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Archiv "Sozialgesetzgebung im Wandel" (10.06.1983)

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Sozialgesetzgebung im Wandel

Heinrich Schipperges

Mit dem „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbei- ter", das am 15. Juni 1883, vor hundert Jahren also, verkündet wurde, ist jene soziale Gesetzgebung, die 1881 durch die kaiserli- che Botschaft angekündigt worden war, erstmals in die Tat umge- setzt worden. Es folgten das Unfallversicherungsgesetz (1884) und das Gesetz über die Invaliditäts- und Alterssicherung (1889). Die erste umfassende Gesetzgebung der Welt zur Sicherung der Arbeitnehmer war damit im wesentlichen geschaffen. Im Jahre 1911 wurden diese drei Gesetze zu einem einheitlichen Gesetzes- werk zusammengefaßt, das bis zum heutigen Tag seine Gültigkeit behielt: der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die RVO wurde am 19. Juli 1911 verkündet. Sie ist bis heute das maßgebende Gesetzeswerk auf dem Gebiet der Sozialversicherung geblieben.

Hundert Jahre Sozialgesetzgebung sind auch ein Anlaß — prinzi- pieller als in den letzten hundert Jahren — zu einer kritischen Befragung: Was hat sich gewandelt, was hat Bestand?

Die Information:

Bericht und Meinung THEMEN DER ZEIT

Das Gesetz über die Krankenversi- cherung der Arbeiter von 1883 geht einher mit einem Paradigma- wechsel der Medizin, gekenn- zeichnet in erster Linie durch:

O den mit dem neuen Jahrhun- dert sich anbahnenden Panora- mawandel der Krankheiten,

© die ständig zunehmende Aus- weitung des Krankheitsbegriffs und der Normenvorstellungen und

® das völlig neue Verhältnis zwi- schen „gesund" und „krank", wie es mit der Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre festgelegt wurde.

Krisenfelder der Medizin

Das alles war—vor hundert Jahren

— lediglich gedacht für kaum 10 Prozent der notleidenden Bevöl- kerung, der unterprivilegierten Po- pulationen, und es ist heute nahe- zu totalisiert worden zu einem kompletten Netz der sozialen Si- cherung, einem geschlossenen System der gesetzlichen Kranken- versicherung, in dem man sich nur noch „krank meldet" (und dann beginnt die Patientenkarriere) oder „gesund geschrieben" wird

(und dann steht man wieder im Arbeitsprozeß). Verlorenging da- mit die zwischen den Grenzphäno- menen von „Gesundheit" und

„Krankheit" vermittelnde dritte Kategorie, die „neutralitas" der al- ten Ärzte, jenes gewaltige Über- gangsfeld eines „ne-utrum", wo man nicht eigentlich krank ist, aber auch nicht ganz dabei, wo der Arzt als Lebenskünstler, als der „Zeuge der großen und klei- nen Szenen des Lebens", noch seine Chance hatte, ehe man in so brutal dazu verdonnerte, mit sei- nem Krank- und Gesundschreiben zum „Kesselflicker des Kapitals"

zu werden.

Eingewebt in dieses soziale Netz wurden — zweitens — aber auch die Krankheiten selbst, „Krankheit", worunter man vor hundert Jahren noch den ätiologisch abgesicher- ten und spezifisch zu therapieren- den Organdefekt verstand, wäh- rend heute jede psychische und soziale Devianz als krankhaft gilt und zu einer kaum noch zu lei- stenden Belastung der Leistungs- kataloge unserer Versicherungs- anstalten geführt hat und damit in ein von Jahr zu Jahr wachsendes

Dilemma. Krankheit galt im Sinne der alten Krankenversicherung als

„ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der Behandlungs- bedürftigkeit und/oder Arbeitsun- fähigkeit zur Folge hat". Das war sehr allgemein gefaßt und dürfte kaum Anspruch auf eine wissen- schaftliche Definition haben. Aus der „Behandlungsbedürftigkeit"

ist inzwischen eine „Behandlungs- fähigkeit" geworden, die dem An- spruch auf Versorgung Tür und Tor geöffnet hat. Jede Abwei- chung vom gängigen Leitbild der gesunden Norm kann heute — so nach dem Bundessozialgericht 1967 — als ein „regelwidriger Kör- per- oder Geisteszustand" aufge- faßt werden.

