Europa und die islamische Welt
im Dialog durch die Jahrhunderte
Von Paul KUNITZSCH, München
In der gesamten überschaubaren Geschichte Europas war immer auch
der Orient präsent und einbezogen. Das gilt von der Andke bis in unsere
ZeiL Wir wollen heute diejenige Geschichtsperiode betrachten, in der sich
Europa und die islamische Welt gegenüberstehen, also die letzten 1400
Jahre, etwa von 600 bis heute. Wenn ich im Titel meines Vortrages den
Ausdruck "Dialog" gebrauche, so soll damit die Gesamtheit der wechsel¬
vollen, vielfach kontroversen, oft auch in sich widersprüchlichen Bezie¬
hungen gemeint sein, die zwischen diesen beiden Welten - der christlich¬
abendländischen, europäischen auf der einen Seite und der islamisch-
orientahschen auf der anderen - bestanden.
Lassen Sie mich zu diesem Zweck versuchen, zu Beginn die Ausgangs¬
position zu umreißen, die beim Aufeinandertreffen dieser beiden Kulturen
vorlag.
Im 7. Jh. war das Abendland gegenüber der übrigen Welt als ein fester,
geschlossener Block bereits etabliert. Zentrum des westlichen Selbstver¬
ständnisses war die Religion, das Christentum. Auf dem Territorium des
einstigen Römischen Imperiums bestanden im westlichen Raum zahlreiche
Nachfolgestaaten, im östlichen Raum das Byzantinische Reich. Die christ¬
liche Kirche, 391 unter Kaiser Theodosius zur Staatsreligion erhoben,
übte allenthalben beherrschenden Einfluß aus, im Westen auf das Zentrum
Rom und den Papst hin ausgerichtet, im Osten in Gestalt der griechisch¬
orthodoxen Kirche und verschiedener weiterer ostkirchlicher Riten. Aus
eigener Sicht der Christen war die Welt säuberiich aufgeteilt: hier die Gläu¬
bigen, die der Erlösung teilhafdg waren, außerhalb davon die Ungläubi¬
gen, die Heiden, die vom Heil ausgeschlos.sen waren, denen jedoch jeder¬
zeit die Möglichkeit offenstand, freiwillig oder unter Zwang, je nachdem,
in die chrisdiche Heilsgemeinschaft einzutreten und damit auch deren
Segnungen teilhafdg zu werden. Der Weg der Weltgeschichte erschien
vorgezeichnet als eine Art Heilsgeschichte, hin zu einer ganzheitlichen
welmmspannenden Christenheit.
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Vedag Stuttgart
Europa und die islamische Welt im Dialog durch die Jahrhunderte 9
Da trat ein Ereignis ein, das diese Weltsicht radikal durchkreuzte und in
Frage stellte. Kurz nach 600 erschien in Arabien ein Prophet, der eine
neue Religion verkündete, den Islam. Und diese neue Religion erhob
ebenfalls einen Totalitätsanspruch wie das Christentum und behauptete,
der Welt den alleinigen Weg zum Heil zu bringen. Der neue Prophet,
Muhammad, hatte gewisse diffuse Kenntnisse von den Religionen des
Alten und des Neuen Testaments, vom Judentum und vom Christentum.
Er erhielt nun göttliche Offenbarungen, die durch ihn den Glauben an
einen alleinigen Gott auch den bis dahin heidnischen, polytheisdschen
Arabem vermitteln sollten. Im Laufe seiner Sendungsperiode kristallisier¬
ten sich zahlreiche wesendiche Unterschiede zwi.schen seinen Offenbamn-
gen und den Lehren der Juden und Christen heraus. So ergab sich denn
für die neue Religion, den Islam, ein ganz spezifisches im Hinblick auf
Judentum und Christentum formuHertes Selbstverständnis: In der Sicht
Muhammads, d.h. also des Islam, gibt es von Gott her nur eine einheitli¬
che Religion. Sie wurde durch verschiedene Propheten zunächst den Ju¬
den, später den Christen überbracht. Aber Juden und Christen haben diese
Religion im Laufe der Jahrhunderte abgeändert und verfälscht. Nun wird
er, Muhammad, als letzter Prophet von Gott ausgesandt, um die richtige,
wahre Form des Glaubens zu verkünden und unter den Menschen wieder
herzustellen. Seine Sendung war zwar dem ersten Anlaß nach nur an die
Araber gerichtet, mußte aber unter den angenommenen Verhältnissen aus
ihrem Selbstverständnis heraus auch Juden und Christen mit einbeziehen.
Die dem Islam innewohnende expansive Tendenz wurde von Muhammad
selbst für die Arabische Halbinsel und von seinen Nachfolgern für die
jenseits davon gelegenen Gebiete verwirklicht: bis zu Muhammads Tod im
Jahre 632 war prakdsch die gesamte Arabische Halbinsel dem Islam
unterworfen, und in den folgenden hundert Jahren eroberten Muhammads
Nachfolger dem Islam ein Imperium, das von den Pyrenäen, von der
nordafrikanischen Adandkküste bis nach Innerasien und in das Indusdelta
reichte.
Historisch gesehen trafen hier also zwei absolut unvereinbare Weltan¬
schauungen mit Totalitätsanspruch aufeinander: Der neu in die Geschichte
eintretende Islam stieß auf das bereits seit Hunderten von Jahren ideolo¬
gisch und poHdsch fest etablierte Christentum; das Christentum wurde
durch den neu auftretenden, in Kürze von einer peripheren, negligeablen
Randerscheinung zu einer Weltmacht ersten Ranges avancierten Islam aus
seiner selbstsicheren, über alle Zweifel erhabenen, einzigartigen Stellung
verdrängt.
10 PAUL KUNITZSCH
Die Ausgangslage für die Begegnung zwisehen der islamischen Welt
und Europa war also eine grundsätzliche Gegnerschaft, eine von den Prin¬
zipien des Selbstverständnisses der beiden her unvereinbare Andthese,
und so ist es über alle Jahrhunderte hinweg bis auf den heutigen Tag
geblieben. Selbstverständlich haben die beiden Welten im Laufe der
Geschichte zu Formen einer prakdkablen Koexistenz gefunden, in ihren
Grundsätzen aber konnten und können sie über dieses gewissermaßen
provisorische Stadium nie hinausgelangen, ohne sich selbst aufzugeben.
