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I. Habitus und soziales Lernen im zivilisatorischen Prozess

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René Wetzel

René Wetzel (Université de Genève) Partizipation – Mimesis – Habitus.

Pädagogisch-didaktische Spiegeleffekte im ‚Welschen Gast’ (1215/16) Thomasins von Zerclaere

I. Habitus und soziales Lernen im zivilisatorischen Prozess

Spätestens seit den 1968er Studentenrevolten, als auch die Germanistik – und vermehrt noch deren mediävistischer Zweig – unter dem Legitimations- druck standen, ihr Fach und ihre Inhalte als für die Gesellschaft relevant zu legitimieren und entsprechend umzugestalten, interessiert sich das Fach für Modelle und Theorien der Soziologie zur Erforschung literarischer Phänomene und Texte. Die neuere, von der Kulturwissenschaft geprägte germanistische Text- und Literaturwissenschaft, mit ihrem ausgeprägten Faible für Theorie, tut dies auch heute noch. Es ist allerdings eher selten eine Theorie, die „wie die Luft, die man atmet, überall und nirgends ist”.1 Im Gegenteil: Sie ist überaus sichtbar und dominant und gar nicht so selbstverständlich wie die Atemluft. Entsprechend ist es auch nicht Bourdieu, der bei dieser For- schungsrichtung im Vordergrund steht, sondern Niklas Luhmann mit seiner stringenteren Systemtheorie2. Das hat sich trotz wachsenden Interesses für Bourdieu in den letzten Jahren kaum geändert. Bei der lange Zeit auffälligen Nichtbeachtung Bourdieus durch das Gros der germanistischen Text-, Litera- tur- und Kulturwissenschaften mag mitgespielt haben, dass der Soziologe eine französische Gesellschaft und ein Milieu von französischen Intellektuel- len beschreibt, die nicht einfach telquel auf andere Gesellschaftsmodelle übertragbar sind – und die auch kaum je auf vormoderne Gegebenheiten übertragen wurden. Mit solchen Problemen der Rezeption hatte ein anderer Soziologe, Norbert Elias, nicht zu kämpfen, dessen Werk Bourdieu nicht nur stark beeinflusst hat, und der bekanntlich in jahrzehntelangem brieflichem Austausch mit ihm stand:3 Seine Zeichnung der höfischen Gesellschaft und

1 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes.

Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2001, S. 284.

2 Vgl. Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. von Dirk Baecker. Hei- delberg (Carl-Auer) 72017.

3 Inken Hasselbusch: Norbert Elias und Pierre Bourdieu im Vergleich. Eine Untersu- chung zu Theorieentwicklung, Begrifflichkeit und Rezeption. Diss. Karlsruhe (masch.) 2014. https://d-nb.info/1070381128/34 <09/09/2020>

gegenwärtigen Forschung

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ihrer Stellung im zivilisatorischen Prozess wurde – allerdings auch erst nach seinem späten Erfolg als Suhrkamp-Autor ab der Mitte der 70er Jahre – in Deutschland und gerade auch in der germanistischen Mediävistik4 stark dis- kutiert. Hingegen geriet Elias in der Folge, ab den 80er Jahren des 20. Jhs., in das Kreuzfeuer der Kritik, als ihm bzw. seinen Studien blinder Zivilisations- optimismus, angebliche Oberschicht-Fixiertheit und latenter Eurozentrismus, wenn nicht gar Kolonialismus, vorgeworfen wurde.5 Darunter mag gerade auch die Bourdieu-Rezeption gelitten haben.

Nun ist der von Elias beschriebene zivilisatorische Prozess gewiss nicht getrennt vom Aufbau eines entsprechenden sich entwickelnden Habitus zu denken, ein Begriff, den auch Elias verwendet.6 Der Habitus ist abhängig von dem, was Bourdieu Felder und Elias Figurationen nennt,7 die sich auf gesell- schaftlicher Ebene befinden. Habitus bildet sich in einem Raum wechselseiti- ger Wahrnehmung und Reaktionen aus, in einer face-to-face-Kommunika- tion, bei welcher die sprachliche (mündliche wie schriftliche) Instruierung eine untergeordnete Rolle spielt. Das war wohl früher nicht anders als heute, im Gegenteil: In der semioral geprägten Vormoderne dürfte der Primat des konkret Gesehenen, Beobachteten und Gehörten über das Gelesene noch bedeutender gewesen sein und das körpergebundene Lernen am agierenden Vorbild oder dessen ikonischer Repräsentation noch stärker im Vordergrund gestanden haben als heute.8 Gerade der Sozialisierungsprozess, das soziale Lernen des Kindes und jungen Menschen also, ging und geht noch immer nach diesem Modell vonstatten.

4 Rüdiger Brandt: Die Rezeption von Norbert Elias in der Altgermanistik. Ein Theorie- defizit und sein Erfolg. In: Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1996, S. 172–193.