Unmittelbar damit verbunden ist — drittens — der seit der Mitte unse- res Jahrhunderts so dramatisch vor sich gehende Panoramawan- del der Krankheiten, dokumentiert durch die Beherrschung der aku- ten Infektionskrankheiten und das Hereinbrechen von chronischen Wohlstandsseuchen (Herzinfarkte, Karzinome, Unfälle, Verschleiß- krankheiten). Wir werden es ge- gen Ende der achtziger Jahre be- reits nahezu ausschließlich mit chronisch Kranken zu tun haben,

mit Langzeitpatienten und Mehr- fachgeschädigten, Invaliden auf dem Schlachtfelde der Zivilisation, die — neben einer immer intensiver werdenden kurativen Notfallmedi- zin — flankierende Strategien einer Vorsorge und Nachsorge notwen- dig machen.

Im Zuge aller quantitativen Ent- wicklungen bei zunehmend quali- tativer Verkümmerung sehen wir uns am Ausgang des 20. Jahr- hunderts mit einer Lebensfrage konfrontiert, die alle Bereiche menschlicher Existenz ergriffen hat und immer herausfordernder Programme eines Umweltschut- zes, der Lebensqualität, der Hu- manisierung der Arbeitswelt und Freizeit, der Gesundheitsvorsorge und der Gesundheitsbildung auf den Plan gerufen hat, alles in al- lem: die Frage einer neuen Ge- sundheitsökonomik. Die Gesund- Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 23 vom 10. Juni 1983 21

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Die Information:

Bericht und Meinung

Sozialgesetzgebung im Wandel

heitsökonomie greift so heiße Ei- sen auf wie: die Frage nach der Effizienz des „Gesundheitswe- sens", das eigentlich nur ein Kran- kenversorgungswesen ist, die Fra- ge nach der Kostentransparenz in den Großinstitutionen des Kran- kenhauses, der Praxis, der Ge- sundheitsdienste, die damit ver- bundene Kosten-Nutzen-Analyse, aber auch das Problem der Effekti- vität der medizinischen Mittel und Maßnahmen, nicht zuletzt auch der Effizienz der ärztlichen Ausbil- dung und Fortbildung.

Entwicklung

der Versicherungsleistungen Damit kommen wir nun konkreter auf die versorgungsrechtlichen Leistungen und die damit verbun- denen Belastungen zu sprechen.

Während im Jahre 1960 noch 20 Prozent des Bruttosozialproduk- tes für Sozialleistungen erbracht wurden, waren es 1980 schon über 30 Prozent. Auf den Kopf der Be- völkerung umgerechnet sind diese

Leistungen fast um das Siebenfa- che (von 1100 DM auf über 7000 DM) gestiegen, während das Brut- tosozialprodukt im gleichen Zeit- raum nur um das Vierfache ge- wachsen ist. Der gesamtwirt- schaftliche Produktionsfortschritt hat sich in den 70er Jahren deut- lich verlangsamt; ein abrupter Rückgang der Wachstumsraten steht mit den 80er Jahren zu er- warten. Mit dem Rentenanpas- sungsgesetz (1977) kam es zudem zu einer recht gefährlichen Koppe- lung von Krankenversicherung (GKV) und Rentenversicherung (GRV), die — aufgrund des „Gene- rationenvertrages" der Solidarge- meinschaft — den Aktiven eine zu- sätzliche Belastung erbrachte, zu- mal die produktive Schicht bei ver- längerter Ausbildungsphase und frühzeitiger Invalidisierung immer schmaler wird.

Hinzu traten weitere strukturelle Veränderungen und Erweiterun- gen. In der Krankenversicherung wurde nach 1949 die Versicherung der Rentner neugeordnet. Ab 1957 wurde für erkrankte Arbeiter das

erhöhte Krankengeld und ein Zu- schuß seitens des Arbeitgebers eingeführt. Seit 1970 sind bei Krankheiten die Arbeiter den An- gestellten gleichgestellt; für die Dauer von sechs Wochen wird beiden der Lohn weitergezahlt.

