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Die Rolle der Mutter-Kind-Beziehung im Rahmen der Entwicklung des Frauenbildes am Beispiel heranwachsender Jugendstrafgefangener

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Studiengang Soziale Arbeit

Die Rolle der Mutter-Kind-Beziehung im Rahmen der

Entwicklung des Frauenbildes am Beispiel

heranwachsender Jugendstrafgefangener

Bachelorarbeit

Zur Erlangung des akademischen Grades:

Bachelor of Arts

vorgelegt von: Lisa Hartwich

Sommersemester 2016

Erstprüfer: Prof. Dr. phil. Roland Haenselt Zweitprüferin: Ass. jur. Britta Tammen

Datum der Abgabe: 27.06.2016

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2 DIE MUTTER-KIND-BEZIEHUNG ... 3

2.1 EINFÜHRUNG ... 3

2.2 SIGMUNDFREUD ... 4

2.3 BINDUNGSTHEORIE NACHBOWLBY... 6

2.3.1 Grundlagen ... 6

2.3.2 Bindungsstile ... 7

2.4 BEDÜRFNISSE DESKINDES AN DIEMUTTER ... 9

2.5 DASLEBENSSKRIPT DERTRANKSAKTIONSANALYSE ... 11

2.6 GESCHWISTERKINDER ...12

2.7 MÖGLICHESCHÄDIGUNG DER PSYCHISCHENENTWICKLUNG DESKINDES ...13

2.8 MUTTERENTBEHRUNG ...16

2.9 EXKURS: SEXUELLERMISSBRAUCH ...17

3 DIE GESCHLECHTERSOZIALISATION ...19

3.1 ZEITLICHEENTWICKLUNG BIS ZURENTDECKUNG DESGESCHLECHTSUNTERSCHIEDES ...19

3.2 VERSCHIEDENETHEORIEN ZURGESCHLECHTERSOZIALISATION...20

3.2.1 Lerntheorie ...20

3.2.2 kognitive Entwicklungstheorie ...20

3.2.3 Rollentheorie...21

3.2.4 Sigmund Freud ...21

3.3 BESONDERHEITEN IN DERSOZIALISATION VONMÄDCHEN ...22

3.4 BESONDERHEITEN IN DERSOZIALISATION VONJUNGEN ...23

3.5 THEORIE VONNANCYCHODOROW UNDDOROTHYDINNERSTEIN ...26

4 INTERVIEWS MIT HERANWACHSENDEN JUGENDSTRAFGEFANGENEN ...29

4.1 VORBEREITUNG UNDDURCHFÜHRUNG ...29

4.2 ANMERKUNGEN ...31

4.3 AUSWERTUNG DERINTERVIEWS ...31

4.3.1 Christoph ...31 4.3.2 Alexandra ...34 4.3.3 Tim ...37 4.3.4 Miriam...39 5 FAZIT ...40 6 QUELLENVERZEICHNIS ...42 7 ANHANG ...43 7.1 INTERVIEWI - CHRISTOPH ...43 7.2 INTERVIEWII - ALEXANDRA ...60 7.3 INTERVIEWIII - TIM ...66 7.4 INTERVIEWIV - MIRIAM ...72

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1 Einleitung

Während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit und meines Praktikums in der Jugendanstalt Neustrelitz wurde ich oft mit in meinen Augen fragwürdigen Frauenbildern konfrontiert. Die Stellung, die man als junge Praktikantin für fremde Gefangene in einem ähnlichen Alter einnimmt, scheint auf Anhieb abgeklärt zu sein: man wird auf sexuelle Reize reduziert. Harmlos sind die Pfiffe, die einem folgen, wenn man den Hof überquert, belastend sind die sexuellen Sprüche, die man hinterhergeschrien bekommt. Aber für die Arbeit mit den Gefangenen hat es sich für mich mit am schlimmsten angefühlt, wenn sie respektlos aufgetreten sind und mir zum Beispiel meinen Vornamen quer über das Gelände entgegen gerufen haben, obwohl klar ist, das ich mit dem Nachnamen anzusprechen bin. Generell wird dieses Verhalten deutlich besser, sobald man mit den Häftlingen in irgendeinem Kontext zusammengearbeitet hat. Dann gingen sie in der Regel sehr respektvoll mit mir um und auf dieser Grundlage konnte eine Arbeitsbeziehung entstehen, die für beide Seiten vermutlich bereichernd sein kann. Genau über dieses Frauenbild im Kontext des Strafvollzuges, in dem anscheinend eine Menge Gefangene die sein wollen, die am lautesten aus ihrem Fenster brüllen, wollte ich ursprünglich meine Bachelorthesis schreiben. Im Anti-Aggressivitäts-Training habe ich dann letztes Jahr noch einen anderen Aspekt kennen gelernt. Viele der heranwachsenden Straftäter haben unglaublich schlimme biografische Erfahrungen machen müssen, die mich regelmäßig zu Tränen gerührt haben.

Und trotz des Austestens meiner Grenze und der Versuche mich vielleicht doch mit

irgendeinem Spruch über meine niedlichen abstehenden Ohren rumzukriegen, kann man in meinen Augen vielen der Gefangenen etwas Gutes tun, indem man einfach da ist und ihnen das Gefühl gibt, dass man nicht sie verurteilt, sondern ihr Verhalten, ihre Brutalität mit der sie bei ihren Straftaten vorgegangen sind. Viele von ihnen wurden nie bedingungslos akzeptiert und respektiert. Für einige war vermutlich der einzige Weg um Aufmerksamkeit zu erhalten, laut über den Hof zu schreien. Bei einem Gefangenen ist es mir besonders aufgefallen: seine Mutter kam zur Aufführung unseres Theaterstückes, was wir in einer

Behandlungsmaßnahme erarbeitet haben. Und sie hat ihm gar nicht wirklich Beachtung geschenkt, bis er dann „sich zum Deppen“ gemacht hat und sie auf seine Kosten lachen konnte. Danach hat er sich die ganze restliche Zeit, in der sie da war, nur so verhalten. Was einige der Mütter ihren Kindern, die in Haft sitzen, angetan haben, wissen die meisten vermutlich nicht, weil sie es nicht bewusst getan haben, um ihr Kind zu schädigen. Dennoch ist und bleibt die wichtigste Bezugsperson im Leben eines Menschen die Mutter und mit ihrer Einstellung und ihrem Verhalten dem Kind gegenüber, legt sie das Fundament für seine psychische Entwicklung. Ich vermute, dass deshalb so viele Strafgefangene nach

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wertgeschätzt und unbedingt geliebt wurden von ihrer Mutter.

Daraus leitet sich die Hauptthese meiner Arbeit ab: Wir entwickeln unser Frauenbild beziehungsweise unser Verständnis von den Geschlechtsrollen anhand der Beziehung zu unserer Mutter, insbesondere in der Frühkindheit im Alter von null bis drei Jahren, aber auch im späteren Verlauf der Kindheit. Um mich dieser These zu nähern, habe ich meine Arbeit in drei Kapitel unterteilt. Im Ersten geht es um die Mutter-Kind-Beziehung und welche

Auswirkungen diese auf die psychische Entwicklung des Kindes hat. Dazu wird zuerst eine kurze Einführung in die Thematik geboten. Nach dieser werden die Theorie von Sigmund Freud und die Bindungstheorie nach John Bowlby vorgestellt, wobei besonders die verschiedenen Bindungsstile eines Kindes erläutert werden. Der nächste Unterabschnitt befasst sich mit den vielfältigen Bedürfnissen des Kindes an die Mutter. Daraufhin soll kurz das Lebensskript der Transaktionsanalyse nach Stewart und Joines in Bezug auf den Einfluss der Eltern auf die Skriptentscheidungen des Kindes dargestellt werden. Nach einer kurzen Erläuterung der Unterschiede in der Erziehung von erst- und nachfolgend geborenen Kindern, werden verschiedene Verhaltensweisen der Eltern vorgestellt, die zu schadhaften Einflüssen in der psychischen Entwicklung des Kindes führen können, dabei wird

insbesondere noch auf die Mutterentbehrung und den sexuellen Missbrauch innerhalb der engen Familie eingegangen. Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Die Geschlechtersozialisation“ wird zunächst auf die zeitliche Entwicklung des Kindes bis zur Entdeckung des

Geschlechtsunterschiedes geschaut, wobei geschlechtsneutrale und geschlechtsgebundene Frühkindheit unterschieden werden. Im Folgenden werden verschiedene Theorien zur

Geschlechtersozialisation kurz dargelegt, dazu gehören die Lerntheorie nach Walter Mischel, die kognitive Entwicklungstheorie nach Lawrence Kohlberg, die Rollentheorie nach Talcott Parsons und erneut die Theorie von Freud. Danach sollen Sozialisationsunterschiede von Mädchen und Jungen und die Folgen dieser für die beiden unterschiedlichen Geschlechter und Stereotypien bezüglich dieser erläutert werden. Abschließend wird die Theorie zur Geschlechtersozialisation von Nancy Chodorow und Dorothy Dinnerstein thematisiert, die sich an Sigmund Freud orientiert, aber feministischer ausgelegt werden kann.

Es werden in diesem Theorieteil der Arbeit sehr unterschiedliche Theorien vorgestellt, die nicht immer unbedingt meiner Ansicht entsprechen, aber hier dennoch Gehör finden sollen um auch Gegenpositionen zur Psychoanalyse aufzuzeigen.

Im dritten Kapitel werde ich die von mir erstellten narrativen Interviews, die ich in der

Jugendanstalt Neustrelitz mit vier heranwachsenden Jugendstrafgefangenen bezüglich ihrer Mutterbindung und ihrem Frauenbild geführt habe, textanalytisch auswerten. Dabei erläutere ich zunächst die Planung und Durchführung dieser und habe noch einige kurze

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sie kurz zusammengefasst und an einigen Stellen von mir gedeutet werden. Die Transkripte der Interviews sind im Anhang zu finden. Die Bachelorthesis wird mit einem Fazit

abgeschlossen, wobei die Ergebnisse der einzelnen Kapitel bezüglich der These reflektiert werden sollen.