5 Vgl. Michael Hinz: Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? Wissenschaftsso- ziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse. Opladen (Leske und Bud- rich) 2002; Annette Treibel: Die Soziologie von Norbert Elias. Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissen- schaften) 2008.

6 Hasselbusch (Anm. 3), S. 21–30. Der Begriff scheint sich allerdings, weil er wesent- lich mit einem äußeren Verhaltensmuster korreliert, mehr mit Bourdieus Terminus der Hexis zu decken, auch wenn die Grenzen zwischen Habitus und Hexis bei Bour- dieu fließend sind; vgl. ebd., S. 30–36 und Vergleich 36–38.

7 Ebd., S. 83–99.

8 Vgl. dazu etwa die Fülle an Indizien bei Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München (C. H. Beck) 1995.

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II. Der ‚Welsche Gast’ Thomasins von Zerclaere und seine Didaktik

Horst Wenzel hat diesen Lern- und Sozialisierungsprozess in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verschiedentlich am Beispiel von Thoma- sins von Zerclaere ‚Welschem Gast’ nachgezeichnet,9 eines deutschsprachi- gen moraldidaktischen Erziehungswerks und Fürstenspiegels aus den Jahren 1215/16, welcher im näheren oder weiteren Umkreis des deutschsprachig geprägten Hofs des Patriarchen von Aquileia entstanden ist und sich explizit an ein heterogenes Publikum der sozialen Oberschicht10 wendet:11 Vrume rîtr und guote vrouwen / und wîse phaffen suln dich schouwen (V. 14695–

14696).12 Das Objekt der Beobachtung, das geschaute Du (dich), betrifft den

9 Vgl. u.a. Horst Wenzel: zuht und êre. Höfische Erziehung im ‚Welschen Gast’ des Thomasin von Zerclaere (1215). In: Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern. Hrsg. von Alain Montadon. Bern usw. (Peter Lang) 1991, S. 21–42; ders.: Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. v. Hans- Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 21995, S. 178–

202; ders.: Hören und Sehen (Anm. 8); ders., wan die vrumen liute sint, unde suln sîn spigel dem chint. Zum Verhältnis von Zeigen und Wahrnehmen im ‚Welschen Gast’ des Thomasin von Zerclaere. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahr- nehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann und Carsten Morsch (Zsf. Germanistik, N.F. 8). Bern usw. (Lang) 2004, S. 181–215;

ders.: Sagen und Zeigen. Zur Poetik der Visualität im ‚Welschen Gast’ des Thomasin von Zerclaere. In: ZfdPh 125 (2006), S. 1–28.

10 Nur diese Kultur ist für das Mittelalter aus Schrift- und Bildzeugnissen einigermaßen rekonstruierbar! Der Vorwurf der Oberschichtfixiertheit, den man Elias gemacht hatte (s.o.), greift deshalb ins Leere.

11 Vgl. den Überblick in der Einleitung von Eva Willms in: Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast. Text (Auswahl), Übersetzung, Stellenkommentar. Ausgewählt, einge- leitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms. Berlin u. New York (de Gruyter) 2004, S. 1–20, sowie in der Einleitung von Christoph Schanze in: Chris- toph Schanze: Tugendlehre und Wissensvermittlung. Studien zum Welschen Gast Thomasins von Zerklaere (Wissensliteratur im Mittelalter 53). Wiesbaden (Ludwig Reichert) 2018, S. 1–69.

12 Tüchtige Ritter, gute Damen und gelehrte Geistliche sollen dich sehen/rezipieren.

Ich zitiere den mittelhochdeutschen Text nach der Ausgabe von Rückert: Der Wäl- sche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert (Quedlinburg u.

Leipzig 1852). Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Ber- lin (de Gruyter) 1965; die neuhochdeutschen Übersetzungen lehnen sich, wo vor- handen, mehr oder weniger locker an die Auswahlausgabe von Willms (Anm. 11) an und stammen im Übrigen vom Verf. der vorliegenden Studie.

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von Thomasin direkt angesprochenen welschen gast, den Fremdling aus Ita- lien also, den Thomasin in die deutschen Lande aussendet. Damit personifi- ziert er einerseits das Buch als handelnde und sprechende Figur, welche ihre Lehre darbietet. Auf der anderen Seite ergibt sich eine Identifizierung dieses welschen gasts mit dem italienischen Autor des Werks und folgerichtig eine Ineinssetzung des Buchs mit dem Autor. So verkörpert im eigentlichen Sinne des Wortes das sprechende Buch und dessen Lehre seinen Autor bzw. den Lehrenden; in einer Situation des Textvortrags durch eine Drittperson nimmt der Vortragende Thomasins Rolle ein und ist für die mit der Lehre angespro- chenen Hörerinnen und Hörer sichtbar und beobachtbar wie in einer realen face-to-face-Situation. In den die Handschriften begleitenden und wohl auf Thomasin zurückgehenden Illustrationen überbringt dem als „deutsche Zunge” bzw. Hausherrin personifizierten Publikum ein Bote das Werk. Dieser kann als vermittelndes und auch wieder körperlich sichtbares Medium13 sei- nerseits auf visueller Ebene mit dem Autor bzw. welschen Gast identifiziert werden.14