Das Recht der Krankenversiche- rung wurde 1970 mit der Anhe- bung und Dynamisierung der Ver- sicherungspflichtgrenze weiter- entwickelt. 1975 wurde die Kran- kenversicherungspflicht für Stu- denten eingeführt.

Die explosionsartige Kostenent- wicklung zwischen 1970 und 1975 ist zum Teil auf die neueren ge- setzlichen Bestimmungen und ins- besondere auf die Bundespflege- satz-Verordnung von 1973 zurück- zuführen, nach der die Kranken- häuser einen pauschalen Pflege- satz erhalten, während früher viele Einzelleistungen — wie Operatio- nen und Medikamente — einzeln berechnet wurden. Kosten im Krankenhaus und damit Pflegesät- ze zu beeinflussen, stellt insofern ein besonders großes Problem dar, als im Krankenhaus 80 Pro- zent der Gesamtkosten fixe Ko- sten sind, die in der Praxis nicht beeinflußt werden können. Den bei weitem größten Teil der ge- samten Betriebskosten stellen mit etwa 70 Prozent die Personal- kosten dar.

Das ständig verbesserte Lei- stungsangebot des Krankenhau- ses machte natürlich eine stärkere personelle Besetzung erforderlich (insbesondere im ärztlichen und pflegerischen Bereich). Zwischen 1970 und 1975 wirkten sich aber auch noch andere Faktoren aus, die als Folge arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Bestimmun- gen die Personalkosten in die Hö- he trieben. Hier seien nur andeu- tungsweise die wichtigsten dieser Faktoren genannt: die Verkürzung der Arbeitszeit (und damit höherer Personalbedarf); ein erheblicher Anstieg der Tarifgehälter; die An- passung der Besoldung der Pfle- gekräfte an das allgemeine Ein- kommensniveau; die Anhebung der Überstundenvergütungen auf-

grund von Tarifvereinbarungen;

eine höhere Vergütung des Bereit- schaftsdienstes (vor allem für die Ärzte), ferner die volle tarifliche Bezahlung von Ordensschwestern (die vorher ein geringes „Mutter- hausgeld" erhalten hatten) sowie die weitgehende Substitution von Ordensschwestern durch freie Schwestern.

Die Ausgaben der alle Bereiche umfassenden Sozialversicherung betragen zur Zeit mit rund 800 Mil- liarden DM mehr als 15 Prozent des Bruttosozialproduktes. Dieses aber umfaßt nicht nur den Wert des Volkseinkommens, sondern auch alle Güter und Dienstleistun- gen, die einen Marktwert besitzen.

Das Bruttosozialprodukt ist somit ein recht ausgewogener Gradmes- ser für die Leistungsfähigkeit ei- ner Volkswirtschaft. Es zeigt in un- serem Falle aber auch die wach- sende Bedeutung eines sozialen Sicherungssystems, das sich in den letzten hundert Jahren immer wieder den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten anzupas- sen vermocht hat. Dieses Netz der sozialen Sicherheit betreut heute mehr als 95 Prozent der Bevölke- rung. Seine Strukturen bilden ei- nen Grundbestand unserer Gesell- schaftsverfassung; seine Funktio- nen bestimmen weitgehend das soziale Klima unseres Landes und seiner Zukunft.

Sämtliche Bereiche der Sozialpoli- tik haben sich innerhalb weniger Generationen grundlegend geän- dert, wobei die Rolle der sozialen Politik als der wesentlichen Deter- minante der Einkommensvertei- lung und Gesundheitssicherung kaum schon abzuschätzen ist. Die Bereiche der sozialen Politik sind längst nicht mehr als Sonderspar- ten (Armenpflege, Fürsorgewesen usw.) aufzufassen; sie berühren alle Gruppen und Gliederungen der Gesellschaft, belasten damit auch alle Bereiche der Wirtschaft, verhindern deren Wachstum am empfindlichsten. Und es steht kaum zu erwarten, daß nach einer kritischen Übergangszeit das Sy- stem omnivalenter Sozialhilfe ab- 22 Heft 23 vom 10. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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gelöst werden könnte durch "eine neue Ära der Selbsthilfe" (Achin- ger, 1971).