Alles, was sich an Beziehungen und fruchtbarem Austausch zwischen der
islamischen Welt und Europa über die Zeiten hinweg ergeben hat, war
möglich, blieb aber und ist auch heute von diesem unüberbrückbaren
Gegensatz überlagert.
Dabei können wir feststellen, daß - vor allem in der frühen Periode, im
Mittelalter - die islamische Welt aus historischen Gründen weit besser zu
solcher Koexistenz gerüstet und leichter dazu bereit war als das Abend¬
land. Die Existenz von Juden und Christen war schon für die alten Araber
selbst nichts Ungewöhnliches, und sie war später auch im islamischen
Reich etwas durchaus Bekanntes. Schon in vorislamischer Zeit gab es in
Arabien jüdische Ansiedlungen und ganze jüdische Stämme sowie auch
eine christliche Diaspora. Und in den nach Muhammad eroberten Provin¬
zen des Byzantinischen Reiches und des Perserreiches gab es ebenfalls
zahlreiche Angehörige dieser beiden Gruppen, Juden und Christen. Die
Muslime waren also von Anfang an daran gewöhnt, in ihrem Lebensraum
Angehörige dieser beiden Konfessionen zu sehen und mit ihnen umzu¬
gehen. Nach muslimischer Theorie standen gerade diese beiden Gruppen
dem Islam besonders nahe. Wie ich schon sagte, gehörten sie nach islami¬
scher Sicht eigentiich derselben Religion an, sie hatten ihre Offenbarungen
in Gestalt der Thora und der Evangelien aus demselben Urbuch im Him¬
mel erhalten, aus dem zuletzt Muhammad seine Offenbarungen in arabi¬
scher Sprache - also wie man meinte: in arabischer Übersetzung jenes
himmlischen Urbuches - empfing. Sie wurden daher mit dem bekannten
Ausdruck ahi al-kitäb, "Leute des Buches" (nämlich: jenes Urbuches im
Himmel) bezeichnet und genossen im islamischen Reich gegenüber
sonstigen Nichtmuslimen gewisse Vorrechte als sogenannte "Schutzbefoh¬
lene". Gegen Entrichtung einer "Kopfsteuer" konnten sie ihrem Glauben
weiter anhängen und dessen Riten ausüben, sie wurden al.so in der Regel
keineswegs gezwungen, zum Islam überzutreten.
Demgegenüber war das Abendland ein in sich geschlossenes rein
chrisdiches Wohngebiet, das keine andersgläubigen Mitbewohner kannte
bzw. duldete. Heidnische Völkerschaften an den nördlichen und östlichen
Europa und die islamische Welt im Dialog durch die Jahrhunderte 11
Rändern der christlichen Staaten wurden nach und nach christianisiert;
Juden gab es, aber sie waren stets sehr isoliert, wurden - vor allem aus
religiösen Gründen - stark angefeindet und waren vielen Verfolgungen
ausgesetzt, also keinesfalls integriert. Eine Existenz von Muslimen mitten
in der chrisdichen Umwelt, analog zum Vorhandensein der Christen im
islamischen Reich, gab es nicht - zunächst natürlich aus historischen
Gründen, und später war sie aus weltanschaulichen Gründen nicht akzep¬
tabel, von ganz wenigen besonders begründeten Ausnahmen abgesehen.
In den rückeroberten Gebieten Europas wurden die noch dort verbliebenen
Muslime üblicherweise gezwungen, zum Christentum überzutreten, oder
sie wurden aus dem Lande getrieben.
Unter dieser schweren Hypothek standen also permanent die europä¬
isch-islamischen Beziehungen, über die wir hier reden wollen. Diese
Beziehungen haben sich vor allem auf drei Ebenen abgespielt, die hier ge¬
sondert erörtert werden sollen: auf polidscher, wirtschaftlicher und kul¬
tureller Ebene. Dabei lassen sich auch drei hauptsächliche Zeiträume ab¬
grenzen, die sich kontrastreich hervorheben; eine frühe Periode, im
Mittelalter; eine mittlere Periode, etwa vom 15.-18. Jh.; und eine neuzeit¬
liche Periode, etwa von 1800 bis heute.
Auf der polidschen Ebene waren - und sind - die europäisch-islami¬
schen Beziehungen gekennzeichnet durch fast ständige Kämpfe und krie¬
gerische Auseinandersetzungen, wenn auch häufig unterbrochen durch
oder begleitet von umfassenderen oder lokal begrenzten Verffagsperioden.
Wie schon angedeutet, war der Islam den Europäern zunächst als poli-
dsch-miUtärischer Gegner gegenübergetreten. Gleich nach Muhammads
Tod begann die Eroberung des größten Teils des äußeren Byzantinischen
Reiches, im Vorderen Orient und in Nordafrika. Drei Versuche, Konstan¬
ünopel selbst einzunehmen, schlugen fehl. Der arabische Siegeszug ging
dann im Westen weiter, 711 setzten die Truppen nach Spanien über. Erst
im Inneren Frankreichs kam der arabische Vomiarsch 732 zum Stehen, als
Karl Marten bei Tours und Poitiers die vordersten Spitzen der arabischen
Expedition vernichtete. Und von diesem Zeitpunkt an, so kann man sagen,
lief im europäischen Westen jener Jahrhunderte währende permente
Kampf ab, der unter der Bezeichnung "Reconquista" bekannt ist und der
erst 1492 mit der Eroberung von Granada und der Vertreibung des letzten
Maurenkönigs von dort seinen Abschluß fand, im selben Jahr, als
Kolumbus - ebenfalls im Dienste der spanischen Krone - in der Neuen
Welt landete.