Horst Wenzel hat den Sozialisierungsprozess und die Bedingungen des sozialen Lernens im mittelalterlichen, semioralen Kontext unter die Doppel- formel von Partizipation und Mimesis gestellt:15 von Beobachtung, direkter Teilhabe und mehr darstellender als bewusst nachahmender Angleichung im Raum wechselseitiger Wahrnehmung; und er hat dies auch auf das personi- fiziert sprechende und in seiner körperhaften Materialität den Autor vertre- tende Buch als Kommunikationspartner ausgedehnt, so dass schließlich auch die Partizipation am Text an die Stelle einer Teilhabe am direktem sozialen Geschehen treten kann.16

Literarisch dargestellte Körperbilder zeigen und sprechen gleichzeitig.

Sie sind den rhetorischen Ordnungen von Gestik, Mimik, Bewegung und Plastizität unterworfen, die historisch unterschiedlichen Diskursen zuge- hören, also keinesfalls stets nur das gleiche bedeuten. Medial vermit- telte Körperbilder sind bevorzugte Projektionsflächen kultureller Zu- schreibungen für Bildende Kunst und die erzählende Literatur: Der Kör- per ist sichtbar und hörbar, wahrnehmbar für alle unsere Sinne. Unter dieser Perspektive wird höfische Kommunikation in ihrer ganzen Kom- plexität erst dann erkennbar, wenn wir die Sprache des Hofes im Zusam-

13 Vgl. die Zusammenstellung im Portal ‚Welscher Gast digital’ (http://digi.ub.uni- heidelberg.de/wgd/index.html <13/08/2019>): http://wgd.materiale-textkulturen.

de/illustrationen/motiv.php?m=2 <13/08/2019>

14 Vgl. dazu auch das Kapitel ‚Die Personalisierung des Buches’ bei Wenzel (Anm. 8), S. 204–225.

15 Wenzel: Partizipation und Mimesis (Anm. 9); ders. (Anm. 8), S. 25–37.

16 In dem in Anm. 14 genannten Kapitel.

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menhang sehen mit ihrer Fähigkeit, alle die Zeichen zu vergegenwärti- gen, die über die Wahrnehmung der Sinne isoliert oder auch kombiniert erfasst werden.17

Folgerichtig empfiehlt Thomasin bzw. der ‚Welsche Gast’ denn auch für Kinder und heranwachsende junge Menschen die Lektüre/Rezeption literarischer Werke, mit ihren exemplarischen (positiven wie negativen) Figuren vornehm- lich der historischen bzw. heilsgeschichtlichen Vergangenheit, bedingt aber auch solche, die der Fiktion entspringen; Figuren, mit denen genauso verfah- ren werden kann wie mit den beobachteten realen Personen der sozialen Umwelt.18 Einen vollwertigen Ersatz vermögen höfische Romane aber auch für Thomasin nicht darzustellen, und schon gar nicht als Lektüre für erwach- sene Menschen oder gar lateinisch gebildete litterati.19 Volkssprachliche Werke erzählenden Inhalts nehmen – wie gemalte Bilder – nur eine behelfs- mäßige Funktion ein, wie dies auch Thomasins eigene, schriftlich formulierte Lehre tut.20

Letztere richtet sich im ersten der insgesamt zehn Bücher des wel- schen gasts vor allem an Kinder und Jugendliche und vermittelt ihnen die Prinzipien der höfischen Zucht in Form einer eigentlichen Hoflehre. Diese Prinzipien sollen so eingeübt und verinnerlicht werden, dass sie zur Ausbil- dung des Ethos des erwachsenen höfischen Menschen beitragen, an welchen sich der Inhalt der übrigen neun Bücher wendet. Hier wird der Habitus vor allem des mit Macht- und Herrschaftsfunktionen ausgestatteten Adligen in seinem Ideal- wie auch kritisierten Mangelzustand beschrieben. Die politi-

17 Wenzel (Anm. 8), S. 45f.

18 Vgl. Klaus Düwel: Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugend- lehre des 13. Jahrhunderts. In: Fabula 32 (1991), S. 67–93.

19 Vgl. René Wetzel: La vérité dans l’habit du mensonge. Oralité, visualité et écriture chez Thomasin von Zerclaere. In: Au-delà de l’illustration. Texte et image au Moyen Age, approches méthodologiques et pratiques. Hrsg. von René Wetzel und Fabrice Flückiger (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen, 6). Zürich (Chronos) 2009, S. 165–182.

20 Vgl. zu diesem Komplex die grundsätzlichen Überlegungen von Michael Cursch- mann: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PBB 106 (1984), S. 218–257; ders.: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Co- dex Manesse. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Akten des intern. Kolloquiums 1989. Hrsg. von Hagen Kel- ler, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach (Münstersche Mittelalter-Schriften 65).