Gleichwohl haben wir einen Trend prospektiver Sozialpolitik gerade in dieser zu erwartenden Ära der Selbsthilfe zu sehen, die allein wohl auch zu einer einschneiden- den Entlastung der wirtschaftli- chen Basis unseres Versorgungs- und Versicherungssystems führen könnte, will man nicht das heute schon drohende Reißen des Net- zes sozialer Sicherheit zum Äußer- sten kommen lassen.

Die Kritik an dieser Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) konn- te nicht ausbleiben; sie erstreckt sich vor allem auf folgende nach- teilige Wirkungen:

...,.. Das Versicherungssystem er- zieht seine Schützlinge zur Un- mündigkeit und läßt die Bereit- schaft zur Selbstverantwortung verkümmern.

...,.. Der von diesem System erzielte Effekt steht in einem ungünstigen Verhältnis zur Höhe des Aufwan- des, den es erfordert.

...,.. Das System begünstigt das Kranksein und schwächt den Wil- len zum Gesundsein und Gesund- werden; der Krankenstand wird künstlich gezüchtet (Sozialenque- te-Bericht, 1966).

Alternative Möglichkeiten der sozialen Sicherung

Als Alternative zu diesem System einer ausschließlichen Kranken- versicherung wären Strukturen ei- ner mehr positiv orientierten Ge- sundheitssicherung ins Feld zu führen, die uns auf die Dauer zu einer ausgewogeneren Äquilibrie- rung verhelfen könnten. Im alter-

nativen Gleichgewicht von Kran-

kenversicherung und Gesund- heitssicherung erst könnte sich ein System herausbilden, das der Solidarität gerecht wird, aber auch der Selbsthilfe größere Freiheits- räume gewährt. Die Möglichkeiten alternativer Versorgungseinrich-

tungen wie auch positiver Ge- sundheitssicherungen sind in der Bundesrepublik Deutschland viel zu wenig genützt worden, wie aus einer aktuellen Übersicht des Eu- roparates hervorgeht (Schicke, 1978). Die organisatorische Tren- nung zwischen dem Krankenhaus und dem ambulanten Sektor erfor- dert um so größere Anstrengun- gen zu Koordination und Koopera- tion. ln 1972 formulierten, 1977 er- weiterten "Thesen zur Reform der Struktur der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes sowie über die Zusammenarbeit zwi- schen den Ärzten in freier Praxis und im Krankenhaus" fordert der 80. Deutsche Ärztetag u. a. folgen- des: "Ambulante und stationäre Versorgung müssen lückenlos in- einandergreifen". Die Anpassung an die sich verändernden Bedürf- nisse im Rahmen der Gesund- heitsversorgung setzt ein sensiti- ves pluralistisches Versorgungs- system voraus. Diese Anpassung sollte das Morbiditäts- und Morta- litätspanorama berücksichtigen, das stichwortartig mit: größerem Anteil der chronischen Krankhei- ten, Unfällen (verkehrs- und kar- diovaskulären), Trends in der ex- trainstitutionellen, gemeindena- hen Versorgung psychisch Kran- ker, rehabilitativen Übergangsein- richtungen charakterisiert werden soll (Schicke, 1978).

Bei den modernen Überlegungen zur Weiterentwicklung der Sozial- versicherung wird in der Regel da- von ausgegangen, daß die Gliede- rung in Kranken-, Unfall-und Ren- tenversicherung erhalten bleibt, zumal die "Einheitsversicherung"

keinen Ausweg aus dem ökonomi- schen Dilemma verspricht. Bei al- len Reformgesetzen ist ein Aus- dehnungsprozeß in bezug auf den Personenkreis wie auch die Sach- leistungen' deutlich zu erkennen, mit der unausgesprochenen Ten- denz, Renten- und Krankenversi- cherung den Charakter einer all- gemeinen "Volksversicherung" zu verleihen. Die sozialen Schutzein- richtungen müssen folgerichtig ausgebaut werden, so daß zu Recht auch von einer "Volksversi-

Die Information:

Bericht und Meinung Sozialgesetzgebung im Wandel

cherungserwartung" gesprochen werden kann. Vor allem beim Krankheitsbegriff ist eine Offen- heit auch von seiten des Gesetzge- bers zu erkennen, der offensicht- lich nicht nur den Wandlungen im medizinischen, sondern auch im sozialen Bereich Rechnung trägt.