2 Die

Mutter-Kind-Beziehung

2.1 Einführung

Zum Thema Mutter-Kind-Beziehung oder auch Mutter-Kind-Bindung gibt es eine Vielzahl an Theorien, einige der bekannteren wie die Bindungstheorie von Bowlby oder der

Ödipuskomplex nach Freud werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch erläutert. Meyer unterscheidet bezüglich der Mutter-Kind-Beziehung drei verschiedene Elemente, auf die man sich bei dieser Thematik beziehen kann. Zuerst benennt er die mütterliche Zuneigung,

welche sich in der Beschaffenheit der Beziehung von der Mutter zum Kind äußert. Der zweite Faktor ist die Mutterbindung des Kindes, also die Beschaffenheit und Sicherheit der Bindung des Kindes an die Mutter. Als dritte Dimension nennt er die Stimmigkeit der Mutter-Kind-Interaktion, diese spielt sich im Rahmen der bisherigen Beziehung zwischen Mutter und Kind ab und kann andererseits auch diese Bindung festigen oder verschlechtern.1

Bereits Alfred Adler betonte die Bedeutsamkeit der Mutter-Kind-Beziehung für die zukünftige Entwicklung des Kindes. So prägen die Erfahrungen im Säuglingsalter das Weltbild des Individuums bis ins hohe Alter. Dabei kann die Weltanschauung unverändert oder zumindest ähnlich bleiben, auch wenn es äußerlich oft nicht so erscheint, da es Unterschiede in der Äußerung des Weltbildes zwischen einem Kind und einem Erwachsenen gibt.2

Zu diesem Weltbild gehört auch der Gemeinschaftssinn des Kindes, welcher in der Familie geweckt werden kann, das Kind lernt am Modell der Mutter, ob es sich auf Menschen verlassen kann oder nicht. So ist die Beziehung zu seiner Mutter laut Pestalozzi Vorbild für alle weiteren Beziehungen und sie gibt vor, wie sich das Kind verhalten wird.3 Nietzsche

1vgl. Meyer 1985, S.3 2 vgl. Adler 1966, S.81 3 vgl. Adler 1966, S.245

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sagte dazu, dass „jeder das Idealbild seiner Geliebten aus seinen Beziehungen zur Mutter schafft.“4

In den ersten Jahren steht die Mutter-Kind-Beziehung für das Kleinkind an erster Stelle, die neuere Psychoanalyse spricht jedoch auch der Dreierbeziehung des Kindes mit beiden Eltern, welche ab der ödipalen Phase beginne, große Bedeutung zu. So kommt es neben der Rivalität des Kindes mit einem Elternteil um das andere Elternteil, in der heutigen

Gesellschaft auch immer öfter zur Rivalität der Eltern untereinander um das Kind mit dem Ziel, es an sich zu binden.5

Die Lerntheorie nach Gewirtz spricht der Mutter-Kind-Beziehung jedoch nicht diese herausragende Rolle zu, sie sei schlichtweg determiniert durch Konditionierung. Bindung wird hier als gelerntes Verhalten aufgrund von der sofortigen Reaktion der Mutter auf gewünschtes oder ungewünschtes Verhalten aufgefasst. Aber auch hier wird wieder betont, dass frühkindliche Bindung ein beidseitiger Prozess ist, in dem das Verhalten der Mutter auch durch die Stimuli, die sie vom Kind empfängt beeinflusst wird.6

2.2 Sigmund Freud

Freuds Theorie setzt bei dem Neugeborenen an. Dadurch dass das Kind früher auf die Welt kommt als bei den meisten Tierarten, sei es „unfertiger“ und daher umso mehr von den Gefahren der Umwelt bedroht und auf den Schutz durch diese angewiesen. Dabei nimmt die Mutter die entscheidende Rolle ein, sie schützt das Kind und ahmt gleichzeitig die Wärme des Mutterleibs nach. Die Mutter scheint die einzige Quelle der Bedürfnisbefriedigung zu sein, sie ernährt das Kind, gibt ihm Liebe, Geborgenheit, Wärme und Schutz. Die

Bedürfnisse des Kindes manifestieren sich zu einer Abhängigkeit und sorgen dafür, dass das Kind die Allmächtigkeit der Mutter verinnerlicht, die so genannte allmächtige Mutterimago.7

Das erste Sexualobjekt des Säuglings ist die Mutterbrust, die Wahl dieser Objektbeziehung ist anaklitisch, weil sie sich allein auf die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse bezieht. Später dehnt sich die Objektliebe auf die gesamte Mutter aus, die im weiteren Lebensverlauf,

4 Nietzsche zit. nach Adler 1966, S.245 5 vgl. Rebstock 1993, S.79

6 vgl. Meyer 1985, S.7

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wie bereits erwähnt, auch in Freuds Verständnis als primäre Liebe Vorbild für alle kommenden Liebesbeziehungen ist.8

In dieser ersten Lebensphase ist also der Mund des Kindes zuständig für sexuelle Befriedigung. Freud unterteilt die psychosexuelle Entwicklung des Kindes nach jenen

Organen, die für diese sexuelle Befriedigung genutzt werden. Nach der ersten oralen Phase folgen dann die anale Phase und die phallische Phase. Diese phallische Phase endet in der ödipalen Konstellation, ab der die weitere Entwicklung geschlechtsspezifisch verläuft.9 In der phallischen Phase hat der Junge sein Geschlechtsglied als Zentrum der Lust entdeckt, welches durch äußere Einwirkung stimuliert werden kann. Nun hat er das Verlangen sich mit seiner Mutter körperlich zu vereinen im Geschlechtsakt, insofern er davon schon eine

Vorstellung durch Beobachtungen und Deutung hat. Hierfür versucht er durch das Entblößen seines Penis, der bereits narzisstisch besetzt ist, die Mutter zu verführen. Die Eltern

versuchen dieses Verhalten oft zu unterbinden, dabei kommt dem Vater die Aufgabe zu, dem Jungen sexuelles Verhalten zu verbieten. Wenn der Junge bis dato schon einmal das

weibliche Geschlechtsorgan erblickt hat, wird er sich an dessen Aussehen erinnern und daraus schlussfolgern, dass auch ihm von dem Vater als Bestrafung für sein sexuelles Verlangen der Mutter gegenüber der Penis weggenommen werden könnte. Er entwickelt die Kastrationsangst, so bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, als die Objektliebe zur Mutter zu lösen, der Ödipuskomplex endet. Abgelöst wird diese Objektbeziehung durch die

Identifikation mit dem Vater. Durch dessen Autorität bildet sich das Über-Ich in dem Kind, in das die Normen und Werte der Gesellschaft verinnerlicht werden, so auch die

Geschlechtsrollen.10 Bei Mädchen hingegen führt das Erkennen des

Geschlechtsunterschiedes zum Penisneid. Sie macht ihre Mutter dafür verantwortlich, dass ihr dieses Geschlechtsglied fehlt, welches sie ihm genommen haben muss. In seinem Minderwertigkeitsgefühl wendet sich das Mädchen von der Mutter ab hin zu dem wichtigsten Menschen in ihrer Umgebung, der mit einem Penis ausgestattet ist, ihrem Vater. Hierin liegt der Ursprung der weiblichen Heterosexualität. Jedoch ist die Reaktion auf den fehlenden Penis keineswegs immer identisch, jedes Mädchen reagiert anders auf diese Erkenntnis und entwickelt sich somit auch anders.11

8 vgl. Meyer 1985, S.5 9 vgl. Rebstock 1993, S.74 10 vgl. Rebstock 1993, S.75f. 11 vgl. Meulenbelt 1988, S. 157f.

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Janine Chasseguet-Smirgel, hat sich intensiv mit dieser Theorie auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss, dass der Penisneid bezogen ist auf die Allmachtsstellung der Mutter. Trotz ihrer vielen Fähigkeiten fehlt ihr der Penis, sodass das Mädchen durch dessen Besitz ihre Mutter übertrumpfen könnte. Der Penisneid richtet sich bei ihr also nach der Intensität und Eindringlichkeit der Mutterimago.12

Aus dieser Konstellation leitet sich nach Freud auch der Wunsch des Mädchens nach eigener Mutterschaft insbesondere von einem Jungen ab.13Auch Chasseguet-Smirgel sieht

in der Geburt eines Kindes die Möglichkeit frühkindlichen unbewussten Inzestphantasien nahe zu sein. Die werdende Mutter kann zudem in der Schwangerschaft durch ihre

Verbundenheit mit dem Fötus die Verschmelzung mit ihrer eigenen Mutter wiedererleben und den Vater beziehungsweise das männliche Glied als Objekt in sich tragen. Ferenczi

hingegen widerspricht dieser Möglichkeit eines Mädchens die Einheit mit ihrer Mutter wiederzuerleben und nennt für Jungen die Gelegenheit, indem sie beim Koitus in das Weibliche eindringen. Eine Frau müsse sich um dies nachempfinden zu können mit dem Männlichen identifizieren.14

2.3 Bindungstheorie nach Bowlby

2.3.1 Grundlagen

Die Bindungstheorie nach John Bowlby besagt, dass das Kind in den ersten Lebensjahren eine Beziehung zur Mutter oder einem gleich bleibenden Mutterersatz benötigt, um seelisch gesund heranzuwachsen. Diese Beziehung soll konstant und von Zärtlichkeit und Nähe geprägt sein.15 Außerdem muss die Mutter feinfühlig für die Stimuli durch das Kind sein und auf diese angemessen reagieren. Erhält das Kind keine Reaktion auf seine Stimuli, wird es frustriert, dieses Gefühl wird regelmäßig wieder zu Tage treten, wenn das Kind an diese frühe Einsamkeit erinnert wird.16 Diese Mutter-Kind-Beziehung bildet die Basis für alle

weiteren Beziehungen und wird durch diese zum Beispiel zum Vater oder zu Geschwistern bereichert.17 12 vgl. Chasseguet-Smirgel 1988, S.25 13 vgl. Meulenbelt 1988, S.157f. 14 vgl. Chasseguet-Smirgel 1988, S.29f. 15 vgl. Bowlby 1985, S.11 16 vgl. Battegay 1991, S.27 17 vgl. Bowlby 1985, S.11

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Bowlby unterscheidet in seiner Bindungstheorie drei verschiedene Dimensionen. Dazu gehört das primäre Bedürfnis eines jeden Menschen nach innigen emotionalen

