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Absatzorganisation - der feine Unterschied zur Gablonzer Industrie

Erzählungen aus vier Regionen

Kapitel 7: Menorca oder die Kraft des Neuen

7.2 Besonderheiten der Modeschmuckherstellung auf Menorca

7.2.2 Absatzorganisation - der feine Unterschied zur Gablonzer Industrie

Die Absatzorganisation der menorkinischen Modeschmuckindu-strie ist auf den ersten Blick dem klassischen Gablonzer Expor-teur-System nicht unähnlich: Schon in den Zeiten der

Geldbörsenherstellung war der Vertrieb über sogenannte «Viajan-tes» abgewickelt worden. Dieses Modell wurde danach auch auf

Abbildung 24. Unternehmen des Modeschmucksektors auf Menorca 1997

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der Cámera Oficial de Commercio e Industria, Mahón/Menorca (1997)

Ciutadella Ciutadella Ciutadella

Maó Maó Maó

Es Mercadal

Es Migjorn

Gran

Ferreries Ferreries Ferreries

Alaior Alaior Alaior

Es Es Es Castell Castell Castell

Sant Lluis Sant Lluis Sant Lluis Modeschmuckhersteller

10 1

Bezirksgrenze

0 5 10 km

den Modeschmuckvertrieb übertragen. Wie die Exporteure ver-mitteln auch die Viajantes zwischen einer außerregionalen Nach-frage einerseits und dem regionalen Angebot von Modeschmuck-erzeugnissen andererseits; diese Aufgabe wird jedoch jeweils anders erfüllt. Der Vergleich zwischen Menorka und der Gablon-zer Industrie eröffnet ein Verständnis der jeweiligen Absatzinter-mediäre, das vermutlich nicht hätte erzielt werden können, wenn sich diese Arbeit auf nur eine Region beschränkt hätte. Das Ergeb-nis dieses Vergleichs soll im folgenden etwas detaillierter darge-stellt werden. Die zugrundliegende Frage ist: Worin

unterscheiden sich die Viajantes vom klassischen Gablonzer Exporteur?

Viajantes und Exporteure im Vergleich

Reisen versus Arbeit vor Ort: Schon die Bezeichnung Viajan-tes legt nahe, dass sie als Reisende arbeiten, während die Exporteure ihrer Tätigkeit - auch wenn sie auf ausgedehnte Auslandsaufenthalte hinweisen - größtenteils vor Ort, also innerhalb des regionalen Produktionskomplexes nachkom-men.

Ständige Betraute versus Auftraggeber: Obgleich die Bezeichnung „Viajantes“ es nahelegt, handelt es sich dabei nicht um Handlungsreisende deutscher Definition, die letzt-lich als Angestellte berechtigt sind, außerhalb des Betriebs ihres Arbeitgebers Geschäfte in dessen Namen abzuschlie-ßen; vielmehr sind Viajantes Selbständige, die von einer begrenzten Gruppe von Herstellern auf Dauer (in der Praxis mindestens eine Saison, in der Regel jedoch eher über meh-rere Jahre) mit ihrer Vertriebsaufgabe betraut wurden. Via-jantes entsprechen also weitestgehend den im deutschen Rechts- und Sprachgebiet sogenannten «Handelsvertretern».

Zugrunde liegt ein wie auch immer im Einzelfall gearteter - meist mündlich geschlossener - Dienstvertrag über Ge-schäftsbesorgungen. Dies ist ein weiterer Unterschied zum Exporteur. Er ist kein ständiger Betrauter der Hersteller, son-dern hat ihnen gegenüber den rechtlichen Status eines Auf-traggebers.

Absatzmittler versus Beschaffungsagenten: Die Exporteure sind Agenten der außerregionalen Nachfrager im jeweiligen Produktionskomplex, der für die Nachfrager letztlich ein Beschaffungsmarkt ist; die Viajantes dagegen sind jeweils als Agent en eines oder mehrerer Hersteller auf dem Absatz-markt tätig. Damit können Exporteure innerhalb des jeweili-gen Produktionskomplexes ihre Lieferanten völlig frei

