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Abschiebungsverbot für Asylsuchenden aus Afghanistan

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VG Würzburg, Urteil v. 19.07.2017 – W 1 K 16.31089 Titel:

Abschiebungsverbot für Asylsuchenden aus Afghanistan Normenketten:

AufenthG § 60 Abs. 5 EMRK Art. 3

Leitsatz:

Einem alleinstehenden, gesunden, arbeitsfähigen jungen Mann ist die Rückkehr nach Afghanistan ausnahmsweise nicht zumutbar, wenn er dort ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich alleine gestellt wäre, Dari nicht beherrscht und die prägende Zeit seines Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran (etwa vom 8. – 16. Lebensjahr) und in Europa verbracht hat. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Schlagworte:

Afghanistan, Abschiebungsverbot festgestellt, Exil-Afghane, seit 8. Lebensjahr im Iran, keine relevante Verwandtschaft in Afghanistan, Existenzminimums, alleinstehender, gesunder, arbeitsfähiger junger Mann, Lebensunterhalt

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juli 2016 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach

§ 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben Tatbestand

1

Der Kläger wurde eigenen Angaben zufolge am … 1998 in der Provinz Kandahar geboren. Er sei

afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit. Er habe im Alter von acht oder neun Jahren sein Heimatland verlassen und sei mit seiner Mutter und seinem Bruder in den Iran gegangen. Den Iran habe etwa im März 2014 verlassen und sei dann nach zwischenzeitlichen Aufenthalten in der Türkei und Griechenland im Dezember 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er am 3. November 2015 einen Asylantrag gestellt hat.

2

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger an, dass er keine Schule besucht habe. Er habe keinen Beruf gelernt; er sei Tagearbeiter gewesen. Seine Mutter lebe mit seinem Bruder noch im Iran; sein Vater sei schon in Afghanistan

verstorben. Seine Mutter habe seit der Flucht in den Iran keinen Kontakt mehr nach Afghanistan, sodass er nicht wisse, ob dort noch Verwandte lebten. Es habe früher einen Onkel gegeben, zu dem kein Kontakt bestehe, da seine Mutter und der Onkel sich gehasst hätten. Zu seinen Fluchtgründen gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Flucht in den Iran vor dem Hintergrund erfolgt sei, dass im Heimatland Krieg geherrscht habe, in welchem auch sein Vater gestorben sei. Im Iran würden Afghanen von der iranischen Polizei häufig unter Druck gesetzt und nach Afghanistan abgeschoben, wenn man kein Schmiergeld zahlen könne. Auch ihm sei dies einmal passiert; er sei dann aber nach kurzer Zeit mit Hilfe eines Schleusers wieder in den Iran zurückgekehrt. Der Kläger und seine Mutter hätten dann beschlossen, dass sie hart arbeiten würden, um seine Flucht ins Ausland zu finanzieren. Nach einem Jahr sei er dann ausgereist; das Geld habe aber nicht für die gesamte Flucht gereicht; er habe zwischendurch immer wieder gearbeitet und wenn er etwas Geld beisammen gehabt habe, sei er weiter gereist.

3

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 1. Juli 2016 wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Ziffer 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffer 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3)

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und festgestellt dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw.

unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert; für den Fall der Nichtbefolgung wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot gemäß

§ 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger Afghanistan vor fast zehn Jahren verlassen habe, was belege, dass die aktuelle Verfolgungsangst nicht begründet sei, da nach den Erkenntnissen des Bundesamts derzeit keine erhebliche Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konflikts in Afghanistan bestehe, jedenfalls könne für keine der afghanischen Provinzen angenommen werden, dass eine erhebliche individuelle Gefahr allein aufgrund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet und die dortige Anwesenheit bestehe. Zudem müsse sich der Kläger auf einen möglichen landesintern Umzug in hinreichend sichere Gebiete, zum Beispiel nach Kabul, verweisen lassen. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht ersichtlich, da auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände die

Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich sei. Der Antragsteller sei jung und erwerbsfähig und es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass er nicht imstande sein würde, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine existenzsichernde Grundlage zu verschaffen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Gründe des Bescheides im Übrigen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

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Gegen den am 8. Juli 2016 durch Niederlegung in einer Postfiliale zugestellten Bescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 27. Juli 2016, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg am gleichen Tage, Klage erhoben.

5

Er hat zuletzt beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 1. Juli 2017 zu verpflichten festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

6

Des Weiteren hat der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 21. August 2016 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der eventuell versäumten Klagefrist beantragt und hierzu Ausführungen gemacht.