Die Tendenz geht augenscheinlich dahin, daß sich die "Rechtsnatur der Krankenversicherung" von ei- ner reinen Versicherung gegen Krankheit gelöst hat und sich ent- wickelt auf eine Institution zur Si- cherung der Gesundheit. Gleich- wohl will man am "Versicherungs- prinzip" festhalten, um zu vermei-

den, daß der bisherige Beitrag ab-

gelöst wird von einer zweckge- bundenen Steuer, die dann aller- dings als Zwangsabgabe zur Be- treibung eines Finanzbedarfs öf- fentlich-rechtlicher Zwecke ge- wertet werden müßte (Gitter, 1975).

Die Sozialwissenschaft, und in zu- nehmendem Maße auch eine Me- dizinische Soziologie, haben sich denn auch gerade in jüngster Zeit eindringlich mit den anthropolo- gischen Hintergründen der sozia- len Sicherheit auseinandergesetzt Die entscheidende Frage bleibt, ob das Verhältnis von Sicherheit und Unsicherheit - langfristig ge- sehen - überhaupt verändert wer- den kann. Kann Sicherheit - so wird gefragt - auf die Dauer nur durch Verzicht auf Fortschritt er- kauft werden? Alle Sicherung un- serer privaten Lebensverhältnisse erscheint unheilvoll verquickt mit einer Verunsicherung der Öffent- lichkeit, etwa auf den Gebieten der Umwelt oder der Arbeitswelt. Be- wußtes Leben in Freiheit scheint überdies kaum möglich ohne Un- gewißheit, und damit ohne Risiko und Gefahr. ln keinem Lebensbe- reich kann es letzten Endes eine garantierte Sicherheit geben.

Wir haben Prioritäten zu suchen und zu setzen angesichts eines bleibenden Antagonismus zwi- schen der Initiative des Individu- ums und einer Verantwortung durch die Gesellschaft. Als leiten- de ideologische Direktiven gelten Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 23 vom 10. Juni 1983 23

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Die Information:

Bericht und Meinung

Sozialgesetzgebung im Wandel

dabei das Prinzip der Subsidiarität („Was der Mensch selbst tun kann, soll ihm nicht durch gesell- schaftliche Tätigkeit abgenom- men werden") und das Prinzip der Solidarität („alle für einen, d. h. für jeden einzelnen, aber ebenso ei- ner, jeder einzelne, für alle") mit dem Ziel einer Äquivalenz beider Prinzipien, einer Äquilibrierung von Eigenverantwortung und So- zialversorgung.

Ausblick

auf die Medizin von morgen Wir sollten den kritischen Rück- blick nicht beschließen ohne ei- nen Ausblick, wie wir auch die Perspektiven der Sozialgesetzge- bung immer begleitet wissen woll- ten von den dominierenden Zügen ihrer immer kritischen Entwick- lung. Es ist mehr als bezeichnend, daß Horst Peters seiner „Ge- schichte der Sozialversicherung"

(1959) das Motto von Treitschke vorangestellt hat: „Wer nicht aus der Geschichte lernt, wird aus der Geschichte vergehen" — und dann bald schon wirklich vergangen sein!

Die Medizin ist in den letzten hun- dert Jahren immer unübersichtli- cher, aufwendiger und kostspieli- ger geworden. Der Mensch wurde dabei immer bedürftiger, an- spruchsvoller, abhängiger. Das Verhältnis von gesund und krank wurde -immer verwaschener und vielschichtiger, immer zweideuti- g& und widerspruchsvoller. Vor hundert Jahren noch konnte der Schweizer Arzt Jakob Laurenz Sonderegger in seinem Werk mit dem kämpferischen Titel „Vorpo- sten der Gesundheitspflege" (2.

Aufl. 1874) schreiben: „Wir Men- schen sind solidarisch haftbar für- einander. Was wir am einen ver- schulden, dafür straft uns der an- dere. Was wir an Schulen versäu- men, an Ordnung in Familien und Gemeinden vernachlässigen, das bezahlen wir als Armensteuer, an die Strafrechtspflege und ans Zuchthaus, und was wir an dem Kranken heute ersparen, das holt der Krüppel siebenfach wieder".

