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Michael Sommer Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Ab durch die Mitte mit der sozialen Gerechtigkeit? Rede bei den Hannah-Arendt-Tagen am 30. Oktober 2004 in Hannover

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Michael Sommer

Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Ab durch die Mitte mit der sozialen Gerechtigkeit?

Rede bei den Hannah-Arendt-Tagen am 30. Oktober 2004 in Hannover

Meine Damen und Herren, lieber Herbert Schmalstieg,

ich bedanke mich sehr für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Denn welches Thema könnte aktueller sein als „Sozialstaat und Gerechtigkeit“?

Gerechtigkeit ist einer der Werte, die diese Gesellschaft zusammenhalten. Die Idee der Gerechtigkeit hat die Bundesrepublik geprägt. Und sie stark gemacht. Es gibt keinen Grund dafür, sich von diesem zentralen Begriff und diesem wichtigen Ziel politischen Handelns zu verabschieden. Aber es gibt gute Gründe, für sie zu streiten. Der wichtigste ist, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. In die, die drin sind, und in die, die außen vor bleiben. Drin im Arbeitsmarkt genauso wie drin in der Gemeinschaft. Die, die drin sind, stehen auch fast alle zu unserem politischen System.

Von denen, die draußen sind und bleiben, haben sich viele abgewendet. Übrigens in Ost und West. Denn die Spaltung geht quer durchs Land, ohne Rücksicht auf alte Grenzen.

Dass sich besonders viele junge Menschen abwenden und sich zu den politischen Extremen hingezogen fühlen, ist die eigentlich erschütterndste Erkenntnis des Superwahljahres 2004. Doch kann man es ihnen immer verdenken bei den allabendlichen Statements derer, die immer gewinnen? Haben sie verstanden, dass beide Volksparteien oftmals nicht mehr überzeugen? Ich glaube es nicht. Und das hat einerseits mit dem Auftreten zu tun. Noch wichtiger ist aber, dass viele Menschen sich in ihrer Verunsicherung allein gelassen fühlen. Sie sind verunsichert, weil sie genau spüren, welche Veränderungen in unserem Land und um uns herum stattfinden. Und die spüren, dass diese Veränderungen auch Risiken für ihre Existenz mit sich bringen.

Risiken, denen sich die Menschen schutzlos ausgesetzt fühlen. Und Risiken, die für manche mehr und für manche weniger bedrohlich sind. Entwickelt sich die Bundesrepublik also zu einer „Risikogesellschaft?“ Die Betroffenheit und Gefährdung durch neue Risiken ist jedenfalls höchst ungerecht verteilt. Es trifft eher die, die eh schon außen vor sind.

Doch dieser Eindruck ist zu oberflächlich. Denn wir erleben heute, dass auch die Mittelschicht von der Angst vor dem sozialen Abstieg ergriffen wird. Und Hoffnungen, der Staat spinne ein soziales Auffangnetz, erfahren immer mehr Menschen als Trugschluss. Krisenlösung wird mehr und mehr individualisiert. Ist das die neue Form der Freiheit?

Nach einem Sommer zwischen Hartz IV und Managergehältern zeigt sich, dass nichts die Menschen mehr ärgert, als wenn die Gerechtigkeit in ihrer Wahrnehmung mit

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Füßen getreten wird. Dagegen müssen wir angehen. Denn es ist doch die zentrale Lehre aus der deutschen Geschichte: Demokratie und Freiheit sind ohne soziale Gerechtigkeit auf Dauer nicht zu haben. Und nicht erst seit Hartz IV wissen, mindestens aber ahnen wir: es gibt keinen Konsens mehr, wie viel Gerechtigkeit und soziale Sicherheit wir den Menschen zugestehen wollen.

In jeder Nachrichtensendung zur Hauptsendezeit haben wir eine Schalte an die Börse.