Beziehungen. Dieses ist angeboren und das grundlegende Streben des Kindes. Durch das Eingehen einer intensiven emotionalen Bindung mit den Eltern vertraut das Kind auf Schutz, Zuneigung und Beistand durch sie, welche laut Bowlby entscheidend für die seelische Entwicklung des Kindes sind noch vor den Bedürfnissen der Nahrungsaufnahme und sexuellen Befriedigung. Ein weiterer Faktor seiner Theorie ist der Einfluss der elterlichen Handlungsweise auf die psychische Entwicklung des Kindes. 18Darüber hinaus nennt er

noch die Entwicklungslinien. Vom Anfang unseres Lebens stehen uns vielfältige

Möglichkeiten offen, die durch den Einfluss der Umwelt unser Handeln determinieren. Das Kind wird somit zum aktiven Protagonisten, welcher nicht allein von Umwelteinflüssen gesteuert wird, sondern auf seine eigene Weise Dinge wahrnimmt und entscheidet, wie er darauf reagieren möchte. Diese zahlreichen Möglichkeiten werden sich mit dem Alter

dezimieren, die Entwicklungslinien dünnen sich auch, aber dennoch wird es immer Raum für Entscheidungen geben und somit ist auch im höheren Alter immer noch Veränderung

möglich.19

2.3.2 Bindungsstile

Die verschiedenen Bindungstypen wurden abgeleitet aus einer experimentellen Anordnung, der „Fremden Situation“, die von Mary Ainsworth und anderen erforscht wurde. Hierbei sind die Mutter und ihr Kind zusammen in einem Raum. Im weiteren Verlauf wird die Mutter das Kind mehrmals verlassen, sodass es mit einer Ersatzperson zusammen ist oder ganz alleine. Beobachtet wird das Verhalten des Kindes in Anwesenheit der Mutter, sowie bei der

Trennung und der Wiedervereinigung. Hieraus haben Ainsworth und Kollegen zunächst drei verschiedene Bindungstypen deduziert: die „sichere“, vermeidende“ und „unsicher-ambivalente“ Bindung.20 Die Bindung der Kinder kann sich auf die Mutter und den Vater

beziehen. Es ist aber auch möglich, dass ein Kind an beide Eltern unterschiedlich gebunden ist.21

Die „sicher“ gebundenen Kinder vertrauten stets auf den Beistand durch ihre Eltern in Krisensituationen und konnten durch die schützende Basis, die ihre Mutter in den ersten

18 vgl. Bowlby 2014, S.98 19 vgl. Bowlby 2014, S.110f. 20vgl. Bowlby 2014, S.8 21 vgl. Bowlby 2014, S.9

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Lebensjahren aufgebaut hat, frei explorieren. In der Interaktion der Mütter mit ihren Kindern war erkennbar, dass die Mütter feinfühlig für die Signale des Kindes waren und darauf liebevoll mit Schutz, Trost und Zärtlichkeit reagiert haben.

Die Kinder mit „unsicher-vermeidender“ Bindung haben erkannt, dass sie von ihren Eltern keinen Rückhalt erwarten können und dauerhaft oder wiederholend von ihrer Mutter abgelehnt werden, insbesondere in Angst- oder Stresssituationen. Folgen davon sind das Bestreben eigenmächtig zu handeln und sich nicht auf andere verlassen zu müssen. Der dritte von Ainsworth festgestellte Typus ist der der „unsicher-ambivalenten“ Bindung. Diese Kinder sind sich unsicher, ob sie auf die Unterstützung der Eltern vertrauen können und wenn ja, in welchem Umfang. Ursachen dafür liegen in wechselhaftem Verhalten der Eltern dem Kind gegenüber und dem Androhen oder Ausführen des Verlassens des Kindes. Dies führt dazu, dass die Kinder selten bis gar nicht explorieren, sondern sich an die Mutter „klammern“ und ständig befürchten allein gelassen zu werden.

Mary Main und andere haben eine vierte Gruppe festgestellt, die sich in keinen der drei bis dato festgestellten Bindungstypen einordnen lässt. Die Reaktion dieser Kinder auf ihre Mutter ist sehr vielfältig von Desorientierung, Verwirrung und Verstörtheit bis zu stereotypen Verhaltensweise und Regungslosigkeit. Nachgewiesene Ursachen für dieses

Bindungsverhalten sind frühe Misshandlungen, Missbräuche und starke Vernachlässigung, sowie eine psychische Störung beim Kind, die sich aufgrund einer psychischen Erkrankung der Mutter gebildet hat.22

Im Interview spiegeln Mütter, die Kinder haben, welche „unsicher“ gebunden sind, eine eigene seelisch belastende Beziehung zu ihrer Mutter wider oder sie bagatellisieren das Verhältnis und beschreiben es durchgehend als positiv, obwohl bei spezifischem Nachfragen zu bestimmten Situationen Antworten kommen, die auf etwas anderes hindeuten. Oftmals haben diese Mütter auch Erinnerungslücken aus ihrer Kindheit und widersprechen sich selbst in ihren Äußerungen. Dagegen können Mütter die früher selbst eine belastende Mutter-Kind-Beziehung erlebt haben und „sicher“ gebundene Kinder aufgezogen haben, differenzierter und reflektierter von ihrer Kindheit und den positiven wie auch negativen Erlebnissen berichten. Die Ursache hierfür ist in einer erfolgreichen Bearbeitung ihrer frühkindlichen Erfahrungen zu sehen.23

22 vgl. Bowlby 2014, S.101f. 23 vgl. Bowlby 2014, S.109

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2.4 Bedürfnisse des Kindes an die Mutter

Die Bedürfnisse des Kindes an die Mutter in den ersten Lebensjahren sind vielfältig. Die verschiedenen Autoren, deren Theorien über diese Bedürfnisse nun vorgestellt werden sollen, sind sich jedoch in einem Punkt einig: Sie widersprechen beziehungsweise

relativieren die hervorragende Bedeutung der Oralität, wie sie Freud beschreibt. Battegay und Rauchfleisch sehen neben dem oralen Aspekt der Mutter-Kind-Beziehung auch einen deutlichen Fokus auf taktile und visuelle Reize. Dem Kind wird durch die Körperwärme der Mutter das geborgene Milieu des Mutterleibs reproduziert. Erikson sieht die von Nähe und Wärme geprägten Lebensumstände als Voraussetzung für die Entwicklung des Urvertrauens des Kindes, welches nötig ist, damit dieses sich frei entfalten kann.24 Nach Ainsworth und

Bell bietet die Verlässlichkeit der Mutter die Basis für die sichere Beziehung, wobei

qualitative Nähe von größerer Bedeutung ist als quantitative Nähe.25Das Urvertrauen wird

sich nicht oder nur ungenügend ausbilden, wenn das Umfeld des Kindes kalt wirkt. Das Kind bedarf also auf der einen Seite der physischen Wärme, der Wärme des Körpers der Mutter, wenn sie ihn hält und die Wärme der Mutterbrust bei Stillen. Auf der anderen Seite ist das Neugeborene genauso angewiesen auf emotionale Wärme und Stimulation durch die Mutter.

26 Diese Stimulation erfolgt laut Stern und Beebe im Austausch von Mimik, Gestik, Blicken

und der Stimme zwischen dem Kind und der Mutter.27 Spitz deutet darüber hinaus die

Stimulation des Säuglings durch rhythmische Bewegungen etwa beim Wiegen als positiven Einfluss für seine Entwicklung.28

Für das Kind ganz entscheidend ist der Glanz in den Augen der Mutter und ihr Lächeln unabhängig von „falschem“ oder „richtigem“ Verhalten des Kindes. Wenn es sich

bedingungslos geliebt fühlt, kann es einen gesunden Narzissmus ausbilden. Im Gegenzug zu der Stimulation durch die Mutter gibt das Kleinkind wiederum Stimuli an sie zurück.29

Schaffer sieht in dieser Interaktion zwischen Kind und Mutter die Gelegenheit des Kindes Verhaltensweisen auszuprobieren, sodass die Reaktion der Mutter auf dieses Verhalten für das Kind prognostizierbar wird und es Schlüsse zwischen dem eigenen Handeln und den

24 vgl. Battegay 1991, S.16f. 25 vgl. Meyer 1985, S.21 26 vgl. Battegay 1991, S.17f. 27 vgl. Battegay 1991, S.19 28 vgl. Battegay 1991, S.21 29 vgl. Battegay 1991, S.19

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daraus entstehenden Folgen durch die Umwelt ziehen kann. Dafür muss die Mutter in der Interaktion einiges leisten können, was in der Interaktionsforschung „Responsivität“ genannt wird. Sie muss ihr Verhalten demnach den Bedürfnissen, der aktuellen Gefühlslage und der Entwicklungsstufe des Kindes anpassen und angemessen, sowie unmittelbar reagieren.30

Ab dem zehnten Lebensmonat kommt laut Jean Piaget noch das Bedürfnis hinzu sich auszuprobieren und die Umwelt zu entdecken, wobei die Mutter dem Kleinkind den nötigen Raum dazu lassen muss und gleichzeitig da sein für seine Rückkehr.31

Väter stehen zunächst im Schatten der frühen Mutter-Kind-Bindung, jedoch sind sie oft besser dazu in der Lage dem Kind in der Explorationsphase den nötigen Freiraum zu lassen. Oftmals sind sie jedoch sehr selten verfügbar und dem Kind wenig nahe. Die ideale

Konstellation wäre in diesem Fall, dass der Vater selbst eine Beziehung zum Kind aufbaut und gleichzeitig die Mutter entlastet um in eine gute Mutter-Kind-Beziehung zu investieren. Abgesehen davon sollte er den Kontakt zur „Außenwelt“ für die Mutter halten.32

Maaz nennt darüber hinaus einige Grundkompetenzen, die eine Mutter haben sollte um die Bedürfnisse ihres Kindes zu befriedigen. So sollte sie verfügbar für das Kind sein, gerade in den ersten Lebensmonaten begreift das Kind sich und seine Mutter noch als verschmolzen. Die Trennung von der Mutter kommt in seinem Verständnis also dem Tod gleich. Darüber hinaus wird auch hier nochmal betont, dass nicht nur körperliche Anwesenheit, sondern auch emotionale Anwesenheit wichtig ist, also das Wahrnehmen der Stimuli des Kindes und die Interaktion mit dem Kind.33 Ein weiteres Grundbedürfnis ist die Empathie der Mutter, sie soll

schwingungsfähig für die Gefühle des Kindes sein. Dabei sind die Handlungen nicht vorrangig, sondern die unbewusste, verinnerlichte Einstellung der Mutter dem Kind

gegenüber. Sie soll sich selbst reflektieren um ihre Schwächen zu akzeptieren und dem Kind respekt- und verständnisvoll gegenüberzutreten. Ansonsten kann es passieren, dass die Mutter ihr Kind in die Richtung drängt, die für sie selbst am besten aushaltbar ist.34Als dritte

Kompetenz der Mutter nennt Maaz die Befriedigungsfähigkeit. Das Kind hat seine Vorstellung von der allmächtigen Mutter, die ihm immer und sofort all seine Bedürfnisse befriedigen kann. Die Mutter soll dabei bereit sein dem Kind zu geben. Natürlich wird das Kind an einem gewissen Punkt lernen müssen, dass nicht immer seine Bedürfnisse zeitnah

30 vgl. Meyer 1985, S.20 31 vgl. Battegay 1991, S.18 32 vgl. Battegay 1991, S.21 33 vgl. Maaz 2004, S.45f. 34 vgl. Maaz 2004, S.47f.

