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Ableitung der Fragestellung

Im Dokument Häuser machen Schule (Seite 91-96)

Schulhäuser werden in einem komplexen Prozess mit Beteiligung vieler Akteure geplant und gebaut. Sie entstammen einer kollektiven Praxis. Zudem entsprin-gen sie einem Entwurf, der eine spezifische Praxis gedankenexperimentell vor-wegnimmt. Sie sind eine Manifestierung jeweils epochal verankerter Deutungs-muster über Schule, Pädagogik und Kindheit. Als dauerhafte Objektivationen verkörpern Schulbauten also ehemals in die Zukunft geplante Entwürfe. Zu-gleich stellen sie Kontinuität her, indem sie die in Stein gehauenen Sinnstruktu-ren dauerhaft verfestigen. Daher eignet sich die Architekturanalyse, weil sie verspricht, dass „jene kulturellen Traditionen und Sinnstrukturen synchronisch und diachronisch aufgearbeitet werden, die in besonderer Weise die historische Entwicklung des Bildungssystems und der familialen Erziehungspraxis beein-flussen“ (Oevermann, 2012, S. 196). Dabei müssten laut Oevermann die

„Wissenssysteme und Deutungsmuster, die die expliziten Bildungsziele fundieren, als relativ verselbständigte objektive Argumentationsstrukturen (...) [behandelt werden], die gleichsam hinter dem Rücken der subjektiven Intentionalität der einzelnen Personen das Handeln im Sin-ne eiSin-nes „Habitus“ (Bourdieu) bestimmen.“ (ebd.)

Die Architekturanalyse verspricht diesem Umstand nahezukommen. Schulhäu-ser sind Entwürfe einer idealen Praxis und verkörpern damit jeweilige Ideale von ,guter Schule‘. Die Architektur entfaltet eine sublime, aber effektive Wir-kung auf die Möglichkeiten der schulischen Praktiken. In der Rekonstruktion der Brüche und Anpassungsleistungen durch Um-, An- und Erweiterungsbauten können auch neue Anforderungen in der Normativität ,guter Schule‘ rekonstru-iert werden. Dies gelingt jedoch nur dann, wenn die innere Gesetzmäßigkeit erschlossen werden kann und sich die Analyse nicht nur auf die Deutung von manifesten Wirkungen und Expressionen beschränkt.

Das übergeordnete Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist die Re-konstruktion der Eigenlogik von Schulbauten in ihren manifesten und latenten Sinngehalten. Dabei wird zwischen zwei zusammenhängenden Fragebereichen

mit mehreren Unterfragen unterschieden, die sich aus den konstitutionstheoreti-schen Erörterungen ableiten:

Zum Ersten wird rekonstruiert, wie die Sesshaftigkeit der Schule architek-tonisch gedeutet und realisiert wird. Dazu gehört die Repräsentation nach außen, die Konstituierung der Innen-Außen-Abgrenzung und die Funktionalität der Schulen innerhalb des Siedlungsgefüges. Thematisiert wird also, welche Denk- und Wissensformen sich in der Architektur der Schule nach außen manifestie-ren.

Zum Zweiten wird als eigenständiger Bereich davon abgegrenzt, wie das Handlungsproblem von Schule – also Bildung und Sozialisation – durch Archi-tektur umgesetzt wird. Dabei interessieren die Funktionalität des Gebäudes und die Frage, welche Suggestion ein Gebäude entfaltet, um Schule zu unterstützen.

3.3.1 Zur Sesshaftigkeit der Schule

Mit der Sesshaftigkeit von Schule ist insbesondere die Repräsentationsfunktion der Architektur thematisch. Es wird den Fragen nachgegangen, welche Sinn-strukturen sich in der Selbstdarstellung der Schule verkörpern: Welche Regeln und Sinnbilder können als Eigensinn einer jeweiligen Schulförmigkeit realisiert werden, die den Gebäudetyp Schulhaus ausmachen und damit als ,Vorbewusstes‘ der Schule fungieren? Wie wird die Funktionalität der Schule als Schule nach außen repräsentiert? Und last but not least, wie wird die Bau-herrschaft nach außen repräsentiert?