Dann erfahren wir von Nikkei-Index, Dow Jones und Dax. Und ob Analysten mit den Gewinnen des Unternehmens X zufrieden sind oder nicht. Oft sind sie es nicht – trotz schwarzer Zahlen. Doch müssen wir das wissen? Sollten uns nicht eher andere Fragen umtreiben als die nach den Werten, die an der Börse gehandelt werden? Gibt es nicht Werte jenseits des Daxes? Ich meine ja. Allerdings weiß ich auch, dass andere, dass

„Werte-Fragen“, keinen Nachrichtenwert haben. Ich möchte gerne dazu beitragen, das zu ändern. Und endlich eine Wertedebatte anzuschieben. Sie ist lange überfällig. Auch als Gegengewicht gegen den neoliberalen Ökonomismus, der nur nach betriebswirtschaftlicher Rentabilität rechnet. Er ist die herrschende Meinung in der Wirtschaftswissenschaft und in vielen Medien. Dazu gehört auch, dass Volkswirtschaft mit der Summe der Betriebswirtschaften gleichgesetzt wird. Welch ein fataler Trugschluss.

Dieser ökonomische Schwachverstand lebt von Ideologie und Mottenkiste. Oder ist etwas modern daran, Schutzrechte abzubauen und Arbeitszeiten zu verlängern? Seinen erfolgreichsten Ausdruck findet der Ökonomismus in der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Sie wird von den Metallarbeitgebern finanziert und inhaltlich genährt von einer professoralen Alt-Herren-Riege. Ihr Credo diffamiert den Sozialstaat seit Jahren als Leistungs- und Wachstumshindernis. Und Arbeitnehmer gelten hier in erster Linie als Kostenfaktoren. Wer eine andere Meinung vertritt, sieht sich schnell als Traditionalist oder Betonarbeiter gebrandmarkt. Doch auch in der globalisierten Welt können Gesellschaften zugleich marktwirtschaftlich und erfolgreich und sozial gerecht organisiert sein. Mit Pierre Bourdieu geht es mir daher zunächst um eine

„ökonomische Alphabetisierung“. Sie könnte der Auftakt zu einer neuen Wertedebatte sein. Und wenn Oskar Negt in seinem neuesten Buch fragt, wozu es denn noch Gewerkschaften brauche, dann antworte ich ihm: auch damit es einen Stammplatz gibt, wo solche Debatten geführt werden können und wo die Würde des Menschen verteidigt wird, auch gegen den Zeitgeist. Dafür steht nicht nur das DGB-Haus in Berlin immer offen. Lassen sie uns also in einen kontroversen, aber konstruktiven Wettstreit darüber eintreten, was der Kitt im Zeitalter der Individualisierung sein könnte! Das ist kein Sonntags-Reden am Samstag, sondern mein ernstgemeintes Angebot.

Gerechtigkeit wäre, nein ist, für mich ein zentraler Bestandteil dieses Kitts. Natürlich hat sich unser Verständnis von Gerechtigkeit verändert. Die keineswegs überholten Verteilungsfragen wurden schon immer ergänzt um Aspekte wie Zugang, Teilhabe und Chancen, Generation und Nachhaltigkeit. Ich sage aber auch ergänzt und nicht ersetzt: Heute zu argumentieren, es gebe morgen keine Zuwächse mehr zu verteilen, ist falsch und ideologisch borniert. Denn wir leben in einem sehr reichen Land. Das Geldvermögen der Deutschen betrug 2003 3,9 Billionen Euro. Das bedeutet einen

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Zuwachs um 5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und: Die Erbschaften aus privaten Vermögen werden sich bis 2020 mehr als verdoppeln. Hiervon sollte auch die res publica etwas haben. Nur dann lässt sich die Lücke zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut schließen. Die Erfahrung ist allerdings eine andere. Immer weniger von diesem Reichtum fließt in die Gesellschaft zurück. Auch er ist individualisiert und vor allem sehr, sehr scheu. Sie sehen also, die materielle Verteilungsfrage bleibt für das Thema Gerechtigkeit durchaus wichtig – aber es kommen eben auch andere Facetten hinzu.

Um welche es sich aus meiner Sicht handelt, will ich Ihnen gerne vorstellen. Gerecht ist eine Gesellschaft, in der alle Zugang zu Arbeit und Bildung haben. Neu ist das nicht, sondern ein ebenso altes wie brandaktuelles Postulat der Arbeiterbewegung.