München 1992, S. 211–229.

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sche Instabilität im deutschen Reich zur Zeit der Abfassung des ‚Welschen Gasts’21 wird von Thomasin auf die mangelnde Vorbildlichkeit der Hierarchie- spitze zurückgeführt, welche von Oben nach Unten die gesamte Gesellschaft zu korrumpieren droht. Dass der Fisch immer vom Kopf stinkt, war schon Thomasin bewusst. Vom Herrschenden muss deshalb Führungsfunktion auch in ethischer Hinsicht eingefordert werden. Der Habitus des einzelnen Men- schen wie auch des sozialen Kollektivs orientiert sich eben wesentlich nach oben, und Thomasin wird nicht müde, für seine Rezipienten diesen Anglei- chungsmechanismus zu beschreiben und dem Adel dessen diesbezügliche Vorbildfunktion einzuschärfen.

Wenzels Konzept von Partizipation und Mimesis dürfte infolgedessen, so die These, die ich im Folgenden entwickeln möchte, um dasjenige der Habitualisierung zu ergänzen sein, welche die Mechanismen von Teilhabe und Nachahmung durch den Prozess einer Angleichung durch Einübung, Verin- nerlichung und Gewöhnung wesentlich übersteigt.

III. Habitualisierung als Spiegeleffekt im ‚Welschen Gast’

Als Sinnbild für diese Angleichung verwendet Thomasin mit Vorliebe den Spiegel. Und in der Tat: welche Metapher wäre geeigneter, den Habitus zu beschreiben, als diejenige des Spiegels,22 denn das Spiegelbild muss zwin- gend und unwillkürlich die Bewegungen und Ausdruckformen von Körper und Mimik, muss den Kleidercode und die Frisur desjenigen wiedergeben, der vor dem Spiegel steht. Auch kann der von dem Spiegel reflektierte Mensch mehr

21 Den historischen Kontext bildete der deutsche Thronstreit, der nach dem Tod Hein- richs VI. (1197) und der Doppelwahl des Staufers Philipps von Schwabens und des Welfen Ottos IV. 1198 ausgebrochen war und erst mit der förmlichen Königswahl Friedrichs II. 1214 bzw. seiner Krönung 1214 in Mainz und 1215 in Aachen respektive mit dem Tod Ottos IV. 1218 zu Ende ging; vgl. Hans-Martin Schaller: Der deutsche Thronstreit und Europa 1198–1218. Philipp von Schwaben, Otto IV., Friedrich II. In:

Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung.

Hrsg. von Mario Kramp. Mainz (Philipp von Zabern) 2000, Teilbd. 1, S. 398–406.

22 Einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Symbolik vermitteln die neununddreißig Eigenschaften des Spiegels, die Paul Michel und Cornelia Rizek-Pfister beschrieben haben: Physik, Trug, Zauber und Symbolik des Spiegels. In: Präsenz ohne Substanz.

Beiträge zur Symbolik des Spiegels. Hrsg. v. Paul Michel (Schriften zur Symbolfor- schung 14). Zürich (Pano) 2003, S. 1–57. Von der Faszination des Spiegels für den Menschen über alle Zeiten und Kulturen hinweg zeugt zuletzt der Katalog der Zür- cher Ausstellung (Rietberg Museum): Spiegel. Der Mensch im Widerschein. Hrsg.

von Albert Lutz. Köln (Wienand) 2019.

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oder weniger bewusst mit kritischem Blick in den Spiegel sein Auftreten, sei- nen Habitus (oder eher: seine Hexis, also den äußeren Ausdruck, die Erschei- nungsweise) überprüfen und korrigieren.

Kehren wir nun noch einmal mit geschärftem Blick zum ersten Buch Thomasins zurück, welches mit seiner Hoflehre die Grundbedingungen des Habituserwerbs beschreibt und dabei die Spiegelmetapher einsetzt. Obwohl selbst sprachlich/schriftliterarisch formuliert, erachtet Thomasin seine ei- gene, in Buchform präsentierte Lehre als durchaus sekundär. Primär ist für ihn für eine Sozialisation, welche auf der Beobachtung und dem Wahrnehmen der Umwelt mit offenen Sinnen, vor allem mit Auge und Ohr, beruht.

Ein ieglîch edel kint mac sich selben meistern alle tac.

Sehende, hœrende, ob er wil,

und gedenkent lernt man vil. (V. 613–616)23

Selbstdisziplin („sich meistern”) und Lernprozess resultieren zunächst einmal aus der adäquaten intellektuellen Verarbeitung der aufgenommenen Sinnes- eindrücke.

Er sol ouch haben den muot, merke waz der beste tuot, wan die vrumen liute sint und suln sîn spiegel dem kint.

Daz kint an in ersehen sol waz stê übel ode wol.

Siht er daz im mac gevallen, daz lâz niht von sîm muote vallen.