Mit der Frage der Repräsentation ist auch die Frage der Innen-Außen-Abgrenzung angesprochen. Um diese zu fokussieren, müssen die Schulbauten innerhalb ihrer Siedlungsumgebung betrachtet werden. Daher wird die Positio-nalität der Schulbauten, ihre FunktioPositio-nalität innerhalb des Siedlungsgefüges und die damit einhergehenden Bedeutungsstrukturen in den Fallrekonstruktionen mit thematisiert.

3.3.2 Zur Funktionalität schulischer Architektur

Zum Zweiten richtet sich das Erkenntnisinteresse auf die Funktionalität der Schulhausarchitektur. Hier sind mehrere Bereiche zu differenzieren: Auf einer deskriptiven Ebene kann das Raumprogramm einer Schulanlage als explizite ,Theorie der Schule‘ gelesen werden. Für das Vorhaben bedeutender sind aller-dings die impliziten und latenten Sinngehalte: Welche Ideen und Vorstellungen über Pädagogik, Schule, Kindheit und Sozialisation lassen sich aus der Materia-lität der Schulbauten rekonstruieren? Inwiefern ist Architektur oder Teile davon eine ,pädagogische Architektur‘, die sich explizit oder implizit auf pädagogische und/oder Sozialisationspraktiken richtet? Was kann mit der Analyse der Archi-tektur über die Praktiken an der Institution Schule gesagt werden? Damit sind diejenigen Bereiche angesprochen, die begrifflich als ,Programm des Raums‘

oder als Gestik der Architektur gefasst werden.

Aus dem Raumprogramm, dem Programm der Räume und den Raum(an)ordnungen können Aussagen über die Akteure und deren Beziehungen gemacht werden: Wie werden die Beziehungen und Binnenbeziehungen zwi-schen Lehrpersonen, Schüler_innen und anderen Akteuren gedacht und präfor-miert? Welche Praktiken werden durch die Architektur unterstützt, und welche werden eher unterbunden?

Da Schulhäuser beständig sind, liegt ein weiterer Fokus des Erkenntnisinte-resses auf der Genese des Bildungswesens und den (Um-)Brüchen zwischen der räumlich-architektonischen Konstitution von Schule und den zeitgebundenen und sich ändernden pädagogischen Praktiken. Architektur als Datenmaterial und Forschungsgegenstand verspricht Ergebnisse über besonders beständige Struktu-ren, die gewollt oder unbewusst die Schule durch die Architektur in ihrer heuti-gen Ausdrucksmaterialität und Bedeutungsstruktur präformieren.

Nach diesen Herleitungen und der Konturierung der Fragestellung werden im nächsten Kapitel der methodische Umgang mit Architektur als Datenmaterial geklärt.

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4 Architektur als Protokoll und Protokollierung von Architektur – Methode und Forschungsdesign

4 Architektur als Protokoll und Protokollierung von Architektur

Die Herausforderungen einer empirischen Architektursoziologie sind nicht nur konstitutionstheoretischer Natur. Architekturanalysen sind auch in methodischer und analytischer Hinsicht eine ambitionierte Aufgabe. Dies liegt zum Ersten daran, dass Architektur synchron und diachron zugleich wirkt. Zum Zweiten liegt es daran, dass Architektur ein nichtsprachliches Protokoll ist. Zum Dritten sind es auch die Größe des Datums, die Art der Protokollierung und Auswertung, die herausfordernde Fragen aufwerfen. Insgesamt verlangt die Architekturanaly-se nach experimentellen Forschungsdesigns und Methodenentwicklung (Delitz 2009; Schmidtke 2008).