Aus der Sozialenquöte des Jahres 1966 bereits hatte sich eindeutig ergeben, daß die pluralistische Orientierung es war, die alle so- zialpolitischen Konstellationen be- stimmt. Dem zentralen Staatswil- len gegenüber behauptet sich zwar noch das Spiel der Kräfte de- mokratischer Praxis, einer Praxis freilich, die wiederum nur die Prä- ponderanz einer Wirtschaftspolitik repräsentiert (Ziffer 400). Es ist au- genscheinlich die Identität von So- zial- und Wirtschaftspolitik, die der Enquöte den Stempel gibt.

„Sozial- und Wirtschaftspolitik ha- ben daher nicht genau trennbare Lebensbereiche oder Menschen- gruppen zum Gegenstand. Beide verfolgen nicht voneinander un- terscheidbare gesellschaftspoliti- sche Zielsetzungen" (Ziffer 405).

Die veralteten Zielsetzungen einer Sozialpolitik, mit einem Aggregat von immerhin 40 Prozent des Volksvermögens, erscheint um so bedenklicher, als „die positive Ge- staltungsaufgabe der Sozialpoli- tik" sofort über ihren eigentlichen Gegenstand hinausreicht und sich verknüpft mit Bereichen der Poli- tik, die ihrerseits wieder diesen Gestaltungsauftrag beeinflußt. Da- mit steht aber auch das Ganze in einem politischen, einem keines- wegs koordinierten Gesamtrah- men. Daß eine solche Verschmel- zung von Konjunktur- und Struk- turpolitik auch schwerwiegende Probleme stellt, wird erst bei der reichlich versteckten Analyse der Methoden zugegeben, wobei abermals die marktwirtschaftliche Grundrichtung prävaliert, um ge- rade noch mit dem wachsenden Sicherheitsbedürfnis der Konsu- menten zu konkurrieren (Ziffer 427). In diesem Problemkreis von Zielkonflikten und Koordinie- rungsaufgaben könne es dem- nach keine Patentlösungen ge- ben; eindringlich gewarnt wird da- her vor allen Idealen einer „Wirt- schafts- und Sozialpolitik aus ei- nem Guß" (Ziffer 429).

Als Alternative bietet sich an, in das Versorgungssystem neben der

„Krankenversicherung" auch die

„Gesundheitssicherung" treten zu lassen, die Sicherung der dem Menschen eigentümlichen Ge- sundheit, als ein wissenschaftli- ches unterbautes System der Vor- sorge und Gesundheitsbildung.

Hierzu gehört ganz gewiß auch die sorgfältige Beachtung der soge- nannten Laienmedizin, die sich in unseren Tagen — oft in Opposition oder auch nur als Alternative — aufzubauen beginnt mit rasant an- wachsenden Selbsthilfegruppen, einer vielfach noch ungesteuerten Patientenmobilisierung, mit aufre- genden Möglichkeiten, aber si- cherlich auch Grenzen.

Die Medizin im Jahre 2000 wird — das darf vorausgesetzt werden — ein Supersystem bleiben, wofür al- lein schon die äußeren Argumente sprechen. Ich darf an nur drei erin- nern:

C) Die Medizin wird ein beherr- schender ökonomischer Faktor der Zukunft bleiben: Schon jetzt werden 30 Prozent aller Ausgaben für Krankheit und deren Folgeko- sten erbracht.

C) Die Medizin wird der psycholo- gisch beherrschende Faktor der Zukunft sein: Gesundheit gilt auch der kommenden Generation noch

— so fragwürdig das an sich ist — als das höchste Gut.

® Die Medizin wird zu einem poli- tisch dominierenden Faktor wer- den; hier werden Prioritäten für die Lebensform gefunden und für den Lebensstil einfach gesetzt werden müssen. Wenn wir aber al-

le verantwortlich eingebaut sind in das System sozialer Sicherungen, dann haben wir bereits damit auch eine politische Aufgabe über- nommen.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Heinrich Schipperges Institut für

Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 305 6900 Heidelberg

24 Heft 23 vom 10. Juni 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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