Gegenwärtig zeichnet sich im Bereich der internationalen Berufsbildungspolitik eine Vielschichtigkeit ab , die von der vergleichenden Berufsbil- dungsforschung bislang wenig beachtet wurde. Während auf europäischer Ebene Akkredi- tierungs- und Entsprechungs- systeme im beruflichen Be- reich favorisiert werden, die von outcomes, also Lerner- gebnissen, und weniger von Bildungswegen ausgehen, fin- det dort, wo die zentralen An- regungen für die Idee von
"Qualifikationsrahmen" zu lo- kalisieren sind, nämlich im an- gelsächsischen Kontext, eine Entwicklung statt, die zumin- dest ambivalent zu sehen ist.
Mit der Betonung eines "offe- nen Ausbildungsmarktes"
(Deißinger , 2004; Harris, 2001) und der gleichzeitigen Re-Orientierung an klassi- schen Ausbildungsformen ist insbesondere Australien ein interessanter Beleg dafür, dass unterschiedliche natio- naltypische Vorstellungen von
"Kompetenz" unter einer so- wohl berufspädagogischen wie auch berufsbildungspoliti- schen Perspektive mittel- bis langfristig durchaus konver- gieren könnten.
und lokale Bildungsträger so- wie öffentliche Schulen ope- rieren und konkurrieren auf einem "offenen Ausbildungs- markt". Gleichzeitig gibt es seit Anfang der 1990er Jahre eine Zielsetzung, die in Deutschland gegenwärtig von der Bildungspolitik konterka- riert zu werden scheint. Es geht hierbei um die Erhöhung des Anteils der Schulabgän- ger, die für eine nicht univer- sitäre Form der Qualifizierung optieren sollen. So haben Schüler der Sekundarstufe die Möglichkeit, auf der High School bereits eine berufliche Ausbildung (eine SBNA - school-based new apprenti- ceship) zu beginnen, die mit einer Doppelqualifikation (d. h.
einem höheren Schulab- schlusszeugnis sowie einem
nationalen beruflichen Zeug- nis oder einer diesbezüg- lichen Teilqualifikation) zerti- fiziert wird. Ein weiteres Merk- mal für die "lockere" Träger- struktur ist, dass bspw. eine Lehre (apprenticeship) alter- nierend (Arbeitsplatz plus TAFE College) oder aus- schließlich am Arbeitsplatz durchgeführt werden kann.
Entscheidend ist, welche spe- zifischen Ausbildungsformen
"vor Ort" festgelegt werden und ob es sich bei den Trä- gern bzw. Lernorten um sog.
registered training Organisati- ons (RTOs) handelt. Ergänzt werden diese flexible delivery und die zugrunde liegende Idee der user choice, die nicht nur für die Erstausbildung, sondern auch für die Weiter- bildung und die Erwachsenen-
bildung charakteristisch sind, durch die Überzeugung, dass Berufsbildung auf "realisti- sche" Ausbildungsarrange- ments zu zielen hat.
Das heutige Berufsbildungs- wesen Australiens ist im We- sentlichen das Ergebnis der Berufsbildungsreform seit An- fang der 1990er Jahre. ln der Literatur wird die sog. Trai·
ning Reform Agenda mit einem Bündel von Reform- schritten bzw. Zielsetzungen beschrieben (Harris, 2001, S.
231), nämlich:
der Schaffung eines kom- petenzorientierten Qualifi- zierungs- und Zertifizie- rungssystems (Competen- cy-based Training/CBT);
der Ausrichtung des Be- rufsbildungssystems an den Qualifikationsbedürf-
Grundzüge der
Berufsbildungspolitik seit den 1990er Jahren
Das australische Berufsbil- dungswesen unterscheidet sich schon auf den ersten Blick vom deutschen, quasi- monolithisch aufgebauten dualen Ausbildungssystem.