Gerecht ist eine Gesellschaft, in der der Mensch das Maß aller Dinge ist. Sie bietet Sicherheit und Chancen zur Persönlichkeitsentfaltung, zur beruflichen und persönlichen Verwirklichung, und zu Engagement für die Gemeinschaft. Für mich hat Gerechtigkeit auch sehr viel mit Ausgleich zu tun. Das bedeutet, dass vom Einzelnen nicht nur etwas verlangt werden kann, sondern dass ihm auch anständige Angebote gemacht werden müssen. „Fördern und fordern“ schallt es uns entgegen. Eine gute Parole, aber nur dann, wenn beides gilt. Weder Fördern allein noch Fordern allein ist anständig oder gar gerecht. Gerecht ist eine Gesellschaft, die allen unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion und sozialer Herkunft gleiche Chancen bietet. In ihr können alle am gesellschaftlichen und politischen Leben und am Wohlstand teilhaben.

Alt sein zum Beispiel darf nicht automatisch im Abseits stehen heißen. Alte Menschen haben ein Anrecht darauf, wie andere auch, geachtet zu werden. Ihr Wert liegt nicht allein darin, neben Kosten auch Werte zu produzieren. Ihr Wert ist ihre Würde – das gilt übrigens auch für Junge. In einer gerechten Gesellschaft ist die Würde jedes Menschen ein kostbares Gut. Würde und Respekt heißt für mich auch, Menschen in Not nicht zu Bittstellern zu degradieren. Und: Würde und Respekt in der Arbeitswelt verlangt, den Beschäftigten die Möglichkeit zur Mitsprache zu geben, damit sie sich auf gleicher Augenhöhe mit ihren Arbeitgebern bewegen können. So verstehe ich den Begriff Teilhabegerechtigkeit. Es geht dabei natürlich auch um materielle Dinge.

Daneben geht es aber auch um Teilhabe am Sagen, also an Entscheidungen im Betrieb oder in der Gesellschaft.

Gerecht ist eine Politik und Gesellschaft, die die Interessen der zukünftigen mit denen der jetzt lebenden Generationen verbindet. Das kann aber nicht bedeuten, die Sicherung der Lebensrisiken immer mehr Finanzkonzernen zu überlassen. Und Generationengerechtigkeit schließt das künstliche Hüftgelenk für die Achtzigjährige genauso wenig aus wie das Trachten nach ausgeglichenen Haushalten. Die größten Generationsungerechtigkeiten sind übrigens immer noch: über 50jährige zum Schrott des Arbeitsmarktes zu erklären oder junge Menschen jeder Ausbildungs- und damit auch jeder Lebenschance zu berauben. Und last but not least: Gerecht ist eine Gesellschaft, in der alle einen Beitrag nach ihren Kräften für die Gemeinschaft leisten.

Wer sich dem entzieht, handelt verantwortungslos. Dabei ist es in meinen Augen zu bequem, die Verantwortung der schlechten Gesetzgebung zu geben. Denn auch wenn Steuergesetze noch so durchlässig sind: niemand ist gezwungen, sein Geld im Ausland anzulegen. Nein, das Problem sind weniger schlechte Gesetze, sondern das eigentliche

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Problem sind Egoismus, Habgier und Ellenbogenmentalität. Auch darüber sollten wir einmal offen reden.

Weder wirtschaftlicher Erfolg noch gesellschaftlicher Bestand sind heute noch national organisierbar. Wir Gewerkschaften setzen uns daher mit allem Nachdruck für ein soziales Europa, unser erfolgreiches europäisches Gesellschaftsmodell ein. Zu unserer ökonomischen und sozialen Ordnung in Europa sehe ich keine Alternativen.

So sehr diese auch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat divergiert, basiert sie doch auf den Grundsätzen von Freiheit und sozialer Sicherheit. Freiheit ist untrennbar von Gerechtigkeit und von Sicherheit. Nur: gerade mit dem Freiheitsbegriff ist in den letzten Jahren besonders grober Unfug betrieben worden. Die einfache Gleichung, die uns da präsentiert wird, lautet: je weniger Staat desto mehr Freiheit. Sie enthält für mich zu viele Unbekannte. Vor allem aber meinen ihre Anhänger in der Regel die Freiheit des Kapitals. Aus der wird dann nicht die Freiheit sondern die Freisetzung arbeitender Menschen. Das erinnert doch sehr an den Sarkasmus von Franz Mehring von der doppelten Freiheit nach der Abschaffung der Leibeigenschaft.