Die vorliegende Untersuchung verfolgt ein exploratives und qualitativ-rekonstruktionslogisches Vorgehen, bei dem wenige, ausgewählte Schulanlagen exemplarisch und detailliert analysiert werden. Für beide Problemlagen eignet sich die Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2000a, 2002a; Wag-ner 2001). Zum Ersten eignet sie sich für die Analyse nichtsprachlicher Protokol-le. Zum Zweiten werden in der Rekonstruktion eines spezifischen Falles auch hypothetisch anders gelagerte Fälle jeweils mit expliziert.

Methodisch wird zu weiten Teilen Neuland betreten, denn Sequenzanalysen von Architektur liegen einzig von Schmidtke (2006, 2007) und von Barth (2004a, 2004b) vor. Bei Schmidtke stehen professionalisierungstheoretische Fragen der Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses zwischen Architekt und Bau-herr im Fokus, was Auswirkungen auf die Art der Protokolle, der Datenpräsenta-tion und auch des sequenziellen Vorgehens hat. Barth verfolgt einen bauhistori-schen Zugang, in dem das Werk eines Architekten (Gustav Lüdecke, 1890–

1976) rekonstruiert wird und einer architekturhistorisch-ideengeschichtlichen Verortung gegenübergestellt wird. Die Sequenzanalysen liegen bei Barth jedoch nicht verschriftet vor. Verschriftete und damit intersubjektiv nachvollziehbare Sequenzanalysen eines Luftbilds liegen von Wienke (1999, 2001) vor. Wienke verfolgt explizit eine methodische Frage: Welchen Nutzen kann die Objektive Hermeneutik für siedlungssoziologische Fragestellungen haben? Auf einer kon-stitutionstheoretischen, methodologischen und methodischen Ebene befasst sich Loer mit den Möglichkeiten der Untersuchung von Siedlungen und Regionen

© Der/die Autor(en) 2019

J. Egger, Häuser machen Schule, Rekonstruktive

Bildungsforschung 27, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26653-0_4

(2007), insbesondere der „Eigenlogik einer Stadt“ (2013). Die Überlegungen und Erfahrungen dieser Autoren sind für die Untersuchung bedeutsam und sind daher in die Konzeption des Forschungsdesigns eingeflossen. Da die Analysen nicht direkt am Objekt, sondern anhand von Bildern erfolgen, werden auch methodi-sche Fragen der Sequenzanalyse von Bildern miteinbezogen (Kraimer 2014a;

Oevermann 2014; Rittelmeyer & Wiersing 1991).

In den methodischen Bemerkungen soll es nicht um die Grundlagen der Ob-jektiven Hermeneutik gehen (vgl. dazu Oevermann 1981, 2000a, 2016; Wernet 2009). Ziel der vorliegenden Diskussion ist die Präsentation des methodisch spezifischen Vorgehens, das die sequenzielle Analyse von Architektur betrifft.

Im Weiteren werden methodologische und konstitutionstheoretische Fragen dort eingehender diskutiert, wo dies notwendig erscheint oder wo sich methodisch und methodologisch neue Fragen stellen.

Das Kapitel gliedert sich thematisch entlang der methodischen Schritte, wie sie bei der Sequenzanalyse durchgeführt werden: Fallbestimmung, Fallrekon-struktion und Fallerschließung (Kraimer 2014a: 13). Für die methodische Dis-kussion ist vor allem die Fallerschließung interessant. Die Fallrekonstruktion und die Strukturgeneralisierung werden nachfolgend direkt in den empirischen Fall-rekonstruktionen erfolgen.

Die Fallbestimmung klärt formal und inhaltlich, ,was der Fall ist‘. Sie klärt die Fallerfassung und -einbettung mittels geeigneter Protokolle und zugehöriger methodischer Fragen. Der darauffolgende Abschnitt erörtert methodische Fragen der Fallrekonstruktion. Diese betreffen vor allem Fragen der Datenpräsentation und der Sequenzialität in der Analyse. Der letzte Teil behandelt das Forschungs-design und diskutiert Fragen des Samplings.

Im Dokument Häuser machen Schule (Seite 91-96)