Einrichtungen der Technical and Further Education (TAFE Colleges), private Bildungsträ- ger, Unternehmen, Einrichtun- gen der Erwachsenenbildung
'··
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Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-0-339436
Erschienen in: Berufsbildung : Zeitschrift für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule ; 59 (2005), 93. - S. 44-45
nissen der Wirtschaft (in- len Definition der Regierung Musterbeispiel für die Ausge-
die Marktorientierung des ge- dustry-Jed system); (ANTA, 1998, S. 10 f.) handelt staltung individualisierten, fle- samten Berufsbildungssys- der Zusammenführung der
unterschiedlichen Qualifi- zierungswege und Ab- schlussmöglichkeiten in ei- nem nationalen Qualifikati- onsrahmen (Australian
es sich hier um "the specifica- tion of knowledge and ski/1 and the application of that knowledge and ski/1 to the standard of performance ex- pected in the workplace". Als
xiblen "kompetenzorientierten Lernens" bezeichnet werden (Misko, 1999) und kontrastiert sowohl institutionell als auch didaktisch mit den durch das
"organisierende Prinzip" der
tems heraus.
Literatur
1. Australian National Trai- ning Authority (1998) : Up- dated Guidelines for Trai- Qualifications Framework); CBT wird demzufolge eine Beruflichkeit vergleichsweise ning Package Developers : der didaktischen Systema-
tisierung von Berufsbil- dungsprogrammen und ih- rer Akkreditierung (training packages);
der Entwicklung neuer Strukturen der beruflichen Erstausbildung für Auszu- bildende in der Wirtschaft (New Apprenticeships);
der Schaffung eines "offe- nen Ausbildungsmarktes", einschließlich der Einbezie- hung privater Anbieter
Form der Aus- oder Weiterbil- dung verstanden, die ausge- wiesen wird als "performance- and standards-based and re- Jated to realistic workplace practices (...)". Der für deut- sche Vorstellungen fast revo- lutionäre Fokus liegt hierbei darin, dass Lernwege und Lernkontexte kontingent blei- ben und stattdessen die Lern- ergebnisse (outcomes) in den Vordergrund treten: "lt is fo- cussed on what learners can
"geschlossenen" Strukturen in Deutschland, wie bspw. der for- malisierten Dualität der Lern- organisation oder dem Kam- mersystem. Dennoch kommt auch der Lehre eine wichtige Funktion zu. Bei alldem darf al- lerdings nicht vergessen wer- den, dass das Land ein "ln- tegrationskonzept" verfolgt, bei dem die Grenzen zwischen traditionell geschiedenen Sub- systemen des Bildungswe- sens verschwimmen sollen
Australia's National Training Framework, Melbourne (ANTA) .
2. Deißinger, Th. (2004): Der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und die Visi- on eines ,open training mar- ket': australische Erfahrun- gen und Entwicklungen. ln:
Münk, D. (Hrsg.): Perspekti- ven der beruflichen Bildung und der Berufsbildungspoli- tik im europäischen und in- ternationalen Kontext (13.
(open training marke ; do rather than on the courses und stattdessen die Vergleich- Hochschultage Berufliche der Verbesserung der Zu-
gangschancen zu berufli- cher Bildung für unterreprä- sentierte Bevölkerungs- gruppen (inc/usion).
Wir haben es mit einem "nach- frageorientierten" System zu tun, dessen Funktion es ist, flexible, auf die "Kunden"
they have done".
Trotz der unverkennbaren out- come-Orientierung setzt die australische Berufsbildungs- politik gleichzeitig auf die Re- strukturierung des entry-level training system der berufli- chen Bildung. Was die forma- lisierte betriebliche Ausbildung
barkeit allgemeiner und be- ruflicher Abschlüsse in den Vordergrund rückt. Zum Schluss soll ein Zitat die Un- terschiedlichkeit zwischen dem australischen und dem deutschen Berufsbildungssys- tem herausstellen, auch als Hinweis an die deutsche Be-
Bildung, Darmstadt), Siele- feld, S. 13-31.