Ich sage es noch drastischer: einen schlanken Staat im Sinne solcher Freiheitskämpfer kann nur der wünschen, der genug Fettpolster hat. Und der sich nicht darum scheren will, dass Eigentum auch dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Mit diesem Freiheitsbegriff kann ich wirklich wenig anfangen. Die Freiheit derer, die haben, ist nicht selten mit dem Verlust an Freiheit derer erkauft, die von ihrer Arbeitskraft leben müssen. Und das ist in der globalisierten Wirtschaft sehr viel schwieriger geworden.

Mit dem Ergebnis, dass Arbeitslosigkeit ein weltweites und in Deutschland ein besonders großes Gerechtigkeitsproblem ist.

Nach neuen Untersuchungen der ILO ist es eine unmittelbare Folge der globalisierten Wirtschaft, dass unbefristete Jobs für immer weniger Menschen zur Verfügung stehen.

Die ökonomische Unsicherheit ist für viele Menschen größer geworden. Dass man in einem Betrieb erst in die Lehre und dann in Rente geht, klingt heute fast exotisch.

Unsicherheit hemmt nicht nur Kreativität, sie steigert auch Unzufriedenheit mit dem politischen System. Das ist eine akute Gefahr – für unsere Gesellschaft und unmittelbar auch für die Wirtschaft.

Regierungen aller Couleur auf allen Erdteilen haben lange auf wirtschaftliche Dynamik, Marktöffnung und Leistungsabbau gesetzt. Sie sind gut beraten, wenn sie nun das Thema soziale Sicherheit wieder in den Blick nehmen. Das gilt auch für Deutschland. Sind 25 Jahre Erfolglosigkeit nicht ein guter Grund es einmal anders als mit Sozialabbau zu probieren? Natürlich reden wir dann von erneuerten Formen von Sicherheit. Reformen bei der sozialen Sicherheit verlangen die gebrochenen Erwerbsbiographien genauso wie globale Konkurrenz.

Die zentrale Frage an Sozialstaat und -politik ist es also, wie solche Biographien abgesichert werden können? Meine Antwort ist, dass wir in näherer Zukunft eine Grundsicherung einführen. Erste Ansätze dafür hat die Bundesregierung ja geschaffen.

Aber wer meint sowohl die Höhe als auch die Wirkungsmechanismen des ALG II seien die ultimative Antwort, der irrt gewaltig. Eine Grundsicherung muss helfen,

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wenn Arbeitnehmer vorübergehend den Job verlieren. Sie hilft aber auch, wenn Arbeitnehmerinnen sich zu einem Sabbatjahr entschließen. Eine Grundsicherung schafft neue Flexibilität für Unternehmen und Beschäftigte. Sie kann ein echter Standortvorteil werden. Eine Grundsicherung muss in allen Lebenslagen auch in Krisenzeiten ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Das halte ich für selbstverständlich. Darüber, wie sich das in Euro ausdrücken ließe, müssen wir heute nicht diskutieren. Mir ist aber wichtig klarzustellen: Eine Grundsicherung ist kein Almosen und kein Gnadenakt. Die Menschen haben vielmehr ein Recht auf sie.

Gerade in einem so reichen Land, wie es die Bundesrepublik ist.

Natürlich weiß ich, dass eine solche, neue Sicherung, nicht zum Nulltarif zu haben sein kann. Ich will deswegen gerne noch einige Hinweise für die Finanzierung einer Grundsicherung geben. Zunächst einmal haben wir Reserven im System. Nicht jeder Euro, der heute für soziale Sicherheit ausgegeben wird, wird auch sinnvoll ausgegeben. Das gilt nicht nur, aber vor allem aber auch für das Gesundheitssystem.

Zweitens sollten wir ehrlich zu uns selbst sein und dahin kommen, mehr Steuern für soziale Sicherheit aufzuwenden. Diesen Trend gibt es ungebremst. Er ist nichts Unanständiges. Schließlich gibt es gesellschaftliche Aus- und Aufgaben, die nichts in der Sozialversicherung zu suchen haben. Ich denke hier vor allem an den gesamten Bereich Kinder und Familie.

Drittens haben wir Gewerkschaften andere Ideen als die Kopfpauschale. Wir haben ein zum Beispiel Freibetragsmodell vorgeschlagen, dass untere Einkommen von Sozialabgaben ebenso entlastet wie personalintensive Betriebe und auf diesem Weg zur Senkung der Arbeitskosten beiträgt.