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und absolut befriedigt werden können. Aber dieser Erkenntnisprozess kann für das Kind gut ablaufen, wenn die Mutter sich bemüht ihm alles zu geben, was sie kann und ihm

bedingungslos zu geben, sodass sie nicht auf eine Gegenleistung wie Zuneigung besteht.35

Weiterhin soll die Mutter im Stande sein, das Kind an den Punkten zu begrenzen, an denen für das Kind eine reale Gefahr droht, die das Kind noch nicht wahrnehmen kann. So wird das Kind lernen Grenzen seiner Umgebung und seiner Mitmenschen zu akzeptieren. Die

Begrenzungen sollten immer aus Liebe vorgenommen werden, weil es dem Schutz des Kindes dient.36Frühe Lerntheorien wie nach Sears und Whiting behaupten hingegen, dass

das sekundäre Bedürfnis des Kindes nach Interaktion und Geborgenheit nur aus der Befriedigung primärer Bedürfnisse wie der Nahrungsaufnahme entstehe.37

2.5 Das Lebensskript der Tranksaktionsanalyse

Berne beschreibt die Skripttheorie der Transaktionsanalyse indem er sagt, dass das Kind seinen eigenen „Lebensplan“ schon in der Kindheit entwickelt inklusive einem Schlussteil. Es wird sich dann im weiteren Verlauf seines Lebens so verhalten, dass es diesen Schluss erreicht. Das Lebensskript wird dabei beeinflusst durch die Umgebung des Kindes aber auch durch seine aktiven Entscheidungen.38

Die Eltern haben großen Einfluss auf die Skriptentscheidungen des Kindes, sie vermitteln ihm bestimmte „Skriptbotschaften“, die dann in das Lebensskript übernommen werden können.39Jedoch sind diese „Skriptbotschaften“ auch immer abhängig von der subjektiven

Wahrnehmung durch das Kind.40Die Botschaften können dabei verbal aber auch durch

nonverbale Signale wie Mimik und Gestik vermittelt werden, sowie direkt, wenn die Eltern mit dem Kind reden und indirekt, wenn die Eltern zum Beispiel mit jemandem anderes über das Kind reden.41

Das Lebensskript des Kindes wird geprägt durch die Vorbildfunktion der Eltern. So

beobachtet das Kind die Interaktion der Eltern untereinander, mit dem Kind und mit anderen

35 vgl. Maaz 2004, S.49 36 vgl. Maaz 2004, S.50 37 vgl. Meyer 1985, S.6 38 vgl. Stewart/Joines 2015, S.152f. 39 vgl. Stewart/Joines 2015, S.154 40 vgl. Stewart/Joines 2015, S.188 41 vgl. Stewart/Joines 2015, S.191ff.

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Dritten. Dann prüft es seine daraus gewonnenen Thesen in der Realität durch Nachahmen und Ausprobieren. Kinder haben jedoch noch nicht das komplexe Denkvermögen eines Erwachsenen um immer „realistische“ Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern beziehen aus den beobachteten Situationen die Informationen, die für sie in ihrer Denkweise logisch sind.

42Grundlegend für negative Entscheidungen in der Frühkindheit sind laut Bob und Mary

Goulding dabei vor allem zwölf Botschaften, die durch die Eltern vermittelt werden, die so genannten „Bann-Botschaften“. Diese können als Erlaubnis formuliert sein und somit dem Kind die freie Entscheidung überlassen. Häufig werden sie jedoch als Verbote vermittelt, sodass sie verbindlich gelten und das Kind in seiner freien Entfaltung einschränken.43

Berne sagt jedoch, dass es am Ende immer noch die Möglichkeit der freien Entscheidung gibt. Das Kind macht sich zwar einen Plan vom Verlauf seines Lebens, aber das Leben kann immer noch anders verlaufen als geplant. Denn es ist durch mehr determiniert als nur durch das Skript, nämlich auch durch das Erbgut, die äußeren Gegebenheiten und eben durch die eigenen Entscheidungen. So kann der Mensch sich immer noch verändern, wenn er sich dazu entschließt.44

2.6 Geschwisterkinder

Die Erziehung bei erst- und zweitgeborenen unterscheidet sich nach Rothbart häufig. Die Mutter identifiziert sich demnach mehr mit dem ersten Kind, sodass sie höhere Ansprüche hat und auch schneller von ihm enttäuscht wird. Schachter betont, dass bei allen nicht erstgeborenen Kindern die Gegebenheiten schon klarer sind, da die Mutter bereits

mindestens ein Kind aufgezogen hat. Somit fühlt sie sich sicherer und weniger belastet durch Ängste und kann somit gelassener erziehen. Maccoby unterstreicht diese Gelassenheit in der Erziehung Zweitgeborener oder späterer Kinder, da die Mütter zudem noch die großen Geschwister zur Beschäftigung der kleinen Kinder heranziehen könnten.45

Die Untersuchungen von Thoman und anderen haben gezeigt, dass Mütter sich mehr Zeit für die Erstgeborenen nehmen und sie häufiger dynamisch, durch Wiegen, taktil und akustisch stimulieren.46 In Laskos Studie wurden hingegen die Zweitgeborenen mehr von der Mutter

42 vgl. Stewart/Joines 2015, S.190f. 43 vgl. Stewart/Joines 2015, S.200 44 vgl. Stewart/Joines 2015, S.175 45 vgl. Meyer 1985, S.24f. 46 vgl. Meyer 1985,S.26

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bestärkt, erhielten mehr Hilfe und emotionale Wärme und wurden weniger kontrolliert als die Erstgeborenen.47

2.7 Mögliche Schädigung der psychischen Entwicklung des Kindes

Schon die Haltung der Mutter gegenüber dem Kind in der Schwangerschaft, ob sie sich auf das Kind freut oder es nicht will, hat nach Battegay Auswirkungen auf die psychische Entwicklung des Kindes. So kann der Stress des Verlustes des Partners durch Tod die werdende Mutter laut Huttunen und Niskanen so sehr belasten, dass häufiger psychische Störungen der Kinder auftreten, als wenn der Vater nach der Schwangerschaft verstirbt. Die innere Einstellung der Mutter gegenüber ihrem Kind wird sich in fehlender emotionaler Wärme äußern, sodass das Kind höchstens teilweise Selbstsicherheit entwickeln kann.48

Und das obwohl Adler äußert, dass das Kind durch die Anwesenheit von großen, mächtigen Erwachsenen grundsätzlich schon der Gefahr ausgesetzt ist, sich selbst als minderwertig einzustufen. Durch dieses Minderwertigkeitsgefühl ist es ihm nicht möglich sich den

kommenden Aufgaben unbefangen zu stellen. Das Problem in der Erziehung an dieser Stelle ist häufig, dass das Kind noch zusätzlich von den Eltern mit zu vielen Aufgaben überfordert wird, wodurch sich das Gefühl ungenügend zu sein nur weiter manifestieren wird.

Destruktives Verhalten der Eltern, wie das Kind nicht ernst zu nehmen, es auszulachen und ihm zu zeigen, dass es keine eigenständige Person mit Rechten ist, sondern zu gehorchen hat, wird dieses Gefühl noch weiter steigern. Bei Menschen, die in ihrer Kindheit ausgelacht wurden, kann für immer eine tiefe Angst ausgelacht zu werden, zu finden sein. Ebenso verheerend ist es, wenn die Eltern ihre Kinder anlügen, sodass diese nie jemanden Vertrauen können, sondern immer Misstrauen empfinden. Aus dem beschriebenen

Minderwertigkeitsgefühl kann sich das lebenslange Streben nach Aufmerksamkeit und Macht entwickeln.49Die Minderwertigkeitsgefühle aus der Frühkindheit begleiten den Menschen

sein Leben lang, sodass er davon überzeugt ist in einer Welt ohne Liebe zu leben.50

Dem Machtstreben des Menschen entgegenzuwirken ist sehr schwer, weil es in einer Zeit entsteht, in der sich Kinder nur sehr wenig mitteilen können und selbst wenn sie sich mitteilen können, versuchen schon Kinder ihre Machtphantasien hinter guten Absichten zu

47 vgl. Meyer 1985, S.27 48 vgl. Battegay 1991, S12f. 49 vgl. Adler 1966, S.72f. 50 vgl. Adler 1966, S.79

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verstecken. Die beste Methode dem zu begegnen ist in dem Kind früh einen

Gemeinschaftssinn zu wecken, sodass der Wunsch nach Macht nicht die Überhand gewinnt.