Auch Sizihen und Teile Süditaliens gerieten für zwei Jahrhunderte unter
arabische Herrschaft. Daneben führten vereinzelte Beutezüge die Araber
12 Paul kunitzsch
bis ins Alpengebiet, nach Südfrankreich, an die Küsten Italiens, und 846
wurde sogar Rom selbst einmal überfallen und geplündert.
Dennoch bildeten beide Seiten keine monolithischen, undurchdringli¬
chen Blöcke, und es gab auf die Länge der Zeit keine starren, unverrück¬
baren Fronten. Zwar stand die islamische Welt, zumindest in den ersten
drei Jahrhunderten, Europa als geschlossene Einheit gegenüber, unter der
Führung des Kalifen, des jeweiligen Nachfolgers Muhammads, der als
arriir al-mu'minin, "Fürst der Gläubigen", an der Spitze der Gemeinschaft
der Muslime stand. Von Muhammad her gab es keine Trennung von Staat
und Religion, die Muslime bildeten ein einheitliches Gemeinwesen, in dem
alle Dinge, die öffendichen wie die privaten, nach den Vorschriften des
Korans und der Prophetentradition geregelt wurden. Die Welt zerfiel
danach in zwei Bereiche, där al-isläm, "Haus des Islam", also dasjenige
Gebiet, in dem der Islam bereits herrschte, sowie in dasjenige Gebiet, in
dem der Islam noch nicht herrschte und das in der offiziellen Terminologie där al-harb, "Haus des Krieges", hieß und das erst noch im heiligen
Kampf, im §ihäd, zu erobern war. Aber hier war die Theorie flexibel, und
die Bekämpfung und Eroberung des "Hauses des Krieges" durften sich
nach den realen Gegebenheiten richten. Und diese verschoben sich
schnell: im Laufe des 10. Jh.s brach die zentrale Autorität des Kalifen
auseinander, und das Reich des Islam begann, in viele Einzelstaaten unter
mehr oder weniger selbständigen, häufig wechselnden Dynastien zu
zerfallen. Damit war dann etwa ein Gleichstand zwischen den beiden
Gegnem erreicht. Europa hatte dem Ansturm des Islam von Anfang an
nicht als geschlossene Einheit gegenübergestanden, sondern als
Ansammlung zahlreicher Einzelstaaten und Kleinkommunen. So konnte es
auch zu keiner konzentrierten gemeinsamen, gesamteuropäischen Gegen¬
reaktion kommen. Die jeweils angegriffenen Stellen hatten sich auf eigene
Faust gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen. Eine genieineuropäische
Aktion kam erst über 400 Jahre nach dem Einsetzen der islamischen
Eroberungen in Gang, in den Kreuzzügen.
So gestaltete sich die ständige Auseinandersetzung zwischen der islami¬
schen Welt und Europa denn als Serie unablässig wechselnder Kämpfe,
immer wieder hier und da unterbrochen durch mehr oder weniger langfri¬
stige Stillhalte- oder Friedensperioden. Dabei kam es nicht .selten zu bun¬
ten Frontwechseln: islamische Herrscher oder Kleinfürsten oder sonstige
Abtrünnige verbündeten sich mit einer westlichen Autorität, um so interne
Gegner niederzukämpfen, und ebenso verhielten sich europäische Herren,
die im Bunde mit Sarazenen ihrerseits interne Auseinandersetzungen für
sich zu entscheiden suchten.
Europa und die islamische Well im Dialog durch die Jahrhunderte 13
Nach der Welle der islamischen Eroberungen, von deren Schock
Europa sich nur sehr langsam erholte, ehe es zu einem geschlossenen
Gegenschlag ausholte, folgte dann die Welle der Kreuzzüge, die sich über
rund zwei Jahrhunderte hinzogen, vom Ende des 11. bis zum Ende des
13. Jahrhunderts. Trotz zeitweiliger Teilerfolge in Gestalt der Errichtung
westlicher Herrschaften im Heiligen Land und in Syrien endete diese
Bewegung aber schließlich im Nichts. 1099 war Jerusalem erobert wor¬
den, 1291 gaben die Kreuzfahrer ihre letzten Basdonen im Orient auf:
Akko, Tyrus, Beirut und Sidon.
Bis dahin hatten die Europäer die islamischen Völker noch kaum in ih¬
rer Vielfalt und in ihren spezifischen historischen Rollen erkannt. Der
Name der Araber - des tragenden Elements in der gesamten Bewegung -
wird in der westlichen Literatur so gut wie nie genannt; die Muslime wur¬
den zumeist schlechthin als "Sarazenen" oder "Heiden" bezeichnet. (In
manchen westlichen Dichtungen des Mittelalters konnte es vorkommen,
daß unter diese "Sarazenen" oder "Heiden" auch europäische, noch nicht
christianisierte Völkerschaften gemischt wurden: Sorben, Wilzen, Dänen,
Normannen.) Umgekehrt waren auch den Muslimen die Europäer als
Ganzes kein Begriff. Sie kannten, bereits zu Muhammads Zeiten und im
Koran, die Rüm, d.h. die Oströmer, also Byzantiner, die lange Zeit für sie
die Gesamtheit der chrisdichen Völker im Norden symbolisierten. Die spa¬
nischen Araber verwendeten für die Christen in ihrem Bereich die Be¬
zeichnung al-'agam, "die unverständlich Redenden" - ein Ausdruck, der
im ostarabischen Raum auf die Perser angewendet wurde. In der Zeit der
Kreuzzüge kam dann neu der Begriff der "Franken" auf, al-ifrang, da
Franzosen und Französisch sprechende Anführer zumal im 1. Kreuzzug
eine herausragende Rolle gespielt hatten. Dieser letztere Ausdmck ist noch
heute lebendig und kann zur Bezeichnung nichtarabischer, europäischer
Dinge verwendet werden. In den Kreuzzugschroniken spielen dagegen
häufig die Turci und die Persae eine wichtige Rolle, erstere, weil die
Kreuzzugsheere auf dem Landweg in den Vorderen Orient in Kleinasien
Gebiete passieren mußten, in denen sich bereits die Seld.schuken, ein tür¬
kischer Stamm, festgesetzt hatten, mit denen sie schwere und verlustreiche
Kämpfe zu bestehen hatten, die "Perser" als die Bewohner des syrisch¬
palästinensischen Hinterlandes, über das nur vage Nachrichten in den
lateinischen Orient gelangten. Für die Byzantiner repräsentierten im Mittel¬
alter die "Perser" generell die islamische Welt.