Sie sehen also, es gibt verschiedene Ansätze zum Umsteuern. Wichtig ist mir dabei, dass unser Sozialsystem wirklich zukunftsfest ist und wir nicht mehr Jahr für Jahr neue Finanzlöcher stopfen müssen. Mir geht es um eine nachhaltige Sozialpolitik, die mehr leistet als akute Not zu lindern. Sie kann lineare Erwerbsbiographien nicht garantieren.

Aber sie kann die Voraussetzungen für erfolgreiche Biographien schaffen. Natürlich können wir eine nachhaltige Sozialpolitik nur gestalten, wenn wir die Arbeitslosigkeit endlich in den Griff bekommen. Das muss uns bald gelingen – im Sinne der betroffenen Menschen, aber auch, um als Gesellschaft handlungs- und damit zukunftsfähig zu bleiben. Unsere Formel für eine moderne Wirtschaftspolitik ist 2 I + 2 Q: Investitionen und Innovation, Qualifizierung und Qualität der Arbeit. In den vergangenen Jahren standen dagegen andere Konzepte im Mittelpunkt – das Ergebnis ist Ihnen allen bekannt.

Es gibt viele Stellschrauben, um es endlich zu korrigieren. Ich belasse es hier bei einigen Stichworten:

• Verstetigung der Wachstumsraten,

• Ankurbelung der Binnennachfrage,

• kommunale Investitionsprogramme,

• antizyklische Geld- und Finanzpolitik also

• Neudefinition des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes

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und verantwortungsbewusste Unternehmer, die auch ohne das Schielen auf Subventionen von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nicht nur wissen sondern auch nach dieser Maxime etwas unternehmen.

Natürlich ist auch der Staat gefordert: z.B. bezüglich Geld für Innovationen, für mehr Forschung und Entwicklung. Das kann gelingen, wenn wir Vergangenheitssubventionen in Zukunftsinvestitionen umwidmen. Wir brauchen Investitionen in Menschen, in ihre Köpfe und Herzen. Denn es waren und sind die gut qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dieses Land groß gemacht haben. Ihnen immer mit der billigeren Konkurrenz in China zu drohen, ist nicht leistungsfördernd. Wer nur nach Arbeitskosten schielt und nicht auf die Qualität und Produktivität, wird im globalen Wettbewerb nicht bestehen. Kurz gesagt: Angst essen Ideen auf. Und genau diese Ideen braucht unser Land, wenn es sich im globalen Wettbewerb behaupten will.

Es ist ja schon ein Allgemeinplatz geworden: Bildung ist der Schlüsselfaktor für eine gerechte und zukunftsfähige Gesellschaft. Doch was machen wir aus dieser Einsicht?

Was haben wir aus den Studien von PISA über IGLU bis Shell gelernt? Wie viele blaue Briefe brauchen unsere Bildungspolitiker eigentlich noch, bis sie aufwachen?

Alle Studien weisen nach, dass das Gefälle bei den Bildungschancen in unserem Lande ein ernstes gesellschaftliches Problem ist. Und dass unsere Bildungsmängel das Standortrisiko sind und nicht das so verteufelte Arbeitsrecht. Mein Plädoyer ist es daher, die oben beschriebene nachhaltige Sozialpolitik, die auf die Herstellung gleicher Chancen abzielt, neu mit Bildungspolitik zu verknüpfen und ich empfehle sehr, die Bildungspolitik auch mit der Gleichstellung von Männern und Frauen zu verbinden. Denn das faktische Anpassen der Hälfte der Bevölkerung ist auch kein Akt sozialer Gerechtigkeit, sondern ihr Gegenteil. Das erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat es doch gezeigt: die Bildungsmisere in Deutschland ist ein Teil eines in der Tat neuen Fragens. 35 Jahre nach Regierungsantritt Willy Brandts haben wir wieder das Bildungsprivileg der Besser-Betuchten. Für Sozialdemokraten und Gewerkschafter führwahr eine ganz bittere Erkenntnis. Die soziale Herkunft entscheidet heute eher über das spätere Fortkommen als die eigene Leistung.