51Diesen Gemeinschaftssinn kann die Mutter wecken. Wenn sie dazu jedoch nicht in der

Lage ist, wird das Kind in Zukunft jeden als feindlich ansehen. Doch auch Adler sieht die Möglichkeit einer späteren Veränderung: indem jemand die Aufgaben der Mutter übernimmt, kann der erlittene Mangel gebessert werden. Die Mutter kann jedoch auch ihrer Aufgabe gerecht werden und es übertreiben, sodass das Kind das Gemeinschaftsgefühl gekoppelt an die Mutter betrachtet und es nicht auf andere Menschen übertragen kann.52Darüber hinaus

wirkt sich nach Germaine Guex auch die Angst verlassen zu werden negativ auf die Entwicklung des Kindes aus. So resultieren daraus unstillbare Bedürfnisse nach

Anerkennung und Liebe. Aber woher kommt diese Angst? Zum einen kann sie das Resultat realer Mutterentbehrung sein (siehe Mutterentbehrung), andererseits gibt es Kinder, die die Wärme, die ihnen angeboten wird, nicht erleben können, so etwa bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung.53 Kohut definiert das wie folgt: laut dem Strukturmodell der Psyche

besteht die Psyche aus drei Instanzen, dem Ich, dem Es und dem Über-Ich. Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit führt zu einer narzisstischen Störung im Selbst. Dieses Selbst bezieht sich wiederum auf alle drei Instanzen. Nun gibt es aber Menschen die eine Störung im Ich haben, sodass sie die Zuwendung durch ihre Umwelt nicht wahrnehmen können oder unterbewusst nicht wahrnehmen wollen. Auf dem gestörten Ich kann sich dementsprechend auch kein gesundes Selbst entwickeln.54 Bei einem gesunden Ich kann

das Kind dennoch durch den Einfluss der Eltern ein gestörtes Selbstbild entwickeln. Eine gefährdende Verhaltensweise der Eltern wäre laut Bowlby auch das Drohen mit

Liebesentzug, dies führt beim Kind zu Versagensängsten und Schuldgefühlen. Außerdem sehen psychisch labile, hilflose Eltern manchmal nur noch das Mittel der

Selbstmordandrohungen, ob direkt dem Kind gegenüber ausgesprochen oder indirekt im Streit mit dem Partner. Weiterhin gibt es noch Eltern, die bestreiten etwas gesagt oder getan zu haben, obwohl das Kind Recht hat. Dieses Leugnen kann beim Kind zu tiefem

Misstrauen, Zweifeln und Schuldgefühlen führen.55

Manche Eltern drohen ihren Kindern auch, dass sie sie verlassen werden, um sie sich gehorsam zu machen. Die Kinder werden so ihren Anforderungen nachkommen, weil ihnen

51 vgl. Adler 1966, S.75 52 vgl. Adler 1966, S.246 53 vgl. Battegay 1991, S.25 54 vgl. Battegay 1991, S.43ff. 55 vgl. Bowlby 2014, S.119ff.

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psychisch gesehen keine andere Wahl bleibt. Die Folgen sind Depression und

Angstzustände56, wobei sich diese in psychischen Erkrankungen manifestieren können, um

die Eltern von dem Verlassen abzuhalten und an sich zu binden.57

Hans-Joachim Maaz berichtet von Müttern, deren eigene Bedürftigkeit durch die Mutter nie gestillt worden ist. Dadurch sind sie nicht in der Lage ihrem Kind die Liebe zu geben, die es braucht. Sie täuschen sie ihm also nur vor und erwarten dafür die unbedingte Liebe des Kindes um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Männer in ähnlicher Konstellation versagen in ihrer Vaterrolle, weil sie eifersüchtig auf die Mutter-Kind-Bindung sind.58Diese

unehrliche Mütter- oder Väterlichkeit überträgt dem Kind die Verantwortung für die Befriedigung eigener Bedürfnisse beziehungsweise für die Unzufriedenheit, wenn die Bedürfnisse nicht gestillt werden. Das Kind, welches primär abhängig von der Mutter ist, kann darauf mit dem Abstoßen der Mutter reagieren. Die narzisstischen Bedürfnisse des Kindes nach unbedingter Liebe steigen, diese versucht es im Erwachsenenalter wieder an seinen Kindern zu befriedigen. Somit kann dieses Muster von Generation zu Generation weitergegeben werden.59 Eine andere Reaktion des Kindes wäre, dass es sich für die Mutter

verantwortlich fühlt und das bis ins Erwachsenenleben.60

Die Tragik ist, dass all diese seelischen Verletzungen des Kindes für die Eltern oft unerkannt bleiben. So denken sie vielleicht, dass sie alles richtig machen und ihr bestes für die

psychische Entwicklung des Kindes tun, in Wirklichkeit aber ihr Kind emotional

vernachlässigen oder es mit übersteigerten Erwartungen unterdrücken. Grundsätzlich ist die Verantwortung für die frühkindliche Schädigung bei den Eltern zu suchen, jedoch kann man ihnen nicht die Schuld daran geben, außer sie vernachlässigen ihr Kind bewusst. Viele Eltern können aufgrund sozialer Gegebenheiten nicht anders handeln oder nehmen es einfach nicht bewusst wahr, welchen seelischen Schaden sie ihren Kindern zufügen. In diesen Fällen stehen im Mittelpunkt einer therapeutischen Behandlung nicht die Gefühle wie Wut und Enttäuschung auf die echten Eltern sondern auf die verinnerlichte Elternrepräsentanz.61

56 vgl. Bowlby 2014, S.87 57 vgl. Bowlby 2014, S.24 58 vgl. Maaz 2004, S.25 59 vgl. Maaz 2004, S.63 60 vgl. Maaz 2004, S.65 61 vgl. Maaz 2004, S.8f.

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2.8 Mutterentbehrung

Wenn es an der geborgenen, sicheren Mutter-Kind-Beziehung fehlt, wird das von Bowlby „Mutterentbehrung“ genannt. Diese kann auf verschiedenen Ebenen zustande kommen, auch wenn das Kind bei der Mutter oder Mutterersatzperson lebt, aber nicht die Zuneigung von ihr erhält, derer es bedürftig ist. Dies und zum Beispiel zeitweise Trennung von der Mutter nennt Bowlby dann „partielle Deprivation“, die zu intensivem Hass, Angstzuständen, Depression und übersteigertem Bedürfnis nach Zuneigung führen kann. Mit der „totalen Deprivation“ hingegen fehlt dem Kind die Mutter oder der stetige Mutterersatz komplett, so wie es im Krankenhaus oder der Heimunterbringung der Fall ist. Die „totale Deprivation“ kann zu einem kompletten Verlust der Beziehungsfähigkeit führen.62

Die Folgen der „Deprivation“ können im ersten Lebensjahr noch abgewendet werden durch den stetigen Mutterersatz. Im zweiten und dritten Lebensjahr hingegen wird ein neuer Mutterersatz häufig vom Kind abgelehnt. Es verfällt dann bei andauernder Trennung von der Mutter in Verzweiflung, die sich in Schreien und der Ablehnung von Nahrung, Nähe und Schlaf äußern kann. Darauf folgt eine Zeit der „Apathie“, der absoluten Ruhe, die oft fehlgedeutet wird als „brav sein“. Anschließend kann das Kind seine neue Umgebung explorieren. Hierbei kann es jedoch zu rückschrittigem Verhalten kommen, wie dass das Kind nicht spricht und sich nicht selbstständig fortbewegt oder einnässt. Somit ist

aufgeregtes, lautes Verhalten nach der Trennung „normal“ und „Apathie“ deutet auch krankhaftes Verhalten hin.63Kurzfristige Trennungen von der Mutter können Kinder im

zweiten oder dritten Lebensjahr hingegen schon ohne offensichtliche Folgen überstehen. Bei längerfristiger Trennung jedoch verlieren sie womöglich ihre Bindung und zeigen

geschildertes Verhalten. Außerdem kann es zur Ablehnung der Mutter bei ihrer Rückkehr oder Ablehnung aller Beziehungen in Verbindung mit Symptomen der „Apathie“ und

Kopfschlagen kommen oder zum „Klammern“ an der Mutter oder allen verfügbaren Personen führen.64Darüber hinaus hat die lange Unterbrechung der Mutter-Kind-Beziehung auch

noch Einfluss im Erwachsenenalter, so kann derjenige in seinen Gefühlen und seiner Beziehungsfähigkeit gehemmt sein, auch wenn er äußerlich scheinbar genau das Gegenteil ist und sich gesellig präsentiert. Da diesen Kinder die Gefühle anderer Menschen relativ

62 vgl. Bowlby 1985, S.11f. 63 vgl. Bowlby 1985, S.24f. 64 vgl. Bowlby 1985, S.26f.

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gleichgültig sind, haben auch Anweisungen oder Bestrafung keinen dauerhaften Einfluss auf sie.65

Diese Gleichgültigkeit zeigt sich also bei durchgängiger „Deprivation“. Aber auch wenn das Verlassensein ständig unterbrochen wird, kann das Kind ambivalente Gefühle seiner Umwelt gegenüber entwickeln, sodass es zwischen einer positiven und einer negativen

Lebenseinstellung hin- und herschwankt.66

Bowlby meint, dass die „partielle Deprivation“ der „totalen Deprivation“ vorgezogen werden sollte, indem er betont, dass selbst sehr schlechte Mütter ihren Kindern viel geben wie Nahrung, Sicherheit, Trost und Geborgenheit. Trotz aller Kritik an ihrem Erziehungsstil hat das Kind in dieser Konstellation eine feste Bezugsperson, von der es sich geliebt und versorgt fühlt. Daher sei es besser die Frühkindheit in einer schlechten Familie, als in guter Fremdunterbringung zu erleben.67Diese Behauptung ist zwar nicht bewiesen, doch zeigt der

Gedankengang den grundlegenden Fakt, dass gar keine Familie schlimmer ist als eine schlechte Familie.68

2.9 Exkurs: sexueller Missbrauch

Nach Alice Miller gibt es Väter, die in ihrer Tochter eine erwachsene Frau sehen und sie deshalb als sexy und verführerisch erleben. Negativen Einfluss darauf hat auch, dass Männer oft Zärtlichkeit als weiblich ablehnen und erotische Anziehungen sofort als genitalen Trieb verstehen können. Außerdem haben einige Männer gelernt, dass sie das Recht auf den Besitz eines Frauenkörpers hätten und damit alle Frauen in ihrer Umgebung, vor allem aber ihre Frau und Töchter ihrer Gewalt unterstellt sind. Somit ist die Möglichkeit da, dass sie ihre Töchter sexuell missbrauchen. Diese wollen selbstverständlich Zuneigung von ihrem Vater und fühlen sich hinterher oft schuldig. Folgen von sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie können ein gestörter Narzissmus, ein verschobenes Erleben von Sexualität,

Misstrauen gegenüber anderen Personen und dem Konstrukt der Liebe, sowie

Berührungsängste sein. Auch wenn es nicht zum äußersten kommt, sind erotische Gefühle

