Lage der Patienten bei Anwendung der Instrumente, z. B. von PIM-Listen verbessert, ist noch nicht ausreichend nachgewiesen worden.

Nach bisheriger Studienlage sind patientenzentrier-te Instrumenpatientenzentrier-te wie der MAI den verschiedenen Listen (kriterienbasierte Instrumente) vorzuziehen.

Auch wenn es zunächst erstaunt, kann bei Patien-ten mit Multimedikation auch eine Unterversorgung vorliegen. Die Leitliniengruppe empfiehlt hierauf zu achten, da Patienten mit einer Unterversorgung schlechtere Behandlungsergebnisse aufweisen.91

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 Praxistipp und Tools: Klinisches Assessment

Praxistipps und Tools Klinisches Assessment:

Prüfen Sie in Ihrer Patientenakte: Sind rele-vante Vorerkrankungen bekannt, sind alle aktuellen Beschwerden und Diagnosen doku-mentiert? Sind Besonderheiten (Allergien, Anti-koagulantientherapie) und aktuelle Laborwerte (Nierenfunktion) dokumentiert?

Eine Überprüfung der Gesundheitsprobleme wie z. B. chronischer Schmerz, Depression, Angstzustände, Inkontinenz, physiologischer und funktioneller Status sowie ernährungs-relevante Aspekte (Hydratation) wird empfoh-len.

Fragen Sie den Patienten nach unspezifischen Symptomen (Liste im Anhang), da diese Folgen einer Therapieänderung sein könnten bzw. Hin-weise auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen geben:

Trockener Mund

Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit oder reduzierter Wachsamkeit

Schlafstörung