Deutschland ist laut PISA zum Weltmeister der sozialen Ausgrenzung geworden. Und Besserung ist nicht in Sicht. Denn mit den immer noch skandalös niedrigen Bildungsausgaben – hier liegen wir im internationalen Vergleich auf einem Abstiegsplatz – verbauen wir den unteren Schichten die „Aufstiegsleiter Bildung“. Das ist neben der Arbeitslosigkeit die zweite große Gerechtigkeitslücke unserer Gesellschaft. Von Generation zu Generation verfestigt sich die Ungleichheit weiter.

10-15% der Schulabgänger ohne Abschluss ist übrigens nicht nur ungerecht, sondern eine soziale Zeitbombe erster Güte. In der Folge gibt es in unserem Land zahlreiche Armutskarrieren. Hinter diesem Wort verbergen sich Menschen, die in der 4.

Generation von Sozialhilfe leben. Ein besonderer Skandal ist, dass aktuell über eine Million Kinder im Sozialhilfebezug aufwachsen. Die, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen oder später Privatuniversitäten. Die, die dafür das nötige Geld nicht haben, müssen ihre Kinder in marode staatliche Schulen schicken. Es ist nicht die Sache der sogenannten bildungsfernen Milieus, diese Umstände zu verändern. Im Gegenteil: Sie dürfen nicht noch weiter in Armut

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getrieben werden. Also muss ein neues Bildungsbewusstsein und damit mehr Geld her:

für qualifizierte Kindergärtnerinnen, Ganztagsbetreuung und Sprachkurse. Aber auch für intakte und das Lernen fördernde Gebäude.

Damit sind wir wieder bei der öffentlichen Armut gelandet. Sie macht höhere Bildungsinvestitionen schwer vorstellbar. Und Geld ist auch noch längst nicht alles.

Denn in der Bildungspolitik ist wirklich ein Paradigmenwechsel gefragt. Es muss endlich Schluss sein mit der Kleinstaaterei. Unsere Probleme lassen sich jedenfalls nicht nur mit neuen Computern in den Schulen lösen. Zumal, wenn wir viele Schulgebäude haben, wo die Steckdosen aus der Wand brechen, wenn man einen Computer anschließen will. Auch mit Elite-Unis ist es nicht getan. Die Debatte über sie ist wieder nur ein ärgerlicher Ausdruck dafür, wie oberflächlich viele Diskussionen in diesem Lande sind. Die Probleme in unserem Bildungssystem beginnen doch viel früher. Deswegen müssen auch die Lösungsversuche früher greifen. Zumindest ist das die Botschaft aller internationalen Vergleichsstudien der vergangenen Jahre. Wenn wir wirklich für Fairness und gleiche Chancen sorgen wollen, dann müssen wir bei den Kleinsten ansetzen. Um es ganz konkret zu sagen: Es muss Schluss sein mit der Selektion bereits in den Kitas. Sie sollten gebührenfrei werden, damit jedes Kind die Chance auf frühe Förderung erhält. Wir brauchen eine viel bessere Betreuung unserer kleinsten Kinder. Auch hier sind wir Schlusslicht. Und hier sehe ich wirklich den Staat in der Pflicht. Er muss für ein gutes Betreuungs- und Bildungsangebot sorgen. Er muss auch endlich etwas dagegen tun, dass Kinder ein Armutsrisiko sind. Und das geht nur, wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheidend vereinfacht wird. Wir sollten also, wie bereits angedeutet, die Themen Bildung und Familie viel stärker zusammendenken. Denn ohne Kinder und ohne ihre gute Ausbildung hat dieses Land deutlich schlechtere Zukunftschancen.

Aber Bildung und Qualifizierung sind in einer immer stärker überschlagenden Wissensgesellschaft nicht mehr an einen Lebensabschnitt gebunden.

Lebensbegleitendes Lernen wird in älter werdenden Gesellschaften immer wichtiger.

Wir können uns die Ungerechtigkeit auch finanziell nicht leisten, Menschen mit Ende 50 aus dem Arbeitsleben zu drängen. Genauso wenig wie den, die am besten ausgebildete Frauengeneration gar nicht erst in Arbeit hinein zu lassen.

Sie sehen also, dass wir viele Gründe für ein tiefgreifendes gesellschaftliches Umdenken haben. Und an dieser Stelle möchte ich noch einige Worte an unsere Sozialpartner richten. Auch das gehört zu einem Gespräch über Gerechtigkeit dazu.