65 vgl. Bowlby 1985, S.35 66 vgl. Bowlby 1985, S.40 67 vgl. Bowlby 1985, S.70 68 vgl. Bowlby 1985, S.71

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des Vaters für seine Kinder höchst problematisch und können sich als Bann-Botschaft manifestieren.69

Bei sexuellen Übergriffen durch den Vater kommt außerdem hinzu, dass das Kind sich diesem nur schwer entziehen kann und dass ihm unter Umständen nicht geglaubt wird, wenn es sich zum Beispiel der Mutter anvertraut. Oft ist es sogar so, dass die Mütter den Täter noch decken und abstreiten, dass jemals etwas Ähnliches vorgefallen sein könnte. Da diese Männer meistens wie ganz normale Familienväter wirken, wird tendenziell eher an der Glaubwürdigkeit des Opfers gezweifelt, was die Verletzung nur umso schlimmer macht. Im Brigitte-Buch „Als Kind missbraucht“ werden die missbrauchenden Väter charakterisiert. Sie seien selten für ihre Familie da und sehen sie als ihr Eigentum an, mit denen sie demzufolge auch umgehen könnten, wie sie es wollen. Sie sind schnell genervt von den Kindern und frauenverachtend. Außerdem bringen sie sich bloß durch Machtausübung in ihrer Familie ein, die sich dann auch in Form von sexueller Gewalt äußern kann. Kavemann und Löhstöter bestätigen diese Einschätzung durch Aussagen von Vätern, die ihre Kinder sexuell

missbraucht haben, in Therapiegruppen. So äußern sie ihre Besitzansprüche auf die Mutter und Kinder, vor allem auf die Töchter.70 Einer behauptete etwa: „Sie ist meine Tochter, und

das gibt mir das Recht, mit ihr zu machen, was ich will“71Außerdem zeigen sich bei

missbrauchenden Vätern häufig auch keine Empathiefähigkeit, die feste Verbindung von sexuellem Kontakt mit Gewalt, Widersprüche zwischen Selbstbild und ihrem Verhalten, sowie dem absoluten Vorrang eigener Bedürfnisse vor denen anderer.

Die Reaktion von Mädchen und Jungen auf sexuellen Missbrauch können sich, so Gloer und Schmiedeskamp-Böhler, stark unterscheiden. So gibt es einige Männer mit eigenen

Missbrauchserfahrungen, die selber zum Missbrauchenden werden und zu aggressivem Verhalten neigen. Mädchen versuchen die Missbrauchserfahrungen hingegen oft mit autoaggressiven, selbstzerstörerischen Handlungen zu bearbeiten.72

69 Vgl. Meulenbelt 1988, S.129f. 70 vgl. Rebstock 1993, S.38 71 Rebstock 1993, S.38 72 vgl. Rebstock 1993, S.39

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3 Die

Geschlechtersozialisation

3.1 Zeitliche Entwicklung bis zur Entdeckung des

Geschlechtsunterschiedes

Zur Geschlechtsidentität eines Neugeborenen gibt es nach Schmauch zwei unterschiedliche Ansätze. Der erste Ansatz geht von einer geschlechtsneutralen Frühkindheit aus, das

Geschlecht sei demnach in den ersten Lebensjahren unwichtig. Das erste Lernmodell ist für alle Kinder die Mutter und somit weiblich, später ab der phallischen oder ödipalen Phase beginnt dann die Zweiteilung der Geschlechtsrollen.73 Unterschiede zwischen den

Geschlechtern im Kleinkindalter, also der präödipalen Phase entstehen ausschließlich durch die Einstellung der Eltern zu den verschiedenen Geschlechtern.74Der zweite Ansatz sieht

von Geburt an die Entwicklung des Kindes unter dem Einfluss seines Geschlechts. Hierunter fällt vor allem die differentielle Psychologie, die die Physiologie und Psychologie in der Geschlechtsentwicklung untersucht und behauptet, dass gewisse Verhaltensweisen auf biologische Anlagen zurückzuführen sind.75

Mahler und andere datieren den Zeitraum, in dem sich das Kleinkind langsam ablöst und seine eigene Individualität entdeckt zwischen dem fünften Lebensmonat und dem

vollendeten dritten Lebensjahr. Zwischendurch komme es vom 15. bis 22. Lebensmonat zur „Wiederannäherungsphase“, in der eine neue Bedürftigkeit an die Mutter zum Vorschein kommt. In dieser Zeit wird auch der biologische Geschlechtsunterschied entdeckt, wodurch es ab dann zu verschiedener Entwicklung der Geschlechter kommt. Andererseits berichten sie auch von den angeborenen Geschlechtsunterschieden, wie sie die differentielle

Psychologie untersucht, und nennen als Beispiele hierfür die motorische Orientierung der Jungen und die Neigung zu einer depressiven Grundeinstellung der Mädchen. 76

73 vgl. Schmauch 1993, S.11f. 74 vgl. Schmauch 1993, S.14 75 vgl. Schmauch 1993, S.16 76 vgl. Schmauch 1993, S.21f.

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3.2 Verschiedene Theorien zur Geschlechtersozialisation

3.2.1 Lerntheorie

Die Lerntheorie nach Walter Mischel unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Ansätzen, wie das Kind geschlechtsspezifisches Verhalten erlernt. Zum einen lernt das Kind diese, indem seine Umwelt es für „richtiges“, dem Geschlecht angemessenen Verhalten belohnt und für „falsches“ Verhalten bestraft. Andererseits lernt das Kind auch selbst durch

Beobachten und Nachahmen der Geschlechtsrollen in seiner Umwelt.77 Der Lernprozess

durch Verstärkung erwünschter und Unterdrückung unerwünschter Verhaltensweisen nennt sich instrumentelles Lernen, welches demnach zu differentiellen Sozialisation des Kindes führt. Die Belohnung und Bestrafung kann dabei sowohl bewusst wie auch unbewusst erfolgen und gezielt oder ungezielt eingesetzt werden.78

Der zweite Ansatz in der Lerntheorie ist der des Lernens am geschlechtsspezifischen Modell nach Bandura. Hier beobachtet das Kind ein geschlechtsgleiches Modell und imitiert dann seine Handlungen und Äußerungen, dadurch übernimmt es seine Vorgehensweise ohne für jede einzelne Tat verstärkt oder bestraft zu werden. Jedoch wird dieser aktive Lernprozess beeinflusst durch stellvertretende Verstärkung, das heißt, dass das Vorbild selbst das Kind für gewisses Verhalten belohnt.79

3.2.2 kognitive Entwicklungstheorie

Nach der kognitiven Entwicklungstheorie von Lawrence Kohlberg treten Kinder ständig in einen Erkenntnisprozess mit ihrer Umwelt, sie versuchen diese zu verstehen und sich zu erschließen. So erkennen sie auch, dass sie zu einem Geschlecht gehören und teilen sich die Welt in männlich und weiblich ein.80 Die Existenz der unterschiedlichen Geschlechter

erkennt das Kind schon relativ früh. Ab dem vierten Lebensjahr kann es sich dann zu einer der beiden zuordnen, diese Zuordnung kann sich jedoch auch noch ändern. Mit vier Jahren unterscheidet das Kind dann männliche und weibliche äußere Merkmale wie Kleidung und Haarschnitt. Im darauf folgenden Jahr wird das äußere Bild vom Kind durch Eigenschaften ersetzt, die stereotyp für die Geschlechter sind, wie die Aggressivität und Macht der Männer und die Fürsorge der Frauen. Nun übernimmt das Kind seine gesammelten Informationen, indem es die Geschlechtsgleichheit mit einer nahen Bezugsperson zum Beispiel dem Vater feststellt und sich dadurch mit seinem Geschlecht identifiziert. Das Kind ist in dieser Theorie

77 vgl. Meulenbelt 1988, S.99f. 78 vgl. Rebstock 1993, S.82 79 vgl. Rebstock 1993, S. 83 80 vgl. Meulenbelt 1988, S.100

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also nicht bloßes Ergebnis von Umwelteinwirkungen, sondern erfährt aktiv seine

Geschlechtsrolle.81Jedoch bewahrheitet sich diese Theorie oft ausschließlich bei Jungen, da

laut Brown ein großer Anteil der Mädchen, wenn sie es sich selber aussuchen könnten, lieber mit typisch männlichen Spielsachen spielen würde.82

3.2.3 Rollentheorie

Die Rollentheorie von Talcott Parsons bezieht sich auf den Sozialisationsraum der engen Familie, also die Eltern und ihre Kinder. Hier lernt das Kind sich an gesellschaftlich geltende Normen und Werte anzupassen, wozu auch die Geschlechtsrollen gehören. Das Erbgut spielt dabei keine Rolle, das Kind erlernt eine Geschlechtsidentität anhand von Identifikation und Verinnerlichung. Dabei sind die Phasen dieser Entwicklung sehr ähnlich zu denen Freuds. In der ersten Phase erlebt sich das Kind noch als geschlechtsneutral. Der oft abwesende Vater hat hier kaum Einfluss, die Beziehung und die Abhängigkeit des Kindes von der Mutter sind zentral. Im nächsten Abschnitt, der primär ödipalen Phase entscheidet nach Parsons nicht „Penisneid“ oder „Kastrationsangst“ über die weitere Entwicklung des Kindes, sondern der Druck zur Findung der Geschlechtsrolle durch die Eltern, der besonders vom Vater ausgeübt wird. Er drängt den Sohn die enge Beziehung zur Mutter

zurückzulassen und sich dem Männlichen anzuschließen. So identifiziert sich das Kind mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und lernt in der Dreierbeziehung zu Mutter und Vater anhand ihrer Rollen im Familiengefüge seine eigene Geschlechtsrolle, die es dann

internalisiert. Die weibliche Rolle der Mutter ist demnach oft für die innerfamiliären

Tätigkeiten zuständig, sie erzieht die Kinder, vermittelt bei Konflikten und gibt unbedingte Liebe, während die männliche Rolle des Vaters häufig auf , Machtausübung und autoritäres Handeln ausgelegt ist, sodass seine Liebe eher an die Erfüllung von Pflichten und

Anweisungen geknüpft ist. Verstärkt werden die Rollen wieder wie beim instrumentellen Lernen durch positive und negative Verstärker des sozialen Umfelds.83

3.2.4 Sigmund Freud

Auch die Theorie Freuds soll hier noch einmal kurz zusammengefasst werden. Er geht davon aus, dass das Kind bisexuell auf die Welt kommt und die Mutter als wichtigste Bezugsperson in dieser Zeit sein erstes Liebesobjekt wird. Seine Geschlechtsidentität wird sich erst

ausbilden, wenn es den genitalen Unterschied zwischen den Geschlechtern entdeckt, womit die ödipale Phase beginnt. Das Kind hat dabei aktiv-männliche und passiv-weibliche

81 vgl. Rebstock 1993, S.86ff. 82 vgl. Meulenbelt 1988, S.100 83 vgl. Rebstock 1993, S.91ff.