Zum Ausgang des Mittelalters nahmen unter den Völkern der islami¬
schen Welt gegenüber den Europäem dann zunehmend die Türken und die
Mongolen die Rolle des aggressiven Elements an. Letztere rückten von
14 Paul kunitzsch
Innerasien her gegen Rußland vor und brachten auf lange Zeit große Teile
des russischen Reiches unter ihre Herrschaft. Die Türken drängten von
Kleinasien her nach Westen. Mit der Eroberung Konstantinopels 1453 und
der Zerschlagung des Byzandnischen Reiches entstand ein neuer Orient¬
mythos, der nun ganz vom Namen der Türken beherrscht wurde. Eine
neue islamische Eroberungswelle rollte gegen Europa heran, zweimal
standen die Türken vor Wien: 1529 und 1683. Damit war aber dann die
letzte große kriegerische Expansionswelle des Islam abgewehrt. In der
Folge veränderten sich die äußeren Machtverhältnisse, an neuerliche isla¬
mische Eroberungszüge war nicht mehr zu denken, vielmehr gerieten jetzt
die islamischen Staaten ihrerseits unter europäischen Expansionsdruck.
Portugiesen und Holländer versuchten, sich am Persischen Golf, an der
Ostküste Afrikas und an den Küsten Indiens festzusetzen: England nahm
Indien in Besitz und übte ebenfalls Einfluß am Persischen Golf aus, nach¬
dem es die Portugiesen verdrängt hatte.
Diese neuen Entwicklungen riefen im Orient noch kein größeres Echo
hervor. Aber dann erfolgte 1798/99 die Napoleonische Expedition nach
Ägypten, die einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der arabi¬
schen und der islamischen Welt darstellt. Nach seiner großen Frühzeit war
das islamische Reich, in seinem westlichen Teil dominiert von der osmani¬
schen Oberherrschaft, in einen langen Dornröschenschlaf verfallen. Nun
auf einmal erschienen jene "Franken", gleichsam aus dem Nichts heraus,
mit einem technischen und organisatorischen Apparat, dem der Orient
nichts Vergleichbares entgegenzustellen hatte. Hier setzte ein Erwachen
ein, ein ganz neues Nachdenken über sich selbst und über die ungeheuren
Veränderungen und Fortschritte, die die außerislamische Welt in den ver¬
gangenen 300 Jahren durchgemacht hatte, und die islami.sche Welt begann
mitden ersten Versuchen, Anschluß an die modeme Zeit zu finden.
Die europäische Einstellung zum islamischen Orient hat sich in den fol¬
genden zwei Jahrhunderten merklich gewandelt. Im Gefolge von Aufklä¬
rung und Säkularisierung und dem Aufkommen neuartiger politischer
Wertkategorien ist der alte antiislamisch-ideologische Aspekt aus dem
Verhältnis Europas zur islamischen Welt weitgehend verschwunden. Statt¬
dessen trat die geopolidsch wichtige strategische Lage des Orients in den
Vordergrund der Interessen, ich erwähne nur: Suezkanal, Erster Welt¬
krieg, Zweiter Weltkrieg. Und in den letzten Jahrzehnten begann der
Orient selbst wieder eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen, nach¬
dem er sich von kolonialen Einflüssen weitgehend freigemacht hatte und
seine neue Macht verspürte, die im Erdöl begründet ist.
Europa und die islamische Well im Dialog durch die Jahrhunderte 15
So ließe sich in ganz groben Zügen das Panorama der europäisch-isla¬
mischen Beziehungen auf politisch-historischer Ebene zeichnen, ein von
der Selbstdefinidon der beiden Seiten her vorgegebener unauflöslicher
Gegensatz, ein ständiges Ringen, wobei die Waage des Schicksals sich
zunächst der Seite des Islam, seit der Renaissance dann aber mehr und
mehr der Seite Europas zuneigte. Auch unsere Gegenwart steckt noch
mitten in diesen Auseinandersetzungen. Den Menschen des Westens ist
das nicht sehr bewußt, sie bewegen sich jetzt, gegen Ende des zweiten
Jahrtausends christlich-abendländischer Kultur, auf geisdgen Wegen, wo
der Islam als geistlich-ideologische Gegenmacht keine Rolle mehr spielt.
Anders auf Seiten der islamischen Welt: Hier ist man dabei, nach dem
Scheitem vieler Modernisierungs- und Anpassungsversuche, sich trotzig
wieder aufdie eigenen alten Grundwerte, wie sie im Koran, im Islam fest¬
gelegt sind, zurückzubesinnen und zurückzuziehen; wir nennen diese
Bewegung "Fundamentahsmus". Ein Vergleich .sei hier erlaubt: Europa in
seiner chrisdich-abendländischen Ausprägung steht nahe am Jahre 2000
seiner Entwicklung, die islamische Welt hat kürzlich ihr Jahr 1400 er¬
reicht; es sind also volle 600 Jahre innerer Entwicklung, die der islami¬
schen Seite im Vergleich mit der europäischen noch fehlen, und was haben
gerade diese letzten 600 Jahre für die Entwicklung Europas erbracht!
Renaissance, Aufklärung, Französische Revolution, Menschenrechte,
Demokrade, technische Revolution: all dies sind Prozesse, die die islami¬
sche Welt zwar zum Teil als ferner Zeitzeuge miterlebt hat und von deren
Früchten sie nun das eine oder andere mitgenießt, Prozesse jedoch, die sie
selbst innerlich nicht - oder noch nicht - durchlaufen hat und die sie, wie
das Phänomen des Fundamentahsmus zeigt, nun mit vollem Bewußtsein
zurückweist.
Soweit über die pohdsch-historische Seite der Ost-West-Beziehungen.
Wir wollen uns nun der wirtschaftlichen Seite dieser Beziehungen zuwen¬
den - wirtschaftlich im weitesten Sinne.