Die sommerliche Debatte über die Vorstandsgehälter in der Bundesrepublik fand ich gut und wichtig. Denn es ist überfällig, einmal nach der Verantwortung unserer Top- Manager für die Probleme des Landes zu fragen. Der unnachahmliche Dieter Hildebrandt hat in diesem Zusammenhang geschrieben, dass der Sand knapp geworden ist, in den Manager etwas setzen können. Der Mann hat Recht! Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen:

— Teile der Automobilindustrie in Deutschland sind in arge Schwierigkeiten geraten, weil sich die einen an Übernahmen verschluckt und die anderen sich an unverkäuflichen Autos verhoben haben;

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— die Deutschen Bank kommt nicht aus den Schlagzeilen, weil ihre Spitze sie zu einem weltweit tätigen Investment-Institut machen will.

Dass dabei mit fast allen guten Traditionen der „Deutschland AG“ gebrochen wird, interessiert den shareholder nicht. Und noch weniger, dass zwischen 2000 und 2003 fast 30.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden. Wie wäre es wohl, wenn auch unsere Spitzenmanager strikt nach Leistung bezahlt würden? Das ist doch der neue Trend, der von den Arbeitnehmern verlangt wird. Wie soll ihnen angesichts vieler Pleiten, Pech und Pannen denn überzeugend vermittelt werden, dass in der Spitze die deutschen Manager-Bezüge um fast 300 Prozent gestiegen sind. In den USA waren es in 29 Jahren übrigens schwindelerregende 2.800 Prozent. Vorbild ist das eine, Verantwortung das andere. Auch daran hapert es noch. Denn offensichtlich träumen manche Verbandsfunktionäre und Unternehmensspitzen davon, dass ihre Beschäftigten unter rumänischen Produktionsbedingungen arbeiten und sie selbst mit amerikanischen Gehältern bedacht werden. Das passt einfach nicht zusammen. Und ich glaube, dass es auch durch die Standort-Rhetorik nicht mehr begründet werden kann. Die Menschen sind sensibler geworden. Hinzu kommt noch, dass Arbeitnehmer, die im Job mehr und mehr unter Druck stehen, in der Regel eben keine Risiko- Versicherung gegen eigenes Versagen haben wie Herr Ackermann von der Deutschen Bank.

Diese Dinge offen beim Namen zu nennen hat nichts mit Klassenkampf-Rhetorik zu tun. Aber sehr viel mit „gefühlter Gerechtigkeit“. Den Beschäftigten die Rechte zu nehmen, mit Standortverlagerung zu drohen um Lohnkürzungen durchzusetzen – das passt nicht zu unternehmerischem Versagen oder nicht eingehaltenen Selbstverpflichtungen. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass in den Arbeitgeberverbänden wieder weniger Lagerdenken und mehr Gemeinsinn zu finden ist. Für mich ist das die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog der Sozialpartner, die dieses Land gemeinsam stark gemacht haben. Wenn ihr Miteinander ergebnisorientiert ist und nicht nur ideologisch besetzt – dann können sie auch heute viel zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes beitragen. Wir Gewerkschaften haben viele Ideen dafür, wie das Land modernisiert werden kann. Wer uns nachsagt wir seien Bremser, verkennt die Realität. Anders gesagt: ohne den Streit der Ideen gibt es keinen Fortschritt. Wir Gewerkschaften glauben an Fortschritt und haben auch keine Angst vor Veränderungen, im Gegenteil. Wir verstehen Fortschritt nicht als den bedrohlichen Riesen, den Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung beschrieben haben. Ein Fortschritt, der kaum noch zu bändigen ist, wenn er einmal losgelassen ist.

Wir waren in unserer Geschichte immer für Fortschritt und Wandel und es auch heute.

Aber wir wollen auch Sicherheit und Verlässlichkeit. Mit dieser Mischung haben wir gemeinsam dieses Land zu dem gemacht, was es ist. Wir haben trotz aller Probleme auch im Miteinander keinen Grund für den gebückten Gang. Wir gestalten mit, denn wir wollen die sozial gerechte Modernisierung der Bundesrepublik. Und wir wollen, dass sie eine gute Zukunft als sozial verfasster Bundesstaat hat. So, wie es im Grundgesetz niedergelegt ist. In diesem Sinne braucht Deutschland eine Gerechtigkeitsoffensive. Wer immer sie starten will, hat er unsere Unterstützung.

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