Siht er daz in niht dunket guot,

daz bezzer er in sînem muot. (V. 617–626)24

Das Kind benutzt das als im eigentlichen Sinne als Vor-Bild erfasste Gegen- über für sich in seiner Spiegelfunktion und beurteilt es abgleichend in seiner positiven oder negativen Vorbildlichkeit. Dabei betrifft die Wahrnehmung nicht nur sprachliche Signale, sondern auch solche nonverbaler Art (Klei- dung, Bewegung, Mimik, Blicke, Stimmlage usw.). Für Thomasin ist die (be- obachtbare) Tat wichtiger als schöne Worte:

23 Jeder edle/adlige junge Mensch soll sich ständig selbst beherrschen/disziplinieren.

Indem man beobachtet, hört und überdenkt, lernt man viel, falls man möchte.

24 Er soll auch die Einstellung haben aufzufassen, was der Beste tut, denn die vortreff- lichen Leute sind und sollen für den jungen Menschen Spiegel darstellen. Der junge Mensch soll an ihnen sehen/erkennen, was gut oder schlecht ist. Sieht er etwas, das ihm gefällt, dann soll er es nicht mehr vergessen. Sieht er etwas, das ihm nicht gut erscheint, so soll er das für sich verbessern.

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man sol gern volgen dem man der bezzer ist ze sehen an denne ze hoeren; daz ist der der alsô hat der zühte lêr daz er nâch sîner rede guot

baz danner spreche tuot. (V. 647–52)25

Die Wahrnehmung ist dabei durchaus eine wechselseitige und wirkt zurück.

Reflexive Wahrnehmung ist übrigens auch nach Niklas Luhmann das ent- scheidende Merkmal der Kommunikation in einfachen Sozialsystemen, wie etwa in dem der feudalen Gesellschaft des Mittelalters, in welcher noch keine festen Institutionen die soziale Stellung dauerhaft sichert:

In erheblichem Umfang findet ein Informationsaustausch in der Form der sprachlosen, unthematisierten wechselseitigen Wahrnehmung statt:

Man schätzt sich mit Blicken ab, nuanciert Auftreten und Verhalten im Hinblick auf die Wahrnehmung durch andere, interpretiert verbale Kom- munikation in ihrem gemeinten Sinn mit Hilfe von Begleitwahrnehmun- gen usw. Von einfacher Wahrnehmung unterscheidet sich dieser Infor- mationsaustausch dadurch, dass er reflexiv wird, nämlich das Wahr- nehmen wiederum Gegenstand von Wahrnehmungen machen kann. Ego kann wahrnehmen, dass er von Alter wahrgenommen wird und an der laufenden Wahrnehmung von Wahrnehmungen sein Verhalten steuern.26

Thomasin fordert von seinen Rezipienten immer wieder eine ständige, von Kind auf zu erfolgende Einübung von Verhaltensweisen und Einstellungen, die beobachtet und als nachahmenswert beurteilt wurden. Er fordert also explizit zur Habitualisierung auf.

In sînem muot man stille sol einn vrumen man erweln wol und sol sich rihten gar nâch im, daz ist tugent unde sin.

Er sol die naht und den tac an in gedenken, ob er mac.

Ern sol des verlâzen niht, und swaz im ze tuon geschiht, dâ volge mit dem biderben manne:

25 Man soll bereitwillig dem Mann folgen, dem besser zuzusehen ist als ihm zuzuhören;

das ist nämlich der, der sich die Lehre guter Erziehung so zu eigen – das heißt zu seinem Habitus! – gemacht hat, dass er gemessen an seinen guten Worten noch besser handelt, als er spricht.

26 Niklas Luhmann: Einfache Sozialsysteme. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklä- rung. Bd. 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1975, S. 21–38, hier: S. 27.

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im mac niht misselingen danne.

Swer nâch der snuor kan snîden wol, der snîdet glîche als er sol.

Swer vrumen liuten volgen kan,

der ist selbe ein biderbe man. (V. 627–640)27

Die als Vorbilder erkannten Personen sollen also gemäß Thomasin vom ler- nenden Beobachter geradezu verinnerlicht werden und als innere, imagi- nierte Vor-Bilder sein Denken, Auftreten und Handeln korrigierend beeinflus- sen und leiten. Der Vergleich mit der Richtschnur funktioniert dabei nach dem gleichen Prinzip wie dasjenige des Spiegels, indem Abgemessenes und Abzu- messendes im einen Fall sowie Ur- und Spiegelbild im anderen Fall in De- ckung gebracht werden.

Ein kint sol haben den muot daz in dunke, swaz er tuot, daz in sehe ein biderbe man:

er hüet sich baz vor schanden dan, wan er sich vor im schamen muoz,

ob im zundingen slîft der vuoz. (V. 641–646)28

Diese Vorbildfiguren, zu welchen noch die imaginierten exemplarischen Figu- ren aus Geschichte und Literatur hinzutreten mögen, wirken als Identifikati- onsmodelle für den Rezipienten handlungsorientierend sowie handlungsleitend und bilden damit eine Art innere Bildergalerie von orientierenden Vorbildern.