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Mit Schriftsatz der Beklagten vom 1. August 2016 beantragte diese, die Klage abzuweisen.

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Mit Beschluss vom 16. März 2017 hat die Kammer den Rechtstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

9

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen, soweit diese darauf gerichtet war, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sowie hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen. Insoweit wurde das Verfahren durch Beschluss vom hiesigen Verfahren abgetrennt, unter dem Aktenzeichen W 1 K 17.32829 fortgeführt und eingestellt.

10

Es wurden verschiedene Erkenntnismittel zu Afghanistan, Stand April 2017, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, auf die Bezug genommen wird.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakte sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18. Juli 2017 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist – soweit sie noch Gegenstand dieses Verfahrens ist – begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 1. Juli 2016 (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Die Klage ist zulässig, insbesondere ist diese nicht verfristet. Denn ohne dass es einer Entscheidung über den gestellten Wiedereinsetzungsantrag bedarf, wurde die Klagefrist vorliegend nicht in Lauf gesetzt, da eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung:verwendet wurde, indem darin ausgeführt wurde, dass die Klage in deutscher Sprache abgefasst sein müsse (Bl. 69 der Behördenakte; vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v.

18.4.2017 – A 9 S 333/17 – juris).

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Darüber hinaus ist die Klage auch begründet.

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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner

individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern er beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).

16

Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O., juris-Rn. 16ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundeswartungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl.

BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.

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Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:

18

Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen

Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien

ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes

Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa

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einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.

19

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 30. September 2016, Seite 24 ff.) führt aus, Afghanistan bleibe weiterhin eines der ärmsten Länder weltweit. Die bereits sehr hohe Arbeitslosenrate sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte Ende 2014 wegen des damit zusammenhängenden Nachfrageschwundes rasant angestiegen, das Wirtschaftswachstum betrage nur 1,5%. Die Analphabetenrate sei noch immer hoch und der Pool an Fachkräften bescheiden. Die Landwirtschaft beschäftige bis zu 80% der Bevölkerung, erziele jedoch nur etwa 25% des

Bruttoinlandprodukts. Vor allem in Kabul gehöre wegen des dortigen großen Bevölkerungswachstums die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen. Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten hätten sich dort rapide verschlechtert. Nur 46% der afghanischen Bevölkerung verfüge über Zugang zu sauberem Trinkwasser und lediglich 7,5% zu einer adäquaten Abwasserentsorgung. Unter Verweis auf den UNHCR sähen sich Rückkehrende beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan mit

gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Geschätzte 40% seien verletzlich und verfügten nur über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft.

Außerdem erschwere die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr. Gemäß UNHCR verließen viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut. Sie wichen dann in die Städte aus, insbesondere nach Kabul.

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Der UNHCR weist in seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016 darauf hin, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe, was damit einher gehe, dass sich der Konflikt in Afghanistan im Laufe des Jahres 2016 weiter ausgebreitet habe und die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere 4%

gestiegen sei. Die Zahl der intern Vertriebenen habe im Jahr 2016 auf Rekordniveau gelegen; zudem sei auch aus den Nachbarländern Pakistan und Iran eine große Zahl von Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt, was zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten

Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten der Provinzen und Distrikte in Afghanistan geführt habe.

Dies gelte auch für die Stadt Kabul, wo nur begrenzte Möglichkeiten der Existenzsicherung, eine extrem angespannte Wohnraumsituation sowie mangelnder Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen bestehe, sodass die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers geprüft werden müsse.

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Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach

§ 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung derzeit für den Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahr Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht, da diese selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage wären, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren. Ebenso wenig würde eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen (vgl. etwa BayVGH, B.v.19.6.2017 – 13a ZB 17.30400). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation.

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Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan dort ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich alleine gestellt wäre. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt glaubhaft angegeben, dass er nach dem Tod seines Vaters Afghanistan im Alter von etwa acht oder neun Jahren gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder verlassen hat, seither nicht mehr dorthin zurückgekehrt ist und dort auch nicht mehr über engere Familienmitglieder oder