Die europäischen Sprachen besitzen lange Listen von arabischen und
persischen Fremdwörtern als Namen und Bezeichnungen von verschie¬
denen Waren, die in islamischer Zeit aus dem Orient nach Europa ver¬
pflanzt oder verkauft oder sonstwie hier bekannt gemacht wurden, darun¬
ter Obst- und Gemüsearten, Medizinalpflanzen, Stoffe, Lederarten u. dgl.
, sowie auch last but not least eine Reihe von kaufmännischen Fachaus¬
drücken aus dem Arabischen, die im späten Mittelalter über das Italie¬
nische nach Europa weitergegeben wurden, z.B. das Wort "Tarif. Dies
allein könnte schon ausreichen, um anzudeuten, daß es durchaus sehr
16 PAUL KUNITZSCH
reichhaltigen Güteraustausch zwisehen Europa und dem islamischen
Orient gegeben haben muß.
Schon in der Andke hatte der Orient Europa mit Konsum- und Luxus¬
gütern vielerlei Art beliefert. Diese Tradition setzte sich auch in der isla¬
mischen Ära fort. Es war aber nun nicht nur der Handelsaustausch, der ein
gegenseitiges Kennenlernen und Übernehmen von Gütern förderte,
sondern ebensosehr die Symbiose von Muslimen und Christen in den vom
Islam eroberten Gebieten Südeuropas und in den Kreuzzugsländem. Hier
lemten die Europäer Methoden vorderorientalischen Ackerbaus kennen,
Bewässemngsverfahren, Zucht- und Veredelungsmethoden an Pflanzen
und Tieren.
Der Handel scheint hauptsächlich eine Domäne italienischer Küsten¬
städte gewesen zu sein. Venedig und Amalfi unterhielten seit dem 9. Jh.,
später dann auch Genua und Pisa, feste Handelsvertretungen in Hafen¬
städten Nordafrikas, Ägyptens und Syriens sowie später im Osmanischen
Reich. Über sie erfolgte im wesentlichen der Warenaustausch zwischen
Westeuropa und dem Orient. Ihre Existenz und ihre Rechte waren ver¬
traglich gesichert. Das Interesse an der Versorgung mit bestimmten Gütern
und an den zu erzielenden Gewinnen und Zolleinnahmen ließ beide Seiten
ihre ideologischen Gegensätze vergessen und gewährleistete einen konti¬
nuierlichen reibungslosen Ablauf der Geschäfte. Auch die entsprechenden
Transportflotten im Mittelmeer wurden von italienischer Seite bereitgestellt
und betrieben. Während der Kreuzzüge, als Handelsfahrten vorüberge¬
hend nicht möglich waren, setzten die italienischen Schiffshalter ihre
Geschäfte mit dem teuren Transport der Kreuzfahrertruppen und ihres
Nachschubs fort. Der Handel, scheint es, funktionierte über alle sonstigen
Hindemisse hinweg so gut, daß von Zeit zu Zeit Päpste und andere
Autoritäten immer wieder strenge Boykottvorschriften erlasssen mußten,
die verhindern sollten, daß die ja eigentlich feindlichen sarazeni.schen
Länder mit strategisch wichdgen Gütern beliefert wurden, wie etwa
Ägypten mit Holz, Eisen und weiterem Zubehör für den Schiffsbau.
Von orientalischen Kaufleuten, die sich in europäischen Ländern
aufgehalten haben, sind nur sehr wenige namentlich bekannt. Ihre Berichte
erschienen anschließend in arabischen Geschichts- und Geographiewer¬
ken. Wir hatten ja zuvor gehört, daß Europa keinen Aufenthalt von Mus¬
limen in seinem Bereich duldete. In genauer Entsprechung schien auch die
Lust orientalischer Kaufleute, in jenen feindseligen kalten Norden zu
reisen oder gar auf längere Zeit dort zu verweilen, sehr gering zu sein. Im
Indischen Ozean dagegen entwickelte sich ein sehr lebhafter arabischer
Seehandel, die berühmten "Dhaus" segelten vom Roten Meer oder vom
Europa und die islamisciie Well im Dialog durch die Jahrhunderte 17
Persischen Golf an die Küsten Ostafrikas und Indiens bis hin nach China.
Das Mittelmeer dagegen war fest in italienischer Hand. Abgesehen von
den genannten itahenisehen Handelsstädten, wurden Orientwaren im Inne¬
ren Europas auch gelegentlich durch umherreisende oder fest ansässige
Juden vertrieben, die zeitweilig ausreichende Duldung genossen und die
ihrerseits Verbindungen über die Grenzen hinweg und bis in den Orient
pflegten.
Interessant ist übrigens, daß sich sehr bald schon im Westen, vor allem
auch wieder in Italien, Handwerksbetriebe damit befaßten, die aus dem
Orient importierten teuren Luxuswaren wie gewisse Stoffe und Gefäße zu
imitieren und dann viel billiger auf den Markt zu bringen, womit sie nicht
nur in Europa selbst großen Erfolg hatten, sondern diese Nachbildungen
konnten sogar mit ebensolchem Erfolg in den Orient zurückexportiert wer¬
den.
Seit dem 16. Jh. begann dann allmählich der Export neuartiger europäi¬
scher Waren, mechanischer und technischer Artikel wie Uhren und Appa¬
rate—einige kann man noch heute in den Sammlungen der Sultanspaläste
in Istanbul sehen.
Mit dem Aufkommen der industtiellen Produktion schließlich verschob
sich die Handelsbilanz einseitig zugunsten Europas. Erst mit der Verteue¬
rung des Erdöls vor zwanzig Jahren konnten die ölproduzierenden
islamischen Länder diesen einseidgen Verlauf stoppen und zeitweilig sogar
umkehren.
Wir sehen, fast unabhängig und unberührt von der geschilderten ideo¬
logischen Frontstellung zwischen Europa und der islamischen Welt konn¬
ten sich vielfältige und kondnuierliche Handelsbeziehungen zwischen den
beiden Welten entwickeln. Die jeweilige reale interessenlage und der Reiz
des Gewinns waren - und sind auch heute - stärker als abstrakte Prin¬
zipien.