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Eigenschaften.84 In der ödipalen Konstellation verarbeitet das Mädchen seinen „Penisneid“

und der Junge seine „Kastrationsangst“. In der Mutter-Vater-Kind Dreierbeziehung identifiziert sich das Kind nun mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil.85

3.3 Besonderheiten in der Sozialisation von Mädchen

Nach einer Befragung von Frauen nach der Entbindung, die durchgeführt wurde von Ann Oakley, waren 44% aller Frauen enttäuscht, dass sie eine Tochter geboren haben, hingegen waren nur 3% der Mütter enttäuscht, die eine Sohn zur Welt gebracht haben. Somit beginnt das Leben für fast die Hälfte aller Mädchen schon als Enttäuschung für ihre Mutter.86

Aufgrund eigener Sozialisationserfahrungen behandeln Mütter ihre Kinder unterschiedlich anhand des Geschlechts. Nach Jane Flax erkennen sich Mütter demnach oft in ihren Töchtern wieder und wollen ihre eigenen Gefühle auf sie projizieren, sodass Mädchen von Geburt an lernen, sich über Beziehungen zu definieren.87 Daher haben Frauen, so Lillian

Rubin, häufig weit reichende emotionale Beziehungsnetzwerke, in denen sie nach der Intimität der frühen Mutter-Kind-Beziehung suchen.88Auch in erotischen Gefühlen spiegelt sich dieser Wunsch nach engen emotionalen Bindungen wider, indem viele Frauen Erotik als Bestandteil von Liebe einordnen und sexuelle Erregung ausschließlich als Wunsch nach einer Beziehung erleben.89

Im Gegensatz zu den Müttern bestehen Väter nach Scheu des Öfteren auf ein konformes Rollenverhalten der Kinder. Mehrfach flirten jedoch die Väter mit ihren Töchtern und sehen sie als erwachsen an, sodass diese lernen könnten, dass sie Zuneigung von ihrem Vater bekommen können, wenn sie sich anziehend präsentieren. Ann Oakley fordert deshalb die Väter auf ihre Töchter ernst zu nehmen und sich mit ihnen als Vater und Tochter zu

beschäftigen, sodass auch männlichen Sozialisation auf das Kind einwirken kann.90 Häufig erhalten die Mädchen jedoch zu wenig Zuwendung, sodass sich bei ihnen ein gestörter

84 vgl. Meulenbelt 1988, S.156ff. 85 vgl. Meulenbelt 1988, S.97f. 86 vgl. Meulenbelt 1988, S.105 87 vgl. Meulenbelt 1988, S.187 88 vgl. Meulenbelt 1988, S.199 89 vgl. Meulenbelt 1988, S.200 90 vgl. Meulenbelt 1988, S.112

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Narzissmus ausprägt, der durch das Fehlen von Selbstliebe und der ständigen Suche nach Anerkennung von anderen gekennzeichnet ist.91

Den Töchtern wird laut Alfred Adler nicht selten von Anfang an vermittelt, dass sie

minderwertiger als ihr männliches Pendant und nicht für anstrengende Tätigkeiten gemacht seien. Als Kind können sie die Zuschreibungen ihres Umfelds noch nicht auf den

Wahrheitsgehalt prüfen und nehmen es als gegeben hin. Sodass die weibliche Unfähigkeit mehr oder weniger zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird, da das Mädchen in den Gebieten, in denen ihm nichts zugetraut wird, entmutigt ist oder gleich gar kein Interesse dafür aufbringen kann. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, betont auch Adler wieder, dass es unerlässlich ist, seine Kinder mit Respekt zu behandeln.92

In der „Wiederannährungsphase“, die bereits im Abschnitt „Zeitliche Entwicklung bis zur Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes“ erläutert wurde, entdeckt das Mädchen nach Schmauch, dass ihm der Penis fehlt. Dafür macht sie dann ihre Mutter verantwortlich, da sie ihr das Glied nicht geschenkt hat, so beherrschen Schuldzuschreibungen und Enttäuschung diese Phase. Schmauch 1993, S.24 Es gibt verschiedene Theorien dazu wie die Tochter diesen Mangel ausgleichen möchte. So sagt Stoller, dass sie sich das Gebären eigener Kinder besonders von Jungen wünschen wird.93 Nach Helene Deutsch wird die Frau sich

aufgrund des unterlegenen Geschlechtsorgans unbewusst nach Gewalt und Demütigung durch ihren Sexualpartner sehnen.94

3.4 Besonderheiten in der Sozialisation von Jungen

Dass Mütter ihre Kinder nicht geschlechtsneutral behandeln wurde schon erläutert. Nach Jane Flax ist es deshalb so, dass Söhne von ihrer Mutter selbstständiger wahrgenommen werden und nicht so lange festgehalten werden wie die Töchter. Daher können sich Jungen über ihre Eigenständigkeit definieren.95In Beziehungen suchen Männer, so Lillian Rubin,

daher oft nach anderen Männern mit denen sie Freundschaften schließen, um sich

91 vgl. Schmauch 1993, S.20 92 vgl. Adler 1966, S.122f. 93 vgl. Meulenbelt 1988, S.98 94 vgl. Meulenbelt 1988, S.161f. 95 vgl, Meulenbelt 1988, S.187

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zumindest äußerlich von der Intimität in Beziehungen, die für Frauen typisch ist, zu distanzieren.96

Jungen werden nach Mitscherlich-Nielsen unbedingter von ihrer Mutter akzeptiert und geliebt, sodass sie einen gesunden Narzissmus ausbilden könnten. Wenn die Mutter

hingegen ihren Sohn abstößt für seine Männlichkeit, kann ihn das zu tiefem Hass gegenüber ihr und aller anderen Frauen führen.97 Mahler und andere deuten die

„Wiederannäherungsphase“ für Jungen als angstbesetzt, da sie fürchten ihre

Selbstständigkeit einzubüßen und wieder mit ihrer Mutter zu verschmelzen. Ihre Lösung dafür ist oft, dass sie sich von den Ich-Idealen der Mutter lösen und sich eigene suchen.98

Meulenbelt sieht Männer grundsätzlich als Gegner der Frauen an, da sie Angst haben, die Frauen könnten eigenständig werden. So beherrschen und unterdrücken sie ihre Frauen, da sie aus eigener Unsicherheit keine starke Frau an ihrer Seite aushalten könnten.99

Eine weitere Schwierigkeit für Jungen ist, dass sie laut Ruth Hartley selten eine Vorstellung davon bekommen wie Männer sich verhalten, denn der Vater ist nur wenig verfügbar und auch in der Betreuung außerhalb der Familie treffen sie zumeist nur weibliche Personen an.

100Männlichkeit wird dann als das Gegenteil des Weiblichen definiert, also selbstständig zu

leben, aber Nähe und Verbundenheit abzulehnen, sowie dem Wunsch eine Frau zu besitzen, die nur einem selbst gehört.101

Da für Jungen reale Vorbilder fehlen, greifen sie auf Medien zurück, wo meistens sehr stereotype Eigenschaften der Männlichkeit dargestellt werden.102 Das Männliche wird dann

mit Macht gleichgesetzt, was laut Adler dem Jungen mit Minderwertigkeitsgefühlen die Möglichkeit bietet sein Machtstreben zu erreichen, indem er sich männlich verhält. Dabei ist zunächst der Vater der Repräsentant von Männlichkeit und Macht. Er kommt und geht scheinbar, wie es ihm beliebt und er ist die Autorität der Familie und versorgt diese.103

Männer versuchen also ihr Minderwertigkeitsgefühl durch Macht auszugleichen, dies zeigt

96 vgl. Meulenbelt 1988, S.199 97 vgl. Schmauch 1993, S.20 98 vgl. Schmauch 1993, S.23f. 99 vgl. Meulenbelt 1988, S.87 100 vgl. Meulenbelt 1988, S.113 101 vgl. Meulenbelt 1988, S.188 102 vgl. Meulenbelt 1988, S.113 103 vgl. Adler 1966, S. 116f.

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sich, so Maaz, auch in Liebesbeziehungen, die sie dominieren wollen und sich gleichzeitig emotional distanzieren. Da Zärtlichkeit und Vertrauen bedrohlich für dieses Selbstbild sind, reduzieren manche Männer die Beziehung auf die sexuelle Angezogenheit, damit ihre eigentliche Bedürftigkeit nach Liebe und Geborgenheit nicht zum Vorschein kommt.104

Nach Sigmund Freud hat der Junge, wenn er erkennt, dass den Mädchen der Penis fehlt, Angst, dass ihm ähnliches geschehen könnte und der Vater als Rivale um die Liebe der Mutter ihn kastrieren wird. Somit gibt er seine Mutter als erstes Liebesobjekt auf und sucht sich später eine eigene Frau, die er besitzt und nicht mit dem Vater teilen muss. Er

identifiziert sich im weiteren Verlauf mit seinem ursprünglichen Rivalen, dem Vater. Dadurch haben Männer meist ein größeres Gerechtigkeitsempfinden und Ehrfurcht von Autoritäten.105

Wenn der Sohn sich mit seinem Vater identifiziert, um eines Tages eine Frau für sich selbst zu haben und trotzdem eine gute Beziehung seiner Mutter hat, dann ist sein Penis nach Chasseguet-Smirgel narzisstisch besetzt, aber auch gewisse Vorzüge von Frauen sind für den Jungen narzisstisch besetzt zum Beispiel ihre Brüste oder ihre Fähigkeit Kinder zu kriegen. So entwickelt er sich zu einem Mann, der jedoch seine eigene Weiblichkeit integriert hat und das Weibliche nicht ablehnt. So kann er gesunde Liebesbeziehungen mit Frauen eingehen, die er respektvoll behandeln kann. Hat der Junge jedoch eine schlechte