3. . Harris, R. (2001):
Training Reform in Australia - impli- cations of a shift from a sup- ply to a demand-driven VET system.
ln: Deißinger, Th. (Hrsg.):
Berufliche Bildung zwischen nationaler Traditi- (Betriebe und Individuen) zu- betrifft, so gibt es seit 1998 die rufsbildungspolitik, mit den on und globaler Entwick- geschnittene Qualifizierungs-
optionen zu offerieren. Kenn- zeichnend ist demnach auch und vor allem die Gestaltungs- macht der Wirtschaft bzw. In-
sog. New Apprenticeships. Es handelt sich hier um vertrag- lich fixierte Ausbildungspro- gramme, die sich an einer na- tionalen Qualifikation (z. B. ei-
Vorzügen des eigenen - im- mer unter dem Aspekt der kul- turellen und sozio-ökonomi- schen Bindung zu lokalisieren- den - Systems nicht leichtfer-
lung. Beiträge zur verglei- chenden Berufsbildungsfor- schung, Baden-Baden, S.
231-254 .
4. Harris, R./Deißinger, Th.
dustrie (der "Nachfrageseite"). nem Certificate II und somit tig umzugehen (Harris/Deißin- (2004): Learning Cultures Dieser Aspekt einer "De-lnsti- an einem dazugehörigen trai- ger, 2004, S. 25): for Apprenticeships: a com- tutionalisierung" des Berufsbil- ning package orientieren. "Jn contrast, the strength ot parison of Germany and dungssystems wird als "indu-
stry-Jed' bezeichnet. Der "offe-
Diese curricularen Regelwer- ke werden auch in den TAFE
and respect for vocational education is relatively weak
Australia. ln: Searle, J./Yas- hin-Shaw, 1./Roebuck, D.
ne Ausbildungsmarkt" sorgt Colleges eingesetzt. Ihre in Anglo-Saxon countries, in- (Eds.), Enriching Learning hierbei dafür, dass die Bedin- Akkreditierung führt zur Ein- cluding Australia. The expec- Cultures. Proceedings of the gungen einer Berufsbildungs- sortierung in den 11-stufigen tation ot parents is strongly 11th Annual International maßnahme individuell "ver- Australian Qualifications Fra- towards their children going Conference on Post-com- handelt" werden können. Al-
lerdings muss sie, um akkredi- tiert zu werden, den Kriterien gehorchen, die den nationalen Kompetenzprofilen (training
mework (AQF), der die berufli- chen wie auch die tertiären Bil- dungswege umfasst. Sympto- matisch für die Flexibilität des australischen Berufsbildungs-
to university, getting an aca- demic education, because it is more highly respected.
VET pathways are not so weil known".
pulsory Education and Trai- ning, Volume Two, Brisbane (Australian Academic Press) 2003, S. 23-33.
5. Misko, J. (1999): Compe- packages) entsprechen. systems ist trotz dieser For- Vor diesem Hintergrund über- tency-based Training,
Kompetenzorientierte Aus- und Weiterbildung als Kern- stück des Berufsbildungs- systems
Kennzeichnend für die austra- lische "Berufsbildungsphiloso- phie" ist das Paradigma der
"Kompetenzorientierung", das sog. Competency-based Trai- ning (CBT). Nach der offiziel-
malisierung, dass ein ausbil- dender Betrieb unterschied- liche Modelle einer alternie- renden Ausbildung nutzen und hierbei staatliche (zumeist ein lokales TAFE College) oder private training providers als Partner heranziehen kann.
Australien kann somit sowohl unter einer Nachfrage- als auch Angebotsperspektive als
rascht es auch nicht, dass die australische Berufsbildungspo- litik und -forschung immer wie- der auch auf das deutsche Duale System geschaut hat.
Letztlich dominiert jedoch die Eigenständigkeit bei der natio- nalen Lösung des Qualifizie- rungsproblems, und hier ragen unübersehbar das Konzept der Kompetenzorientierung sowie
Leabrook (NCVER).
Autor:
Prof. Dr. Thomas Deißinger
Universität Konstanz Fachbereich Wirtschaftswis- senschaften, Fach D 127 78457 Konstanz
Thomas. Deissinger@un i- konstanz.de