In der islamischen Welt macht sich in den letzten Jahren im Rahmen der
fundamentalisdschen Bewegung eine ganz neue Tendenz bemerkbar: hin
zu einem islamischen Geschäftsgebaren, speziell zu einem islamischen
Bankwesen. Zinsen werden im Koran als Wucher (ribä) verurteilt und
verboten. Neu gegründete islamische Banken in vielen islamischen Län¬
dern haben inzwischen Geschäftsprinzipien entwickelt, die ihre islamische
Kundschaft - und natürlich sie selbst - vor der Sünde des Wuchers
bewahren sollen. Wie weit die.se Banken, von denen es bereits über hun¬
dert geben soll, am intemationalen Finanz- und Geschäftsleben teilnehmen
können, ohne gegen ihre Prinzipien zu verstoßen, bzw. wie weit sie dabei
auf Dauer ohne Verluste mitarbeiten können, bleibt abzuwarten.
18 PAUL KUNITZSCH
Als drittes wollen wir nun noch einen Blick auf die kulturellen Bezie¬
hungen zwischen Europa und dem islamischen Orient werfen.
Hier lassen sich drei große, besonders intensive Phasen des Austauschs
feststellen: die Übemahme andk-hellenistischen Gutes durch die Muslime
im 8.-10. Jh., die Übernahme arabisch-islamischen Gutes durch die
Europäer im 10.-13. Jh. und schließlich wieder die Übernahme moderner
Errungenschaften durch die islamische Welt etwa seit 1800. Neben diesen
kulturgeschichtlich besonders einflußreichen Kontaktphasen verlief ein
ständig fließender, nie abreißender Strom weiterer Kontakte und gegensei¬
tiger Einflüsse, die ihre anregende Wirkung in beide Richtungen ausübten.
Bis zu Muhammads Zeit hatte die arabische Halbinsel am Rande der
großen Kulturströme gelegen; von den Leistungen Babyloniens, Griechen¬
lands, Persiens, Indiens waren nur schwache Ausläufer bis in die fernen
Wüsten Arabiens gelangt. Mit der islamischen Expansion wurden dann auf
einen Schlag die Araber zu Herren alter, weit fortgeschrittener Kultur¬
länder. Das erweckte die Wißbegier der Araber, und es kam zu einem gro¬
ßen Aneignungsprozeß. Hunderte von Werken griechischer und spätantik-
hellenistischer Philosophie, Medizin und Naturwissen.schaft wurden ins
Arabische übertragen und damit der berühmte arabisch-islamische Wissen¬
schaftsbetrieb in Gang gesetzt, der dann für mehrere Jahrhunderte leben¬
dig und produktiv blieb. Obwohl diese Wissenschaften sogar bis in die
ureigensten Gebiete islamischen Denkens, in die Theologie, hinein metho¬
disch und teilweise auch faktisch wirksam wurden, waren es dabei doch
eigentlich - man darf sich da nicht täu.schen - Wissenschaften gegen den
Willen und die Tendenzen der islamischen Orthodoxie. Ähnlich verhielt es
sich wenig später im Abendland, wo ebenfalls Päpste und Bischöfe gegen
gefährlichen heidnischen Kram wie Mathematik und Sternkunde wetterten,
wo aber - wie schon im Orient - die Wissenschaft sich dennoch
behauptete und ihren Siegeszug fortsetzte. Der arabisch-islamischen Wis¬
senschaft - im Sinne von Philosophie und Naturwissenschaften - war so
ein für allemal der griechisch-hellenistische Stempel aufgedrückt, und auf
dieser Linie bewegte sie sich weiter, bis es allmählich zur Erstarrung und
zum Stillstand kam.
Die Europäer, die in Kontakt zur Islamwelt kamen - also insbesondere
in Spanien und Süditalien - erkannten bald die Fähigkeiten und die Über¬
legenheit der arabisch-islamischen Wissenschaften. In Europa selbst
waren mit dem Ende der Antike, dem Obsiegen des Christentums und dem
Einzug des Mittelalters die Kenntnis der Wissenschaften und die Konti¬
nuität der Wissenschaftspflege nahezu ausgestorben. In den noch verblie¬
benen Pflegestätten einer Wissenschaftstradition, in den Klöstern, gab
Europa und die islamische Well im Dialog durch die Jahrhunderte 19
man stellenweise noch einige sekundäre, vereinfachende spätlateinische
Texte weiter; griechische Texte aber wurden so gut wie gar nicht mehr
gelesen, die Kenntnis der griechischen Sprache war so gut wie ausgestor¬
ben. Das geistige Leben war beherrscht von kirchlich-theologischen Pro¬
blemen und Studien. Da waren es die Araber, die die antiken Wissen¬
schaften und deren arabisch-islamische Weiterentwicklung den Europäern
überbrachten. Hauptsächlich Spanien wurde der Ort, wo ein gewaltiger
Übertragungsprozeß stattfand. Erste Anfänge gegen Ende des 10. Jh.s,
die Hauptmasse im 12. Jh., letzte Ausläufer im 13. Jh.: So wurden nun
Hunderte von wissenschafdichen Werken, teils original arabische, teils
griechische, die ins Arabische übersetzt worden waren, ins Lateinische
übertragen und den Europäern dadurch ganz neu ins Bewußtsein gebracht.
Die Folge war ein allmählich einsetzender europäischer Universitäts- und
Wissenschaftsbetrieb, der sich immer schneller weiterentwickelte, sich
nach und nach von seinem arabischen Patronat befreite und am Ende zu
unserer hochtechnisierten Welt, unserem postindustriellen Zeitalter führte.
Diese Entwicklung verdankt Europa und die Welt den Arabern; ohne ihre
Leistungen im Mittelalter hätte der Anstoß gefehlt, der in Europa zu dieser
Entfaltung geführt hat.