Die gültige Ordnung und das Normensystem bzw. die herrschende Kultur wird durch diese innere Bildersammlung überschaubar gemacht und interiorisiert.

Es ist somit sicher nicht verfehlt zu behaupten, dass durch diesen in- teragierenden und angleichenden Prozess der Habitus des höfischen Men- schen konstruiert und verstetigt wird. Im Gegensatz zu Bourdieu allerdings, der den Aufbau des Habitus als einen weitgehend unbewussten Prozess be- schreibt, fordert Thomasin zumindest zu Beginn des Erziehungsprozesses ei- nen vernunftgesteuerten und somit bewusst kontrollierten Aufbau von Habi- tus und Ethos. Das Ziel ist aber auch bei ihm erst erreicht, wenn die er-

27 Man soll still für sich im Innern einen tüchtigen Mann aussuchen und sich völlig nach ihm ausrichten: das gebieten Tugend und Verstand. Er soll, wenn er kann, Tag und Nacht an ihn denken. Er soll ohne Ausnahme, was immer er tut, dabei dem vortreff- lichen Mann folgen: dann kann er nicht fehlgehen. Wer nach der Richtschnur gut schneiden kann, der schneidet genau, wie er soll. Wer vortrefflichen Leuten folgen kann, der ist selbst ein tüchtiger Mann.

28 Ein junger Mensch soll nicht versäumen sich vorzustellen, dass ihm, was er auch tut, ein trefflicher Mann zusieht; er hütet sich dann umso besser vor Schande, denn er muss sich vor jenem schämen, wenn sein Fuß zu Ungehörigem abgleitet.

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wünschten Haltungen, Denk- und Verhaltensformen eines höfischen Men- schen zur Gewohnheit werden und somit weitgehend automatisiert und un- bewusst ablaufen:

wan ir sult wizzen sicherlichen daz beidiu zuht und hüfscheit

koment von gewonheit. (V. 656–658)29

hüfscheit, höfisches Wesen, geht hier einher mit zuht (s. V. 650, 655), latei- nisch disciplina: das ist die vernunftgesteuerte und durch ständige Einübung und Selbstkontrolle (bes. der Sprache, der Bewegungen und des Denkens30), aber auch durch vorauseilende Schamgefühle (V. 645) und Furcht erreichte und schließlich weitgehend automatisierte Beherrschung der Triebe und der Spontaneität, welche die animalische natura überwinden sollte. Um mit Nor- bert Elias zu sprechen, erfolgt der Zivilisationsprozess durch gesellschaftlich verordnete Triebkontrolle, die sich beispielsweise in der höfischen Übung des Minnedienstes bzw. Minnesangs in einem bewussten Gewaltverzicht äußert, in der Unterwerfung des Mannes unter die idealisierte Dame, genauer ge- sagt: in der Unterwerfung unter die Ideale einer höfischen Kultur, welche die Dame physisch oder sinnbildlich verkörpert, die zum Zweck der ethischen Verbesserung des Mannes instrumentalisiert wird31 und als spiegel der minne (V. 8014) dient, in welchem sich der Mann reflektiert.

Die real beobachtbaren wie imaginierten Vorbilder sind dem Lernen- den aber gemäß Thomasin nicht nur ein Spiegel, dessen Bilder in Abgleichung mit der eigenen Person zur Korrektur von Einstellung und Verhalten Anlass geben, bis im Idealfall völlige Deckungsgleichheit mit dem Spiegelbild er- reicht wird; der junge Mensch soll nach erfolgter Sozialisierung selbst zum Spiegel für andere werden, die ihn ihrerseits wieder zum Vorbild nehmen.

Das ist besonders bei den herren, den Adligen mit Herrschaftsfunktion, viru- lent, an denen und an deren Habitus und Ethos sich die ihnen Unterstellten zwangsläufig orientieren müssen, so dass sich eine Habitualisierung des Ver- haltens und der Einstellung auf hierarchischem Weg fortpflanzt:

29 Denn das sollt ihr euch einprägen, dass Zucht und höfisches Wesen sich durch Ge- wohnheit einstellen.

30 Vgl. Joachim Bumke, der die diesbezügliche Quelle Thomasins, die Novizenunterwei- sung Hugos v. St. Victor, entdeckt und auf ihre Übertragung in den höfischen Kon- text hin ausgewertet hat: Joachim Bumke: Höfischer Körper – Höfische Kultur. In:

Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. u. Leipzig (Insel) 1994, S. 67–102.

31 Vgl. Rüdiger Schnell: Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmit- telalter. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a.M. u. Leipzig (Insel) 1994, S. 103–133.

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Wir suln uns gar an iu schouwen:

ir sît der spiegel, wir die vrouwen.