wählen, während Viajantes per Vertrag an einen oder eine Gruppe von Herstellern gebunden sind. Versuchen wir eine zweckrationale Erklärung für die entgegengesetzten Stoß-richtungen der Intermediäre in Menorca und den Regionen der Gablonzer Industrie, so bietet sich folgende Argumenta-tionslinie an: Ihren Ausgangspunkt bildet die Insellage des menorkinischen Produktionskomplexes. Die schlechte Erreichbarkeit des Produktionsstandortes war bis vor ca. 30 Jahren eine erhebliche Barrierre zwischen den menorkini-schen Herstellern und den außerregionalen Kunden. Erst seit die Balearen Ziel des Massentourismus sind und die Flugpreise entsprechend günstig sind, ist es unter Kostenge-sichtspunkten möglich, die Insel kurzzeitig zu besuchen oder zu verlassen. Die Viajantes stellten eine Lösung für die-ses Erreichbarkeitsproblem dar. Mit vollständigen Muster-kollektionen verließen sie für mehrwöchige Zeiträume die Insel, um Großhändler in und außerhalb Europas zu besu-chen und deren Aufträge an die menorkinisbesu-chen Hersteller zu übermitteln. Dieses Erreichbarkeitsproblem war in den Regionen der Gablonzer Industrie nicht in diesem Maße gegeben. Zudem war die Attraktivität dieser Produktions-komplexe für Modeschmuckeinkäufer so groß, dass sie bereit waren, die Distanz zu überwinden. Denn das Angebot auf Menorka war bei nur 120 Herstellern selbst zur Hochzeit der Modeschmuckproduktion 1968 gegenüber den anderen Regionen eher beschränkt: So waren zur jeweiligen Hochzeit in Kaufbeuren-Neugablonz 600 Unternehmen (1969) tätig; in der Region Linz/Enns waren es immerhin ca. 300 (1968) und in Gablonz an der Neiße waren es im Jahr 1938 sogar 4.656 Unternehmen. Angesichts solcher Unternehmenszahlen wird die Funktion der Exporteure im Gegensatz zu den Via-jantes deutlich: Erstere dienten den außerregionalen Kunden dazu, sich auf absolut intransparenten regionalen Beschaf-fungsmärkten zu orientieren, die die jeweiligen Produkti-onskomplexe darstellten. Letztere dienten den menorkini-schen Herstellern dazu, trotz des Erreichbarkeitsproblems und einer im Vergleich mit der Gablonzer Industrie geringe-ren Attraktivität (für Einkäufer) Aufträge zu generiegeringe-ren.

Vertragsverhältnis versus institutionelle Norm: Gegen diese Unterscheidung sperren sich die Realitäten in den Untersu-chungsregionen ein wenig. Zumindest gilt dies, wenn man das Naheliegende versucht, also Menorca in Kategorien des expliziten Vertragsverhältnisses zu begreifen und im Fall der

Gablonzer Industrie eine stillschweigende institutionelle Norm zugrundezulegen. Hier lohnt es sich, zu differenzie-ren: Ja, es waren im Grunde für den Einzelfall ausgehandelte Verträge, die auf Menorca zwischen den Herstellern und den Viajantes geschlossen wurden. In diesen - meist mündlichen - Verträgen wurde festgelegt, welchen Herstellern der Absatzmittler zu dienen hatte, welche Provisionen er erhielt, wie die Reisekosten gedeckt werden u.ä. Allerdings war die Tatsache, dass der Vertrieb über Viajantes allgemein als bester Weg anerkannt wurde, Ergebnis eines Institutionali-sierungsprozesses. Die Viajantes erhielten dadurch einen eindeutigen Status, der über ihre oben erläuterte zweckratio-nale Legitimation hinausging. Die Viajantes waren diesem Status entsprechend als Gruppe darauf festgelegt, exklusiv den Absatz für die menorkinischen Hersteller zu organisie-ren. Für den einzelnen Viajante bedeutete dies dennoch, dass er sich um eine Handelsvertretung bemühen musste, in dem er Erfolge nachwies. Gelang ihm dies dauerhaft nicht, verlor er die Hersteller als Vertragspartner. Diese suchten dann einen neuen Viajante. Sie stellten aufgrund des Versagens eines einzelnen Intermediärs nicht das System der Viajantes in Frage, denn dieses war als bester Weg anerkannt. Das System war also zum einen sachlich legitimiert, zum ande-ren institutionalisiert. Es beruhte aber letztlich auf einem Auswahlprozess der Hersteller. Sie suchten die aus ihrer Sicht leistungsfähigsten Viajantes aus und schlossen mit ihnen Verträge ab. Und an dieser Stelle lässt sich der Unter-schied zum Exporteur am deutlichsten machen: Er wurde nicht von den Herstellern der Gablonzer Industrie gewählt, sondern von den außerregionalen Nachfragern aufgrund der Intransparenz des Beschaffungsmarktes und des

Bedarfs, breite Kollektionen aus den Angeboten zahlreicher Hersteller zusammenzustellen. Die Exporteure hatten also ihren Status innerhalb der Gablonzer Industrie letztlich von außen her zugewiesen bekommen. Sie waren durch ihre Kunden legitimiert, Waren zu beschaffen. Für die Hersteller, die die Prozesse, die hinter dem Zustandekommen einer Geschäftsbeziehung zwischen einem außerregionalen Kun-den und einem Exporteur nicht kannten, kam dies einer Art Gottesgnadentum nahe.

Zusammenfassend handelte es sich bei den menorkinischen Via-jantes um freie Handelsvertreter, die jeweils für eine begrenzte Gruppe von Herstellern tätig waren. Das System der Viajantes

hatte seine sachliche Rechtfertigung im langjährigen Erreichbar-keitsproblem des Produktionsstandorts Menorca, war aber auch allgemein als bester Weg der Absatzorganisation anerkannt - und damit institutionalisiert.

7.2.3 Regionale Gemeinschaft - kann eine Insellage die