Neben Spanien ist hier auch Süditalien zu nennen, wo sich in Salemo
seit dem 11. Jh. eine berühmte Schule arabischer medizinischer Lehre ge¬
bildet hatte. Fast gar nichts zu dieser Wissenschaftstradition haben dage¬
gen die Kreuzzugsländer im Vorderen Orient beigetragen. Auch Byzanz
war an der Übernahme orientalischen Gutes beteiligt. Vereinzelte literari¬
sche Themen und Werke sowie einige astronomische und andere wissen¬
schafdiche Texte wurden dort ins Mittelgriechi.sche übertragen.
Seit dem 17. Jh. setzt dann eine Bewegung in umgekehrter Richtung
ein. Erste Werke europäischer Wissenschaft werden ins Arabische und ins
Türkische übertragen: Medizinisches von Paracelsus und anderen. Astro¬
nomisches und Mathemadsches von Lalande, Cassini, la Hire. Und seit
dem 19. Jh. öffnete sich die islamische Welt vollends dem Zustrom eu¬
ropäischer Wissenschaft und Technik. Hier spielt sich nun der umgekehrte
Vorgang ab wie im Mittelalter: Jetzt ist gewissemiaßen die westliche Welt
der Lehrmeister, die islamische Welt der Schüler. Im Gegensatz zum
Mittelalter aber, als die Schüler, die Europäer, die arabische Wissenschaft
meist nur aus Büchern, an westlichen Orten, aufnahmen, kommen heute
die orientahschen Studenten in großer Zahl zum Lernen direkt in die
westlichen Länder. Was sie hier kennenlernen, sind nicht mehr nur die
rein technischen Fachkenntnisse, sondern auch Erfahrungen mit westli¬
chen Lebensformen. Es bleibt abzuwarten, wieweit sich dies auf die wei-
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tere Entwicklung der Lebensformen in den islamischen Ländem auswirken
wird.
Neben dieser rezeptiven Tätigkeit sind viele Wissenschaftler aus islami¬
schen Ländem heutzutage aber auch aktiv und produktiv in Forschung und
Lehre tätig, teils im westlichen Ausland, teils aber auch in den Ländern
selbst, wo nach westlichem Vorbild immer mehr entsprechende Einrich¬
tungen ins Leben gerufen werden. Auch im Weltraum sind die Muslime
inzwischen vertreten. Im Juni 1985 flog der erste Araber mit einem
Discovery-Flug in den Weltraum. Es war der saudi-arabische Prinz Sultan
ibn Salman ibn Abd al-Aziz, ein Neffe des Königs Fahd von Saudi-
Arabien; planmäßig vollzog er an Bord des space shuttle eine Reihe von
Experimenten und setzte dabei den zweiten arabischen Satelliten, Arabsat
B, in seiner Umlaufbahn aus, der nun zusammen mit Arabsat A zur
Nachrichtenübermitdung über der Erde postiert ist.
Neben diesen Berührungen auf dem Gebiet der Wissen.schaften sind
endlich auch die reichen Anregungen zu erwähnen, die die beiden Welten
einander auf dem Felde der Literatur und Kunst geboten haben. Dabei war
Europa für die Reize und Impulse des Orients in früherer Zeit allerdings
merklich mehr aufgeschlossen als umgekehrt. Ich will Ihre Geduld hier
nicht lange mit der Aufzählung von Namen und Fakten strapazieren;
Namen wie Wolfram von Eschenbach, Dürer, Lessing, Moliere, Mozart,
Goethe, Rückert mögen genügen. Durch den ägyptischen Schriftsteller
Nagib Mahfüz ist die arabische und islamische Welt seit 1988 nun auch
verdientermaßen in der intemationalen Elite der Nobelpreisffäger vertreten.
Beteiligt an der reichen Rezeption des Orients in Europa seit der Renais¬
sance waren als Vermittler nicht nur Reisende, Künstler und Historiker
aller Art, sondern auch jene neue Wissenschaft, die nur der Westen kennt
und zu welcher der Orient kein Gegenstück hervorgebracht hat: die Orien¬
talistik. Sie machte dem Westen aufgmnd wissenschaftlicher Durchdrin¬
gung unzählige Quellen aus der islamischen Welt zugänglich und verhalf
dem Westen zu einem realistischen, auf zuverlässiges Material gegründe¬
ten Bild vom Orient. Es ist merkwürdig oder auch bezeichnend, daß sich
in der islamischen Welt ein analoges Bedürfnis nach einem vertieften
Verständnis des Westens nie gezeigt hat. In den letzten anderthalb Jahr¬
hunderten hat zwar die Reisetädgkeit aus dem Orient in den Westen
erheblich zugenommen, und es gab im Gefolge davon auch reichlich
Berichte über die westliche Gesellschaft und das westliche Leben. Aber
alles in allem wurde offenbar kein Nerv getroffen, der bewirkt hätte, daß
in der islamischen Welt eine "Okzidentalistik" entstanden wäre. Ja die
wesdiche Orientalistik hat sogar auf den Orient selbst zurückgewirkt, in-
Europa und die islamisciie Well im Dialog durch die Jahrhunderte 21
dem sie dazu beitrug, dort das Bewußtsein von der eigenen Vergangen¬
heit, der eigenen großen Kulturleistung zu wecken. So ist allmählich in der
arabischen Welt der Begriff des turät, des großen eigenen Kulturerbes, zu
einer aktuellen Größe geworden, die im Prozeß der Entstehung eines
neuen Selbstwertgefühls der islamischen Nation eine wichtige Rolle spielt.
Auf der anderen Seite wird seit einigen Jahren im Orient den westlichen
Orientahsten häufig der Vorwurf gemacht, Geist und Gehalt islamischen
Wesens und orientalischer Traditionen verzerrt und entstellt wiederzuge¬
ben und dem Westen ein gehässiges Zerrbild des islamischen Orients vor-
zuzeichnen.