Ist der spiegel ungelîche, man siht sich selben wunderlîche:

man dunkt ze kurz sich od ze lanc, ode ze breit, ode ze kranc. (1751–56)32

Der deformierte, nicht gleichmäßig glatte oder gar trüb-blinde Spiegel, der als Metapher für Adlige dient, die statt von den Tugenden geleitet zu werden, ihren Lastern frönen, wirft den Untertanen, die in diesen Spiegel hinein- schauen ein ebenso deformiertes Spiegelbild zurück. Der als Spiegel fungie- rende Adlige muss sich daher bemühen, eine möglichst glatte und reine Pro- jektionsfläche zu bilden, um als positives Vorbild wahrgenommen und in sei- ner Idealität imitiert zu werden.

Ein herre sol tuon nimêr dan daz reht ze tuon ger.

Ist der spiegel lieht als er sol, ganz, sinwel, man siht sich wol.

Ein herre der sol vil lieht sin

daz er an guotem bilde erschîn. (V. 1773–1778)33

Die im deutschen Reich (Thronwirren) und den italienischen Städten (Bürger- kriegen) konstatierten Verfallserscheinungen und kriegerischen Unruhen brandmarkt Thomasin als die negativen Folgen eines fehlgeleiteten Zusam- menspiels von Partizipation, Mimesis und Habitus bei der Sozialisierung der politischen Elite und ihrer Untergebenen.

Für Thomasin steht und fällt der Habitus des höfischen Menschen und guten Fürsten mit der von Kind an eingeübten und automatisierten zuht. Nur sie kann zur staete, zur Beständigkeit im Wesen, Denken und Handeln, vor allem aber auch in der Ethik führen, die für eine stabile Gesellschaft und ein solides Staatswesen unerlässlich ist. Thomasin hat der staete (und der un- staete) den Hauptteil seines Werks gewidmet, die Bücher 2–7. Auch hier geht es wieder um die Vorbildfunktion der politischen und gesellschaftlichen Elite, nach deren Habitus sich die hierarchisch Untergebenen ausrichten:

32 Wir sollen uns völlig an euch [Herren] betrachten: Ihr seid der Spiegel, wir die Da- men [die sich darin spiegeln]. Ist der Spiegel uneben, sieht man sich selbst verzerrt:

Man kommt sich zu kurz, zu lang, zu dick, oder zu abgemagert vor.

33 Ein Herr soll nie etwas anderes tun, als das, was das Recht zu tun verlangt. Ist der Spiegel so ungetrübt wie er soll, unversehrt und gewölbt – gemeint ist der übliche Konvexspiegel –, da sieht man sich gut. Ein Herr soll strahlend rein sein, damit er als gutes Vorbild erglänzt.

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Ich underdinge der herren zorn:

diu stæte diu ist gar verlorn von ir willn und von ir schulde:

ezn sol niht sîn wider ir hulde

daz ich spriche, ich sprichz durch guot.

Hât mîn herre unstæten muot, ich muoz ze der unstætekeit mit samt im sîn bereit.

(…)

wandelt ein herre sînen sin, sîn liute müezn unstæte sîn.

Jâ ist uns dicke worden schîn daz der unstæten herren muot

vil in der werlde unstæte tuot. (V. 2125–4146)34

Wenn Thomasin staete einfordert, so meint er damit einen gleichbleibenden, stabilen Habitus, der politisch berechenbar und mit dem christlichen Tugend- system und Ethos vereinbar ist und somit als ethische Norm für alle verpflich- tend wird.

Einher geht das Postulat der staete mit dem Ideal der mâze, des Maß- haltens also, welches bereits von Platon in die Tugendethik eingeführt wurde und über Aristoteles und Cicero in das System der christlichen Kardinaltugen- den Eingang gefunden hatte.35 Ihr widmet Thomasin das achte Buch. Mäßi- gung betrifft immer die Vermeidung der Extreme. Auch darin, in der bestän- digen Einhaltung der Mitte also, äußert sich die staete, die Beständigkeit.

Letztere ist gerade auch den für den wichtigen Bereich des Rechts von großer Bedeutung, dem Thomasin in seinem vorletzten (neunten) Buch nachgeht, und das im Kontext von Herrschaftsausübung absolut konstitutiv ist. Sozialer Friede und Recht bedingen einander, und auch hier braucht es Stabilität und Berechenbarkeit, mit Rechtssprechern, deren Habitus den ho- hen ethischen Normen entsprechen. Nur solche Herrschaftsträger können dann auch der höfischen Herrschertugend par excellence, entsprechen, der milte, d.h. der Großzügigkeit und Freigebigkeit, die in der Mitte zwischen Verschwendung und Geiz ein reiches, prunkvolles und repräsentatives höfi-

34 Jetzt riskiere ich den Zorn der Herren: Beständigkeit ist gänzlich verloren gegangen durch ihren Willen und ihre Schuld. Was ich sage, soll mir nicht ihr Wohlwollen ver- scherzen, ich sage es, um Gutes zu bewirken. Ist mein Herr unzuverlässig, muss ich mich mit ihm zur Unzuverlässigkeit bereit finden. (…) Ändert ein Herr seine Pläne, müssen auch seine Untergebenen unbeständig sein. Wir haben es wahrlich oft ge- sehen, dass der Wankelmut der Herren viel Unbeständigkeit in der Welt bewirkt.

35 Vgl. die Aufsatzsammlung: Ritterliches Tugendsystem. Hrsg. von Günter Eifler (Wege der Forschung 56), Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1970.

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sches Leben erlaubt und zu einer höfischen Hochgestimmtheit und Freude führt. Letztere wird von den Zeitgenossen immer wieder als für die höfische Kultur charakteristisch beschrieben, und verbindet die Träger der höfischen Kultur auch international miteinander:36

Diu milte niemen schaden wil:

si gît ân leit vreude vil.

Diu milte entuot niemen leit.

Diu milte ist gar ân girescheit:

swer giresch ist nâch dem guot,

der mac niht hân einn milten muot. (V. 14199–14204)37

Dieses auf milte beruhende hochgestimmte Lebensgefühl und diese exklu- sive Freude grenzen auch den höfischen, adligen Menschen in seinem Habitus und Ethos von dem rusticus ab und sind Ausdruck hohen kulturellen und symbolischen Kapitals. Nichtadlige, unedle Menschen sind für Thomasin so- gar von Natur aus unfähig, höfische Zucht und höfischen Habitus zu errei- chen: Der Bär, so Thomasin, wird nie ein guter Sänger; und so wird auch der Unedle, je länger er am Hof lebt, nur noch unedler, denn er merkt sich nur das Schlechte und nicht das Gute.38

Im Zentrum der höfischen Freude aber steht das vom Alltag abgeho- bene Fest, das Bankett mit dem gemeinsamen Essen und seinem musika- lisch-literarischen Rahmen. Es ist nicht von ungefähr, wenn Thomasin im Zu- sammenhang mit seiner Hoflehre des ersten Buchs eine eigentliche Tisch- zucht einflicht: Nicht nur ist das „gemeinsame Speisen […] ein Rechtsakt, durch den die Tischgenossenschaft zu einer Friedens- und Freundschaftsge- meinschaft” wird, „die zentrale Veranstaltung, in der die Existenz der politi- schen Gemeinschaft und das Funktionieren von Herrschaft öffentlich sicht- bar” werden:39 die Beherrschung des höfischen Protokolls, das ein solches Bankett bis in die kleinsten Bewegungen hinein reguliert, kann auch als Aus- weis eines vollendeten höfischen Wesens oder Habitus angesehen werden, denn sie umfasste nicht nur die Einhaltung dieses Protokolls und der damit verbundenen hierarchischen Ordnung, sondern auch den angemessenen Ein-

36 Vgl. August Arnold: Studien über den hohen Mut (Von der deutschen Poeterey 9).

Leipzig (J. J. Weber) 1930.

37 Die Freigebigkeit will niemandem schaden; sie gibt Freude ohne Kummer. Die Frei- gebigkeit fügt niemandem Leid zu. Die Freigebigkeit kennt keine Begierde. Wer nach Geld gierig ist, kann nicht freigebig sein.

38 ich wil iu sagen, daz der per / wirt nimmer ein guoter singer. / alsam tuont diu unedeln kint: / swenn si ie mêr ze hove sint, / sô si ie mêr werdent enwiht; / si merkent daz boes, daz guote niht. (V. 357–362)

39 Bumke (Anm. 30), S. 90f.

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satz von Sprache und Gestik, die der zuht zu unterwerfen waren. In diesem Raum strenger wechselseitiger Beobachtung, Kontrolle und Reaktionen war man bestrebt, Wahrnehmung, Mimesis und Habitus in vollendeten Einklang zu bringen. Oder, wie es Thomasin formuliert:

Man sol sich zem tische vast bewarn, der nâch dem rehte wil gebârn;

dâ hoeret grôziu zuht zuo. (V. 471–473)40

Höfischer Habitus ist das Resultat eines komplexen Erziehungs- und Anglei- chungsprozesses, bei welchem sich Zucht, Recht und Adel nicht nur gegen- seitig bedingen und bestätigen,41 sondern Denken, Handeln und Ethos des höfischen Menschen bestimmen und dessen Platz im sozialen Feld determi- nieren.

40 Bei Tisch soll höllisch achtgeben, wer sich richtig (nach dem Recht) verhalten will;

dazu braucht es sehr gute Zucht.

41 Vgl. die (Vers 3917–3924 illustrierende) Abbildung in den Handschriften des Wel- schen Gasts, bei welcher sich die in einen Kreis eingezeichneten Personifikationen von höfischem Wesen, Recht und Zucht an den Händen halten. Umschrift (zitiert nach der Heidelberger Handschrift cpg 389): hufscheit tut rehte – reht tut edelichen – adel tut hufslichen: http://wgd.materiale-textkulturen.de/illustrationen/

motiv.php?m=70 <09/09/2020>.

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