Beziehung zu seiner Mutter sind unter Umständen die weiblichen Eigenschaften für ihn nicht narzisstisch besetzt, sondern nur das männliche Geschlechtsglied. Er wird wahrscheinlich seine Weiblichkeit nicht integriert haben und weibliche Elemente an sich aber auch an anderen ablehnen. Dadurch steckt er in einem Dilemma, denn er lehnt die Weiblichkeit in sich ab und damit auch die Homosexualität, jedoch durch das Ablehnen der Mutter und aller Frauen wendet er sich dem Vater und den Männern zu. Freud sagt dazu, dass jeder Mann in seiner Kindheit Verachtung für Frauen empfindet durch deren Mangel eines Penis, dies sei notwendig für die Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität und eines gesunden Narzissmus. Doch diese Verachtung sollte in einem normalen Rahmen vorhanden sein, so wird sie sich im Erwachsenenalter vor allem im Beschützerinstinkt Frauen gegenüber manifestieren. Nach Chasseguet-Smirgel entwickelt sie sich jedoch zu einer ausgeprägten Verachtung, wenn die Mutterimago mächtig und schreckenerregend für den Jungen ist.106

„Die Verachtung beim Erwachsenen ist niemals „normal“ und verrät, dass er sich seines Selbstwerts nicht sicher ist.“107Nach Meulenbelt können jedoch auch die negativen Gefühle

104 vgl. Maaz 2004, S.18 105 vgl. Meulenbelt 1988, S.158

106 vgl. Chasseguet-Smirgel 1988, S.19ff. 107 Chasseguet-Smirgel 1988, S.21

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der eigenen Mutter gegenüber vom erwachsenen Mann auf seine Schwiegermutter übertragen werden. Dies hat zudem noch den Effekt, dass er seine Ablehnung für die

Bindung seiner Frau, die er alleine besitzen will, an ihre Mutter darin versteckt zum Ausdruck bringen kann.108

3.5 Theorie von Nancy Chodorow und Dorothy Dinnerstein

Nancy Chodorow schließt sich dem Ansatz von John Bowlby an, dass das Kind bei einer konstanten Ersatzmutter genauso gut aufwachsen kann wie bei seiner eigenen Mutter, denn die biologische Mutterschaft bedarf nur noch weniger Monate, danach beginnt die soziale Mutterschaft die auch ohne Beteiligung der biologischen Mutter ablaufen kann.109Für

Chodorow steht im Mittelpunkt der kindlichen Entwicklung der präödipale Lebensabschnitt. Hier besteht das Umfeld des Kindes vor allem aus weiblichen Personen, sodass Mädchen in einer geschlechtsgleichen Umgebung aufwachsen, Jungen jedoch häufig nicht. Zunächst lebt das Neugeborene in einer symbiotischen Verbundenheit mit seiner Mutter110 und der

Umwelt, sodass es seine eigenen Grenzen nicht spürt. Nach Nancy Chodorow und Dorothy Dinnerstein bedarf der Säugling, bevor er selbstständig werden kann, intensiver Betreuung. Zum einen werden durch die Mutter die Grundbedürfnisse befriedigt, aber sie lehrt dem Kind auch Kultur, indem sie es mit Sprache, der Umwelt und Beziehungen in Kontakt bringt.111

Außerdem stillt sie seine Bedürfnisse nach Schutz, Wärme und Liebe. Umso schlimmer ist es für das Kleinkind wenn die Mutter abwesend ist. Durch Trennung von der Mutter und ihre Rückkehr merkt das Kind aber auch, dass die Mutter unabhängig von ihm existiert, sodass sich sein „Selbst“ herausbildet und die Beziehung zur Mutter nun die erste Art der

Objektbeziehung wird. Dadurch ist dieser Prozess jedoch auch mit der Enttäuschung über die Trennung behaftet.112

Wenn das Kind realisiert hat, dass die Mutter eine eigenständige Person ist, die es umsorgt, verinnerlicht es die allmächtige Mutterfigur. In dieser frühen Lebensphase sieht sich das Kind als Mittelpunkt der Welt an. Außerdem differenziert es noch nicht zwischen Gefühlen und seiner Person, sodass das Kleinkind das jeweilige aktuelle Bedürfnis ist, welches gestillt werden soll. Es versteht noch nicht, dass die Mutter nicht immer seine Bedürfnisse stillen

108 vgl. Meulenbelt 1988, S.193f. 109 vgl. Meulenbelt 1988, S.175 110 vgl. Rebstock 1993, S.97ff. 111 vgl. Meulenbelt 1988, S.177 112 vgl. Rebstock 1993, S. 99

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kann beziehungsweise allen Schmerz von ihm abwenden kann. In dieser Zeit entwickelt sich auch das Ich-Gefühl des Kindes, wobei es verinnerlicht, ob es sich erwünscht und geliebt fühlt oder nicht.113Darauf folgt die „Separationsphase“, also die langsame Ablösung von der

Mutter. Das Kind bewegt sich dabei ein Stück weg von ihr und kehrt wieder zurück. In dieser Phase entwickelt sich das Bedürfnis nach Selbstständigkeit. In dieser Phase kann viel schief gehen, sodass sich das Kind nicht optimal entwickeln kann. Wenn die Mutter das Kind sehr einschränkt und ihm nicht seinen Freiraum lassen kann, ist es möglich, dass es für immer Angst vor engen Bindungen hat. Und wenn die Mutter nicht für die Rückkehr des Kindes da ist und es zu viel alleine lässt, hat es womöglich lebenslange Angst vor dem

Verlassenwerden und dass es keiner liebt.114 Außerdem befindet sich das Kleinkind in der

„Separationsphase“ in einem Zwiespalt zwischen seinen eigenen Wünschen nach Einheit und Geborgenheit sowie nach Selbstständigkeit. Jungen werden dabei meist stärker von ihren Müttern zur Eigenständigkeit gedrängt und treten früher in die ödipale Phase ein.115

Kinder wollen ihre allmächtige Mutter für sich alleine haben, sie müssen jedoch erkennen, dass die Mutter unabhängig von ihnen eigene Bedürfnisse und Beziehungen hat, sodass das Kind sie mit anderen teilen muss.116 Das Kind wird sich ewig nach dieser ersten,

besonderen Liebe sehnen.117Auf lange Sicht wollen Jungen, weil sie gemerkt haben, dass

ihre Mutter nicht nur ihnen gehört, eine Frau besitzen. Aufgrund der Erfahrungen in den ersten Lebensjahren wird von Frauen oft erwartet, dass sie fürsorgliches Verhalten zeigen müssten, deshalb neigen Männer auch dazu es Frauen zu verübeln, wenn sie eigenständig handeln.118

Nach Chodorow und Dinnerstein identifiziert sich das Baby schon vor der Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes mit seinem Geschlecht. Sie stimmen in den meisten Grundlagen jedoch mit den Ansichten Sigmund Freuds überein, wobei sie es als eine aktuelle durch die Gesellschaft determinierte Lage sehen. Der Vater ist oft abwesend und die Mutter zieht die

113 vgl. Meulenbelt 1988, S.177 114 vgl. Meulenbelt 1988, S.178 115 vgl. Rebstock 1993, S.99f. 116 vgl. Meulenbelt 1988, S.184 117 vgl. Meulenbelt 1988, S. 178 118 vgl. Meulenbelt 1988, S.184

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Kinder groß, wenn es jedoch in diesem Gefüge Veränderungen gibt, entstehen daraus auch andere Machtverhältnisse in der Dreierbeziehung.119

Da der Vater nicht verfügbar ist, definieren Jungen Männlichkeit als das „nicht weibliche“, somit lehnen sie oft Nähe ab und haben Schwierigkeiten emotionale Beziehungen

einzugehen, obwohl es eigentlich das ist, wonach sie sich seit der frühen Liebe zu ihrer Mutter sehnen. Beziehungen von Frauen mit Männern reaktivieren diese frühen Gefühle weniger, da Frauen dazu tendieren emotionale Beziehungen mit Frauen zum Beispiel Freundinnen einzugehen und mit Männern erotische Beziehungen zu führen.

Nichtsdestotrotz suchen Frauen genauso wie Männer nach den erlebten Gefühlen der ersten Liebe zur Mutter und suchen diese auch in Liebesbeziehungen mit Männern, wobei sie nicht selten darin enttäuscht werden. Sie schaffen sich ein breiteres Netzwerk an emotionalen Beziehungen mit anderen Frauen oder Kinder und streben nach Nähe und Zuneigung. Auch Männer sehnen sich danach, wollen dies aber nur selten ihrer Umwelt zeigen.120Sie finden

in einer Beziehung mit einer Frau zwar die Gefühle ihrer primären Liebe zur Mutter wieder, aber auch die Ängste, die damit verbunden sind, verlassen oder dominiert zu werden. Der Wunsch des Mannes seine Frau zu besitzen und für sich alleine zu haben ist schon früh verankert in der Versorgung der Jungen durch die Mutter, wodurch die Männer lernen, dass sie das Recht haben von Frauen umsorgt zu werden. Diese unbewussten Bedürfnisse stehen oft nicht im Verhältnis zu der kognitiven Einstellung der Männer, in der sie durchaus der Frau ihre Selbstständigkeit zugestehen können. 121

Frauen haben ihre Weiblichkeit dagegen mehr verinnerlicht, dadurch dass sie sich zwar von der Mutter löst, aber da die Mutter gleichen Geschlechts ist, ist dieser Bruch weniger absolut. Deshalb brauchen sich Frauen ihre Weiblichkeit weniger zu beweisen. Während Männer ständig bemüht sind sich selbst und allen anderen zu zeigen wie männlich sie sind, indem sie Konkurrenzkämpfe eingehen, die sowohl sportlicher Natur sein können, aber auch in Gewalt ausagiert werden können.122 „Ganz gleich wie unsicher Frauen auch immer auf

gesellschaftlichem Gebiet sein mögen, in diesem Punkt sind sie stabiler.“123

119 vgl. Meulenbelt 1988, S.172f. 120 vgl. Meulenbelt 1988, S.190f. 121 vgl. Meulenbelt 1988, S.192 122 vgl. Meulenbelt 1988, S.198 123 Meulenbelt 1988, S. 198

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