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andere Verwandte verfügt, welche ihm Hilfestellungen persönlicher oder finanzieller Art zuteilwerden lassen könnten. Der Kläger hat zwar wahrheitsgemäß angegeben, dass sich in Afghanistan noch ein Onkel aufhält, jedoch diesbezüglich glaubhaft und nachvollziehbar versichert, dass zu diesem weder von Seiten seiner Mutter noch von ihm persönlich seit dem Verlassen des Heimatlandes Kontakt bestanden habe. Vielmehr sei es so gewesen, dass seine Mutter und der Onkel nach dem Tod seines Vaters Streit gehabt hätten; sie hätten sich gehasst, sodass die Mutter auch stets einen Kontakt abgelehnt habe. Es ist vorliegend

erschwerend zu berücksichtigen, dass der Kläger niemals eine Schule besucht hat und auch bis zum heutigen Tage allenfalls einige Worte, etwa auf Straßenschildern, in seiner Heimatssprache Dari lesen kann, jedoch nicht in der Lage ist, in Dari zu schreiben, was angesichts der allgemein und

gerichtsbekannten hohen Analphabetenrate in Afghanistan, aber auch unter afghanischen Flüchtlingen im Iran, ohne weiteres nachvollziehbar erscheint. Der Kläger hat sich somit keine höhere Bildung aneignen konnten, die seine beruflichen Chancen hätten erhöhen können. Auch einen Beruf hat der Kläger nicht erlernt, sondern in seiner Jugend nur als Tagelöhner im Iran gearbeitet, indem er Plastik gesammelt und verkauft hat. Vor diesem Hintergrund sähe sich der Kläger in Afghanistan aufgrund der Erkenntnismittellage in erheblicher Weise mangelnden Erwerbsmöglichkeiten gegenüber, wobei weiter negativ ins Gewicht fällt, dass der Kläger bis zu seiner Ausreise aus dem Iran stets bei seiner Mutter gelebt hat und zu keiner Zeit auf sich allein gestellt war. Er hat zudem die prägende Zeit seines Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran (etwa vom 8. – 16. Lebensjahr) und in Europa verbracht und war daher nicht in der Lage, sich Kenntnisse über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan anzueignen und Überlebensstrategien für ein Überleben in Afghanistan, etwa in Kabul, zu entwickeln. Darüber hinaus ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger auch von den im Iran befindlichen Familienmitgliedern keine finanzielle Unterstützung erwarten kann. Der Vater als herkömmlicher Versorger der Familie ist bereits seit längerer Zeit verstorben. Die Mutter, welche früher wie der Kläger einfache (Schwarz-) Arbeit verrichtet hat, ist entsprechend nachvollziehbarer Angaben - des auch im persönlichen Eindruck glaubwürdigen Klägers - mittlerweile krank und kann selbst nicht mehr arbeiten. Sie wird dort von seinem Bruder, welcher auch heute noch dieselben einfachen Tätigkeiten wie der Kläger früher ausübt, mit versorgt. Bei dieser Sachlage ist nichts dafür ersichtlich, dass es seiner Familie darüber hinaus möglich wäre, den Kläger in Afghanistan ergänzend finanziell zu unterstützen. Die Mittellosigkeit der Familie zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass es dieser nicht gelungen ist, ausreichende Geldmittel zur Finanzierung der Flucht des Klägers nach Europa anzusparen. Vielmehr hat sich der Kläger auf seiner Flucht jeweils etwa 4-5 Monate in der Türkei und Griechenland aufgehalten und dort gearbeitet, um die Weiterreise finanzieren zu können. Schließlich ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger bzw. seine Familie in Afghanistan noch über Vermögen verfügt. Zwar war die Familie in Afghanistan vor ihrer Ausreise in den Iran im Besitz von Obstplantagen.

Diese sind jedoch glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung zufolge vor der Ausreise in den Iran, also ca. 2006/2007, nach Aussagen seiner Mutter verkauft worden und der Erlös in den Folgejahren für den Lebensunterhalt der Familie vollständig verbraucht worden.

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Darüber hinaus kann aus der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts im Iran auch nicht darauf geschlossen werden, dass dies dem Kläger auch in Afghanistan gelingen wird, denn zum einen hat die Familie im Iran den Lebensunterhalt gemeinschaftlich bestritten, während der Kläger in Afghanistan gänzlich auf sich alleine gestellt wäre, zum anderen sind die Lebensverhältnisse im Iran und in Afghanistan nicht miteinander vergleichbar, was allein daran festzumachen ist, dass der Iran im Human Development Index 2016 weltweit auf Platz 69 zu finden ist (und damit über dem weltweiten Durchschnitt), während Afghanistan mit Rang 169 einen der hintersten Plätze weltweit einnimmt (vgl.

https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_Human_Development _Index). Dass es damit in Afghanistan ungleich schwerer ist, den Lebensunterhalt sicherzustellen, liegt auf der Hand.

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Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglosen Lage geraten würde, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK gleichkommt und diesem nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides festzustellen.

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Nach alledem war der Klage, soweit sie Gegenstand dieses Verfahrens ist, stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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