Hier kommen wir an einen wunden Punkt in den europäisch-islami¬
schen Beziehungen, der freilich so neu nicht ist. Ich hatte ja eingangs die
kontroverse Ausgangslage umrissen, in der sich Europa und die islami¬
sche Welt gegenüberstanden und bei der auf beiden Seiten religiös-ideo¬
logische Grundsätze das Verhältnis bestimmten, die unvereinbar erschei¬
nen. So nahm dann - und das ist höchst merkwürdig und schwer zu
verstehen - das ganze Mittelalter hindurch der Westen seine bekannte total
negative Haltung gegenüber der islamischen Welt ein. In allen westlichen
Äußerungen jener Zeit über den Islam und die islamische Weit wimmelte
es nur so von gröbsten Entstellungen und Schmähungen, die sich auf
Seiten des wesdichen Publikums verfestigten und von denen latent man¬
ches noch bis in die heutige Zeit nachwirken mag - und das, obwohl zur
selben Zeit durchaus brauchbare sachliche und verhältnismäßig korrekte
Informadonen über den Islam in griechischer und lateinischer Sprache zur
Verfügung standen. Gleichzeitig aber zögerte man nicht, die wissenschaft¬
lichen Leistungen dieser "Heiden" und "Sarazenen" nicht nur anzuerken¬
nen, sondem die doctrina arabum in vollen Zügen begierig aufzusaugen.
Heute nun steht die islamische Welt unter dem Druck ungeheurer
Widersprüche. Sie ist sich ihres nahezu unaufholbaren Rückstandes in
technologisch-wissenschafdichen Dingen bewußt, ist gleichzeitig kon¬
frontiert mit ihrem ruhmreichen Erbe aus der Vergangenheit und glaubt
sich andererseits zumindest in moralischer Hinsicht jenem fortgeschritte¬
nen Westen haushoch überlegen. Dazu brennt seit 40 Jahren die offene
Wunde Palästina, für die man bisher kein - im arabischen Sinne durch¬
schlagendes - Gegenmittel zu finden vermochte. So hin- und hergerissen
zwischen vielerlei Meinungen, Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen
und Verzweiflungen steht die islamische Welt zur Zeit da.
Durch im Ausland erscheinende arabische Zeitschriften, die auch viel
über das intellektuelle Leben berichten, wird offenbar, daß es eine große
Gemeinde arabischer Intellektueller Im Exil - im freiwilligen oder im
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erzwungenen Exil - gibt, in Lxsndon, Paris und den USA. Sie geben zu,
daß sie dort eine intellektuelle Freiheit genießen, die in ihren verschiedenen
Heimatländern aus vielerlei Gründen unvorstellbar ist, und sie leiden
gleichzeidg unter den freien westlichen Lebensformen, die ihren herge¬
brachten Traditionen so fem stehen. Es ist hier ein dramatischer Prozeß im
Gange, dessen Ausgang nicht abzusehen ist. Der europäisch-islamische
Dialog findet heute an vielen Stellen statt, offen sichtbar auf offizieller
Bühne und für den Außenstehenden unsichtbar im unbeleuchten Hin¬
tergrund. Welche Richtung letzten Endes im Orient siegen wird, die der
westlichen Freiheit und Kreativität - die sich in unserem Jahrhundert dort
schon einmal zu entfalten begann, nun aber zusehends wieder zurückge¬
drängt wird - oder die fundamentalistische, mit der Rückwendung zur
strengsten Befolgung und Anwendung von Koran und Tradition, ist of¬
fen. In dieser kridschen Situation spielt die westliche Welt durch ihre
bloße Existenz, ihren Lebensstandard und ihre Lebensformen eine vehe¬
mente Rolle. Direkte Einmischung erschiene jedoch kaum möglich und
wenig sinnvoll. Am Beginn ihres 15. Jahrhunderts muß die islamische
Welt ihre Zukunft selbst besdmmen.
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Fachgruppe Altorientalistik und Semitistik
Leitung: Dietz Otto Edzard, München
Die sumerischen Georgica. Dichtung und Wahrheit*
Von BLAHOSLAV HruSka, Prag
Die Bewertung der Landwirtschaft in der sumerischen Literatur ist wi¬
dersprüchlich wie die Aussagen über die Einstellung der Sumerer zur
Arbeit In der sumerischen Mythologie waren es die Götter Enlil und Enki,
die den Menschen Mutterschaf und Getreide schickten und sie mit der
Pflege ihrer Kultstätte beauftragten. Früher - heißt es in den Gedichten -
hatten die Götter selbst Kanäle gebaut und Felder bestellt. Gemäß den
Streitgesprächen, die als theophorisch lehrhafte Dichtungen in den Schrei¬
berschulen entstanden, brachten Schafzucht und Pflugwinschaft in das
Land Sumer Überfluß.'
Die Landwirtschaft ist eine pragmatische Tätigkeit, deren Grundsätze
ein ständiger Wechsel zwischen Mensch und Natur bestimmt. Der Mensch
ist in besdmmte ökologische Gegebenheiten geboren. Er kann sie im Ar¬
beitsprozeß zwar beeinflussen, aber kaum ändern. Sein "Waffenarsenal"
(technologische Vorkenntnisse, Kooperation) reicht nicht aus. Die Motiva¬
tion zur Arbeit ist die Sorge um die Existenz. In dieser ungünstigen Lage
ist es verständlich, daß der Mensch in den literarischen Texten für Erfolge
* Zu den verwendeten Abkürzungen ist W. VON SODEN: Akkadisches Handwörter¬
buch, Bd. 3. Wiesbaden 1981, S. IX-XVI und ergänzend die Zeitschrift Orientalia N.S.
53 (1984), S. 1* - 8* zu vergleichen. Zusätzliche Abkürzungen sind: ASJ — Acta Sume¬
rotogica, Hiroshima; BSA — Bulletin on Sumerian Agriculture, Cambridge U.K.; FAO
— Food and Agriculture Organizadon, Roma.
' Mutterschaf und GeUeide, Z. 53-58. Zu den Literaturhinweisen s. B. HRUSKA:
Tradiüni obilnäfstvi stare Mezopolämie. [Der iraditionelle Ackerbau im allen Mesopo¬
tamien]. Praha 1990, S. 184; weiter mit HRUSKA: Ackerbau abgckür/i.
Cornelia Wunsch (Hrsg.); XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge, München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart