Aus der
Unfallchirurgischen Klinik
der Medizinischen Hochschule Hannover
_____________________________________________________________
Effekte des Interleukin-6 im Rahmen des Systemic Inflammatory Response Syndrome
(SIRS)
beim Polytrauma
an einem Interleukin-6-knock out-Modell der Maus
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin
in der Medizinischen Hochschule Hannover (Dr. med.)
vorgelegt von
Luer Christian Geerken Bremen
Hannover 2011
Angenommen von der Medizinischen Hochschule Hannover am 23.08.2011
Gedruckt mit Genehmigung der Medizinischen Hochschule Hannover
Präsident: Prof. Dr. med. Bitter-Suermann Betreuer: Prof. Dr. med. Frank Hildebrand Referent: Prof. Dr. med. Gregor Theilmeier Koreferent: Prof. Dr. med. Torsten Witte Tag der mündlichen Prüfung: 23.08.2011
Promotionsausschussmitglieder: Prof. Dr. Reinhold Ernst Schmidt Prof. Dr. Anke Schwarz
Prof Dr. Bettina Wedi
Selbst ein Weg von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt
- Japanische Weisheit -
Für meine Eltern und Geschwister
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung... 1
2 Kenntnisstand... 3
2.1 Definition von SIRS, Sepsis und MODS... 3
2.2 SIRS, CARS und MARS ... 4
2.3 Pathogenese von SIRS und MODS ... 6
2.4 Zytokine ... 10
2.4.1 Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) ... 11
2.4.2 Interleukin-6 (IL-6)... 12
2.4.3 Interleukin-12 (IL-12)... 15
2.4.5 Interferon-γ (IFN-γ)... 15
2.4.6 Monocyte chemoattractant protein-1 (MCP-1) ... 16
2.5 Tierexperimentelle Modelle ... 17
2.5.1 Experimentelles Schädelhirntrauma... 17
2.5.2 Frakturmodelle und experimenteller hämorrhagischer Schock ... 18
3 Fragestellung... 20
4 Material und Methoden... 21
4.1 Versuchstiere ... 21
4.2 Versuchsaufbau ... 22
4.3 Studienablauf ... 23
4.4 Durchführung des Polytraumas... 24
4.4.1 Femurfraktur... 25
4.4.2 Hämorrhagischer Schock ... 25
4.4.3 Schädelhirntrauma ... 26
4.5 Übersicht Untersuchungsparameter... 28
4.6 Klinische Untersuchungsparameter ... 29
4.7 T-Zell-vermittelte Typ IV-Reaktion... 30
4.8 Blut- und Organentnahme... 31
4.9 Aufbereitung und Auswertung der Proben ... 31
4.9.1 Histologische Aufbereitung ... 31
4.9.2 Auswertung der histologischen Präparate... 35
4.10 Durchflusszytometrie (FACS)... 40
4.10.2 Analyse der Lymphozyten in der Milzsuspension ... 43
4.10.3 Zytokinmessung im Plasma ... 46
4.11 Statistische Auswertung... 48
5 Ergebnisse ... 49
5.1 Letalität ... 49
5.2 Aktivität ... 50
5.3 Körperkerntemperatur ... 50
5.4 Körpergewicht ... 50
5.5 Typ-IV-Reaktion ... 51
5.6 Durchflusszytometrie... 52
5.6.1 Lymphozyten... 52
5.6.2 Zytokine ... 54
5.7 Histologie ... 57
5.7.1 Lunge ... 57
5.7.2 Leber ... 59
5.7.3 Milz ... 61
5.7.4 Niere... 63
5.7.5 Gehirn... 64
6 Diskussion ... 68
6.1 Aktivität, Körpergewicht, Körperkerntemperatur und Letalität ... 68
6.2 Immunologische Vorgänge ... 72
6.3 Histologische Veränderungen ... 77
6.4 Abschließende Diskussion ... 83
7 Zusammenfassung ... 86
8 Summary ... 88
9 Literaturverzeichnis ... 90
10 Anhang ... 105
10.1 Bezugsquellen ... 105
10.1.1 Versuchstiere ... 105
10.1.2 Verbrauchsmaterialien ... 105
10.1.3 Instrumente, Geräte und Software ... 106
10.1.4 Medikamente ... 106
10.1.5 Chemikalien ... 107
10.2 Protokolle ... 108
10.2.1 Lösungen ... 108
DNFB-Ansatz ... 108
Formalin-Lösung (4%) ... 108
hypotone Lyse-Lösung ... 108
PBS (Phosphatpuffer) ... 108
DAB (1 mg/ml)... 109
HCl-Ethanol (Salzsäure-Alkohol-Mischung) ... 109
Kresylviolett-Lösung (5%)... 109
StreptABComplex... 109
Citrat-Puffer ... 109
10.2.2 Histologische Färbungen ... 110
absteigende und aufsteigende Alkoholreihen... 110
H.E.-Färbung... 110
Nissl-Färbung ... 110
GFAP-Färbung ... 111
APP-Färbung... 112
10.2.3 Durchflusszytometrie... 113
Analyse der Lymphozyten in der Milzsuspension... 113
Zytokinmessung im Plasma (CBA) ... 113
Standardherstellung ... 113
11 Danksagung ... 115
Abkürzungsverzeichnis
A. dest. destilliertes Wasser ANOVA Analysis of Variance
APP Amyloid Precursor Protein
BSA bovines Serumalbumin
CA Cornu ammonis
CARS Compensatory Anti-inflammatory Response Syndrome CBA Cytometric Bead Array
CCI Controlled Cortical Impact CD Cluster of Differentiation
cg Cingulum
CI Konfidenzintervall
CLP caecale Ligation und Punktion CRP C-reaktives Protein
cm Zentimeter
DAB Diaminobenzidin-Tetrahydrochlorid
DG Gyrus dentatus
DGU Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie DIC Disseminated Intravasal Coagulation
DNFB 2,4-Dinitrofluorobenzen
ELISA Enzyme Linked Immunosorbent Assay et al. et alii
FACS Fluorescence-Activated Cell Sorter FITC Fluorescein Isothiocyanat
FSC Forward Scatter
g Gramm bzw. Erdschwerebeschleunigung GFAP Glial Fibrillary Acidic Protein
h Stunde
H.E. Hämatoxylin-Eosin
ic Capsula interna
IFN Interferon
IL Interleukin
-/-
INI International Neuroscience Institute ISS Injury Severity Score
kDa Kilodalton
kg Kilogramm
l Liter
LAT Linker of activated T-cells
LEI Leukozyten-Endothel-Interaktion
LPS Lipopolysaccharid
m Meter
MARS Mixed Antagonistic Response Syndrome MAD mittlerer arterieller Druck
MCP-1 Monocyte Chemoattractant Protein-1
mg Milligramm
MHC Major Histocompatibility Complex MHH Medizinische Hochschule Hannover
min Minuten
ml Milliliter
mm Millimeter
MODS Multiple Organ Dysfunction Syndrome
MOV Multiorganversagen
MW arithmetischer Mittelwert
n Anzahl
NK-Zellen natürliche Killerzellen
nm Nanometer
n.s. nicht signifikant
PAF Platelet Activating Factor PBS Phosphate Buffered Saline PE Fluorochrom Phycoerythrin
pg Pikogramm
PMN Polymorphonuclear Leukocytes
PT Polytrauma
RT Raumtemperatur
s Sekunde
SHT Schädelhirntrauma
SIRS Systemic Inflammatory Response Syndrome SPSS Statistical Product and Service Solution
SSC Side Scatter
Std.Abw. Standardabweichung
StreptABComplex Streptavidin-Biotin-Komplex
Tabl. Tablette
TBI Traumatic Brain Injury
TNF Tumornekrosefaktor
WT Wildtyp
°C Grad Celsius
µg Mikrogramm
µl Mikroliter
Ferner gelten die chemischen Elementsymbole.
EINLEITUNG
1 Einleitung
Die häufigste Todesursache junger Menschen in Industrienationen stellt das Trauma dar(1). Bis zum Jahr 2020 wird bedingt durch die rasante Entwicklung in der Dritten Welt mit einem weltweiten Anstieg der Todesopfer durch Trauma von 5,1 Millionen auf 8,1 Millionen gerechnet(2). In Deutschland wurden 2009 im Rahmen von Verkehrsunfällen 68533 Menschern schwerverletzt, 4155 Verunglückte starben an den Folgen eines Verkehrsunfalls(3). Dabei handelt es sich vor allem um Patienten, die ein Polytrauma, d.h. eine Mehrfachverletzung erlitten haben.
Unter dem Begriff Polytrauma versteht man die gleichzeitige Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei mindestens eine Verletzung allein oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist(4).
Die Hauptursache von Polytraumata sind mit 56,7 – 71,0% Verkehrsunfälle(5). Nach solch massiven Verletzungen beträgt die Letalität in der Literatur 18,6 – 35%(5). Durch eine verbesserte medizinische Versorgung dieser Patienten konnte seit den siebziger Jahren eine Reduktion der Todesrate um etwa 20% erreicht werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig(5). Verbesserungen im Fahrzeugbau und der allgemeinen Verkehrssicherheit konnten ebenso zu einer Verminderung der frühen Mortalität und der Gesamtverletzungsschwere beitragen, wie die Verkürzung der Rettungszeiten, die Verbesserte Ausstattung des Rettungsdienstes und die Verzahnung der präklinischen Therapie mit der Schockraumversorgung.
Als Folge der steigenden Anzahl von Patienten, die trotz schwerster Verletzungen oder Verbrennungen lebend die Klinik erreichen, ist die Häufigkeit von Komplikationen trotz verbesserter intensivmedizinischer Möglichkeiten dennoch gestiegen(6,7).
Während die frühe Letalität innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Unfall
EINLEITUNG
Massenblutungen nach Verletzung von großen Gefäßen oder stark durchbluteten Organen bestimmt wird(5), wird die Spätletalität durch die pathophysiologischen Folgen der ausgedehnten Verletzungen hinführend zu einem posttraumatisch systemischen Inflammationssyndrom (SIRS) bis hin zum Multiorgan Dysfunction Syndrom (MODS) determiniert.
Die unkontrollierte Exazerbation inflammatorischer Phänomene wird als Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS) beschrieben(8), die Funktionsstörungen initial nicht betroffener Organe als Multiple Organ Dysfunction Syndrome (MODS)(9,10).
Obwohl sich die Häufigkeit posttraumatischer Organfunktionsstörungen aufgrund zunehmender intensivmedizinischer Optionen stetig reduzieren ließ, bleibt die Ausbildung eine MODS der determinierende Faktor für die Spätletalität(11). Gemäß einer Studie von Nast-Kolb et al. entwickeln immer noch 33% der schwerverletzten Patienten im klinischen Behandlungsverlauf ein vorübergehendes Versagen mindestens eines Organsystems, etwa 15% der polytraumatisierten Patienten entwickeln ein MODS. Im internationalen Vergleich finden sich ähnliche Zahlen bezüglich der Inzidenz dieser posttraumatischen Komplikationen(12,13). Aufgrund der umfassenden intensivmedizinischen Maßnahmen und neuer operativer Therapiekonzepte (Konzept des damage control) konnte die Inzidenz des MODS in den letzten Jahrzehnten zwar signifikant gesenkt werden, allerdings versterben immer noch bis zu 50% der polytraumatisierten Patienten, die im Behandlungsverlauf ein manifestes MODS entwickeln(14,11). Eine weitere Reduktion der Inzidenz des MODS kann zukünftig nur durch eine kausale Therapie des posttraumatischen Organversagens möglich sein. Das genauere Verständnis der Pathomechanismen von SIRS und MODS erscheint deshalb heute als Erfolg versprechender Weg die Letalität schwer verletzter Patienten weiter zu senken.
KENNTNISSTAND
2 Kenntnisstand
2.1 Definition von SIRS, Sepsis und MODS
An einer Konsensuskonferenz wurde 1992 die systemische Entzündungsreaktion (SIRS), Sepsis, schwere Sepsis und der septische Schock erstmals einheitlich definiert (Tab. 1). Das SIRS ist durch das Vorhandensein von mindestens zwei von vier der Entzündungszeichen definiert. Falls die systemische Entzündungsreaktion durch eine Infektion verursacht wurde, wird von einer Sepsis gesprochen. Wenn zusätzlich ein oder mehrere Organsysteme versagen, wird die Sepsis als schwer bezeichnet. Bei einer zusätzlichen refraktären Hypotension, handelt es sich um einen septischen Schock. Das in Folge von SIRS oder Sepsis durch Fehlfunktionen initial nicht betroffener Organe hervorgerufene physiologische Ungleichgewicht wird als Multi Organ Dysfunction Syndrom (MODS) bezeichnet(8). Das MODS kann sowohl nach Trauma als auch nach Sepsis auftreten(15). Trauma und Sepsis können zusammen auftreten oder ein Trauma kann im Verlauf eine Sepsis hervorrufen.
Tabelle 1: Definition der systemischen Entzündungsreaktion (SIRS), Sepsis, schweren Sepsis und septischen Schocks
Ausdruck Definition
Systemische
Entzündungsreaktion (SIRS)
zwei oder mehr der folgenden Entzündungszeichen:
Fieber oder Hypothermie (Körpertemperatur >38 °C oder <36 °C) Tachykardie (Herzfrequenz >90/min)
Tachypnoe (Atemfrequenz >20/min) oder PaCO2 <32 mmHg Leukozyten
>12 x 109/l oder <4 x109/l oder >10% Stabkernige
Sepsis systemische Entzündungsreaktion + Infektion
Schwere Sepsis
Sepsis + Organversagen:
Zeichen einer Organdysfunktion, Hypoperfusion oder arterielle Hypotension.
Die Hypoperfusion kann sich z.B. als Hypoxämie, Oligurie, Laktazidose oder akute Verwirrtheit präsentieren.
Septischer Schock
schwere Sepsis + arterielle Hypotension trotz adäquater Flüssigkeitszufuhr:
systolischer Druck <90 mmHg, mittlerer Druck <60 mm Hg oder Abfall des systolischen Drucks >40 mmHg des Ausgangswertes
KENNTNISSTAND
2.2 SIRS, CARS und MARS
Eine systemische Entzündungsreaktion des Körpers (SIRS), kann durch zahlreiche Stimuli verursacht werden. Dazu zählen neben lokal nicht zu beherrschenden Infektionen auch nicht-infektiöse Ursachen wie schwere Traumata, große Operationen, Strahlenschäden, Verbrennungs-Verletzungen und sterile Pankreatitis (Abbildung 2). Der Körper initiiert eine Entzündungskaskade im Rahmen der angeborenen, unspezifischen Immunität(8,16), um das Ausmaß der Schädigung lokal zu begrenzen und Schaden für den gesamten Organismus abzuwenden. Erreicht der Entzündungsprozess systemisches Niveau, so spricht man vom „Systemic Inflammatory Response Syndrome“ (SIRS).
Begleitet wird dieses Syndrom von einer Gegenregulation, dem „Compensatory Antiinflammatory Response Syndrom“ (CARS)(17), das eine überschießende Entzündung verhindern soll. Durch die physiologisch sinnvolle Entzündungshemmung wird jedoch gleichfalls die Fähigkeit des Organismus eingeschränkt, Krankheitserreger abzuwehren und Gewebe zu reparieren.
Zahlreiche Untersuchungen der vergangen zwei Jahrzehnte ließen folgendes Bild von der Entwicklung des SIRS entsprechend den von Mannick et al.
zusammenfassend dargestellten Grundlagen entstehen(18):
Polytraumatisierte Patienten entwickeln meist direkt nach der initialen Stabilisierungsphase ein SIRS, dem in einem bestimmten Prozentsatz von Patienten multiple Organfunktionsstörungen folgen (early MODS). Überlebt der Patient diese Phase, kann sich eine kompensatorische Immundysfunktion (CARS) mit verminderter Resistenz gegenüber Infektionen entwickeln. Tritt eine solche Infektion in dieser Phase mit den begleitenden Entzündungsreaktionen auf, können sich wiederum multiple Organdysfunktionsstörungen bis hin zum multiplen Organversagen ausbilden (late MODS). In diesem Zusammenhang wurde bereits vor
KENNTNISSTAND
mehr als 20 Jahren erkannt, dass die frühe Exposition eines polytraumatisierten Patienten gegenüber weiteren Stress zu einer zusätzlichen Freisetzung von immunologisch hoch aktiven Mediatoren kommt, die dann das bereits durch das initiale Trauma aus dem Gleichgewicht geratene Immunsystem derart entgleisen lassen, daß es zur Ausbildung eines posttraumatischen Organversagens kommt.
Die Immunantwort des Organismus auf eine schwere Infektion wird somit als ein zweiphasiges Konzept verstanden, mit einer initialen systemischen Inflammation (SIRS), die einhergeht mit einer systemischen Antiinflammation (CARS), wobei beide Phänomene überlappend vorliegen. Mit zunehmender Zeit dominiert dann das CARS
(19,20)
(Abbildung1). Bone nannte dieses Nebeneinander von systemischer Inflammation und Antiinflammation „Mixed Antagonistic Response Syndrome“
(MARS)(20).
Abbildung 1: Schematische Darstellung der Entwicklung eines posttraumatischen Organversagens (modifiziert nach Moore et al.(21))
KENNTNISSTAND
INFEKTION SEPSIS SIRS
BAKTERIÄMIE
FUNGÄMIE
VIRÄMIE
ANDERE VERBRENNUNGEN
TRAUMA PANKREATITIS
ANDERE
INFEKTION SEPSIS SIRS
BAKTERIÄMIE BAKTERIÄMIE
FUNGÄMIE FUNGÄMIE
VIRÄMIE VIRÄMIE
ANDERE VERBRENNUNGEN
TRAUMA PANKREATITIS
ANDERE
Abbildung 2: Klinisches Kontiniuum von Infektion, Sepsis und SIRS (modifiziert nach Bone et al.(8))
2.3 Pathogenese von SIRS und MODS
Das Immunsystem lässt sich in ein unspezifisches und ein spezifisches System unterteilen. Unter dem unspezifischen System versteht man physiologische Barrieren wie Schleimhäute, unspezifische humorale Faktoren, wie das Komplementsystem und phagozytierende Zellen wie Monozyten, Makrophagen und neutrophile Granulozyten (PMN). Unter dem spezifischen System wurden auf humoraler Ebene die Bildung von spezifischen Antikörpern und auf zellulärer Ebene differenzierte T- und B-Lymphozyten subsumiert.
Das unspezifische Immunsystem stellt die initiale Barriere des Organismus zur Abwehr von Gefahr für das Individuum dar. Wird dieser Schutzmechanismus durch lokale traumatische Gewebszerstörung zerstört kommt es zum Kontakt von
KENNTNISSTAND
Abwehrzellen mit immunologisch aktiver Gewebematrix und geht einher mit Ischämie und Reperfusion(18). Hierdurch wird die Aktivierung des Komplement-Systems über den klassischen als auch über den alternativen Weg als integraler Bestandteil des unspezifischen Immunsystems ausgelöst(22).
Freigesetzte Komplementprotein-Spaltprodukte aktivieren ihrerseits zelluläre Bestandteile des Immunsystems, indem sie chemotaktisch wirken und die Opsonierung bzw. Phagozytose von Gewebetrümmern und eingedrungenen Mikroorganismen anregen. Findet eine überschießende Komplementaktivierung durch ein ausgeprägtes Trauma statt, so kann es zur Depletierung der Komplement- Faktoren und damit zum Zusammenbruch der initialen Abwehrkette des Individuums kommen(23).
Bei Hypoxie und Ischämie, wie sie nach Gewebetrauma auftreten, kommt es zur Ausschüttung von Mediatoren und Adhäsionsmolekülen(24). Die daran anbindenden neutrophilen Granulozyten setzen ihrerseits ebenfalls aktivierende Zytokine, Sauerstoffradikale (respiratory burst) und proteolytische Enzyme frei. Die neutrophilen Granulozyten sind zwar essentiell für die körpereigene Abwehr, können aber auch gewebeschädigende Effekte ausüben.
Gelingt es dem Immunsystem nicht, eventuelle Erreger zu vernichten, sondern gelangen diese oder bakterielle Endotoxine in den Kreislauf, führt dies zu einer raschen systemischen Freisetzung von Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α), Platelet Activating Factor (PAF), Interleukin-1 (IL-1), Interleukin-6 (IL-6), Interleukin-8 (IL-8), Interferon-Gamma (INF-γ) und Prostaglandinen aus Monozyten, Granulozyten und aus Endothelzellen(25,26). Die Freisetzung von pyrogen wirkenden Zytokinen führt zu Fieber und zur Verringerung des peripheren Gefäßwiderstandes. Mehrere der genannten Faktoren haben einen schädigenden Effekt auf Endothelzellen und führen zu einer progressiven endothelialen Dysfunktion. Diese resultiert in einer erhöhten
KENNTNISSTAND
Permeabilität mit Transudation in die Organe. Histologisch finden sich in Lungen, Nieren und Leber Anzeichen eines interstitiellen Ödems und einer Granulozyteninfiltration(27). Es kommt zur generalisierten systemischen Entzündung.
Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass die unspezifische Entzündungsreaktion auch die mit einer gewissen Latenz auftretende Modifikation des spezifischen Immunsystems (Th1/Th2-Lymphozyten) vermittelt(28). Zentraler Punkt der zellassoziierten Immunantwort scheint die Interaktion des Monozyten/
Makrophagen-Systems mit dem T-/B-Zell-Systems zu sein. Die Antigen- präsentierenden Zellen (v.a. Makrophagen) verarbeiten das phagozytierte Fremdantigen und bieten es den ruhenden T-Lymphozyten an. Zusammen mit der Expression des Major Histocompatibility Complex (MHC) der Klasse II sowie der Produktion und Ausschüttung von Zytokinen durch die Antigen-präsentierende Zelle sind damit Vorraussetzungen für eine Aktivierung der T-Lymphozyten geschaffen.
Die nun aktivierten T-Lymphozyten synthetisieren ihrerseits spezielle Zytokine, die auch als Lymphokine bezeichnet werden. Hierdurch wird sowohl eine weitere Aktivierung und Proliferation der T-Lymphozyten-Population als auch eine erneute Stimulation der Antigen-präsentierenden Zellen induziert.
Die Beteiligung von Bakterien an der Ausbildung des SIRS wurde lange Zeit kontrovers diskutiert. Es hat sich gezeigt, dass bei polytraumatisierten Patienten das gastrointestinale Versorgungsgebiet häufig von passagerer Ischämie entweder durch direktes Trauma oder aber als Folge von Zentralisation im hämorrhagischen Schock betroffen ist. Persisitierende gastrointestinale Perfusionsstörungen auch nach erfolgreicher Schocktherapie sind maßgeblich an Mukosaschäden des Darmes beteiligt. Als deren Folge resultiert eine klinisch oft kaum nachweisbare Translokation von Bakterien und Endotoxinen über mesenteriale Lymphknoten und Lymphbahnen in die systemische Zirkulation(29). Über das Pfortadersystem erreichen diese die
KENNTNISSTAND
Leber, in der ortsständige Lebermakrophagen, durch die vorangegangene Schockphase aktiviert, bei Endotoxinkontakt erhebliche Mengen an Mediatoren freisetzen. Die Folge sind sowohl eine lokale Umstellung des Leberstoffwechsels auf Akut-Phase-Proteine als auch systemische Reaktionen, wie z.B. Alveolarschäden in der Lunge(30). Andererseits findet sich das posttraumatische SIRS auch bei Patienten ohne gastrointestinale Perfusionsstörung, dass dann am wahrscheinlichsten durch IRS-Phänomene der Peripherie ausgelöst wird. In diesem Zusammenhang konnten die prinzipiellen Mechanismen der maßgeblich an der Schadensausprägung beteiligten Leukozyten-Endothel-Interaktion (LEI) näher aufgeklärt werden und insbesondere die Reperfusionsphase des ischämischen Gewebes als kritisch für die LEI erkannt werden(31). Obwohl die Reperfusion essentiell für das ischämische Gewebe ist, verstärkt sich der parenchymatöse Schaden erheblich durch die dabei eingespülten aktivierten Leukozyten, insbesondere durch die PMN-Granulozyten und Monozyten/ Makrophagen, die im so genannten Reflow-Paradoxon mit dem Endothel des geschädigten Gewebes interagieren(32). Vorraussetzung hierfür ist die Expression von Selektinen auf ischämischen Endothelzellen (P-Selektin, E-Selektin) ebenso wie auf Leukozyten (L-Selektin). Als weiterer Interaktionspartner wurden Adhäsionsmoleküle (ICAM-1, PECAM-1, VCAM-1 etc.) und Integrine identifiziert, die das Rollen bzw. die Adhärenz der Leukozyten und deren Migration durch das geschädigte Endothel und somit die Phagozytose von geschädigtem Gewebe durch die primären Abwehrzellen ermöglichen(33).
Wie oben erwähnt ist die Verbindung zum spezifischen Immunsystem in diesem Zusammenhang nur unzureichend charakterisiert. Möglicherweise können jedoch neueste Erkenntnisse über alternative Aktivierungswege des T-Zell-Systems in Zukunft weitere Auskunft zur Frage der Interaktion zwischen unspezifischer und spezifischer Immunreaktion geben. So ließ sich nach aktueller Forschung eine
KENNTNISSTAND
Aktivierung von NK-Zellen (Natural Killer Cells) durch Faktoren des Komplement- Systems oder durch den u.a. auch von Monozyten expremierten Faktor Linker of activated T-Cells (LAT) ohne Präsentation eines spezifischen Antigens nachweisen(34).
Durch Aktivierung des Kallikrein - Kininsystems entsteht das Bradykinin, das zu einer weiteren Minderung des Gefäßwiderstandes und somit zur Hypotonie beiträgt(35). Die Aktivierung des Blutgerinnungssystems führt zu Thromben und Fibrin aus Fibrinogen in nahezu allen Gefäßen, wodurch lokale Ischämie auftreten kann. Wenn das Fibrinogen verbraucht ist, kommt es zu einer insuffizienten Gerinnung mit Extravasation von Blut (Verbrauchskoagulopathie, Disseminated Intravasal Coagulation, DIC).
Dieser Zustand aus Endothelschaden mit Transudation und Beeinträchtigung der Blutzufuhr durch Störung der Mikro- und Makrozirkulation kann im Funktionsverlust eines oder mehrerer Organe resultieren. Es entsteht eine Organdysfunktion bzw. bei Beteiligung mehrerer Organe eine Multiorgandysfunkion (MODS).
Die Prozesse im Rahmen einer systemischen Immunreaktion zeichnen sich durch das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl von löslichen Mediatoren, intrazellulären Faktoren und membran-gebundenen Molekülen aus, deren Verständnis für Diagnostik und Therapie von kritisch Kranken entscheidend ist.
2.4 Zytokine
Zytokine sind zentrale Regulatoren der körpereigenen Immunabwehr, deren Freisetzung durch verschiedene Faktoren wie Infektion, Trauma und Entzündung initiiert werden kann. Mit einem Molekulargewicht von 8.000-50.000 Dalton stellen sie dabei verhältnismäßig kleine Proteine dar. In der erstmaligen Beschreibung wurden
KENNTNISSTAND
zellulären Ursprung, beschrieben. Die Tatsache, dass die Zytokine jedoch von fast jeder zellkernhaltigen Zelle produziert werden können, führte zu dem heute gebräuchlichen Namen(36).
Zytokine sind Botenstoffe, die Informationen zwischen den Zellen vermitteln und damit Stärke und Dauer der Immun- und Entzündungsreaktion steuern(37).
Eine Einteilung dieser Mediatoren erfolgt in pro- und antiinflammatorische Zytokine anhand ihrer Rolle im Rahmen von Entzündungsreaktionen. Eine starre Einteilung erscheint hier jedoch nicht sinnvoll, da bei einigen Zytokinen sowohl pro- als auch antiinflammatorische Wirkungsmechanismen beschrieben werden.
2.4.1 Tumornekrosefaktor-α (TNF-α)
Beim Tumornekrosefaktor handelt es sich um einen der früh auftretenden proinflammatorischen Mediatoren in der Kaskade der Zytokine. TNF-α wird vor allem von Makrophagen, Monozyten und T-Lymphozyten gebildet. Sowohl gram-negative als auch gram-positive Bakterien, Pilze, Mykoplasmen, Tumorzellen, Zytokine wie TNF-α selbst, IFN-γ, Il-1, Il-2, Mitogen und Proteinkinase C - Aktivatoren können die TNF-α-Synthese induzieren(38). Daneben gehören Fieber und Schock zu physiologischen Stimuli. Aber auch Hämorrhagien initiieren eine erhöhte TNF-α- Freisetzung(39). Lipopolysaccharid (LPS), eine Komponente von gramnegativen Bakterien, aktiviert Monozyten durch Interaktion mit CD14, einem monozytären Oberflächenmolekül, zur TNF-α-Synthese(40).
TNF-α besitzt ein breites Spektrum biologischer Aktivitäten und ist einer der Hauptmediatoren bei toxischem Schock und gramnegativer Sepsis. Am Endothel hemmt es antikoagulatorische Mechanismen, begünstigt damit thrombotische Ereignisse und führt außerdem zu einer Prostaglandin E2 (PGE2) -Freisetzung(41).
α
KENNTNISSTAND
Lungenverletzung nach Blutverlusten eine wichtige Rolle. Blockieren von TNF-α mit monoklonalen Antikörpern vermindert die durch Hämorrhagie induzierte Lungenverletzung signifikant(42). Im Gehirn kommt es zu erhöhten TNF-α- Konzentrationen nach pathologischen Prozessen wie beispielsweise einer Ischämie(43,44) oder Verletzungen(45). TNF-α werden im Gehirn sowohl neurotoxische(46) als auch neuroprotektive Wirkungen zugesprochen(47). Das Zytokin führt im Gehirn zur Proliferation von Astrozyten und ist entscheidend an der Erhöhung der Permeabilität der Bluthirnschranke während der Reperfusion beteiligt(48). Über eine Erhöhung von Metalloproteinasen(49), ist TNF-α an der Schädigung der Basallamina und an der proteolytischen Zerstörung der Bluthirnschranke beteiligt (50,51). TNF-α wirkt nicht nur als Initiator des Entzündungsgeschehens, sondern hält auch die Produktion anderer Zytokine über einen längeren Zeitraum aufrecht(52). Patienten, die ein MODS entwickeln, haben höhere TNF-α-Level verglichen mit Patienten ohne schwere Komplikationen(53).
Neben spezifisch bindenden Proteinen sind lösliche TNF-α-Rezeptoren dafür verantwortlich, dass TNF-α im Plasma nur eine kurze Halbwertszeit von 14-18 min aufweist.
2.4.2 Interleukin-6 (IL-6)
Interleukin-6 wird vor allem von T- und B-Lymphozyten, Monozyten, sowie von Endothelzellen und Makrophagen gebildet(54). Die Induktion der IL-6-Synthese erfolgt durch LPS, IL-1 und TNF-α. In experimentellen Studien sowie im Rahmen von Versuchen an gesunden Probanden konnte gezeigt werden, dass IL-6 nach der Applikation von Endotoxin später als TNF-α induziert werden kann(55). T-Zellen können IL-6 nur in Gegenwart von Monozyten synthetisieren, während Monozyten
KENNTNISSTAND
Rezeptor (IL-6R) als auch mit Plasma-Membran-Rezeptoren interagiert, induziert die Proliferation von B-Lymphozyten und die damit assoziierte Erhöhung der Synthese von Immunglobulinen. Des Weiteren führt IL-6 zu einer verstärkten T- Lymphozytenproliferation, einer vermehrten Differenzierung von zytotoxischen T- Zellen und einer erhöhten Aktivität der NK-Zellen(55). Ebenso wurde beschrieben, dass IL-6 die Apoptose von neutrophilen Granulozyten verzögert und somit den potentiell schädigenden Effekt auf das Gewebe verlängern kann(56). IL-6 induziert in der Leber die Synthese verschiedene anderer Mediatoren, wie Fibrinogen, α1- Antitrypsin, C-reaktives Protein (CRP) und Komplementfaktoren(57). In tierexperimentellen Studien konnte nachgewiesen werden, dass IL-6 einen der wesentlichsten Mediatoren Im Rahmen der pathophysiologischen Vorgänge bei Trauma und Sepsis darstellt und hohe Plasmaspiegel mit einem schlechten Outcome assoziiert sind(58). Neben diesen proinflammatorischen Eigenschaften wird jedoch auch ein antiinflammatorischer Wirkungsmechanismus angenommen. So konnte gezeigt werden, dass IL-6 die Synthese von den proinflammatorischen Zytokinen TNF-α und IL-1 reduziert sowie die Freisetzung von antiinflammatorischen Mediatoren wie z.B. Glukokortikoiden und löslichen TNF-Rezeptoren erhöht(59). Aufgrund seines im Vergleich zu TNF-α späten Anstiegs und einer deutlich längeren Halbwertszeit erscheint IL-6 als Parameter sehr gut geeignet, um das Ausmaß und den Zeitpunkt sekundärer Operationen nach einem Polytrauma zu bestimmen(60). Miyaoka et al. konnten nachweisen, dass die Entwicklung eines SIRS am ersten postoperativen Tag nach einem elektiven Eingriff mit signifikant erhöhten IL-6- Plasmakonzentrationen assoziiert war(61). Am 3. postoperativen Tag konnten die SIRS-Kriterien bei keinem der Patienten mehr nachgewiesen werden. Parallel hierzu zeigte sich zu diesem Zeitpunkt auch eine signifikante Reduktion der IL-6- Plasmakonzentrationen. Die Autoren schlossen hieraus, dass IL-6 einen adäquaten
KENNTNISSTAND
Parameter zur Bestimmung des Schweregrades der postoperativen Entzündungsreaktion darstellt. IL-6 weißt 4-48h nach operativen Eingriffen die höchsten systemischen Reaktionen auf(62).
In anderen klinischen Studien konnte zusätzlich gezeigt werden, dass die postoperativen IL-6-Plasmaspiegel mit der Entwicklung von Komplikationen (Sepsis, MODS) korrelierten(63). Außerdem wurde eine Korrelation der IL-6- Plasmakonzentration direkt nach einem Trauma mit dem ,,Injury Severity Score“
(ISS) nachgewiesen(64). Ein volumensubstituierter hämorrhagischer Schock bewirkt eine IL-6-Produktion in der Lunge, was zu Infiltration von neutrophilen Granulozyten und sekundären Lungenverletzungen führt(65). An Endothelzellen führt Interleukin-6 zu einer reversiblen Erhöhung der Permeabilität(66). IL-6 wird auch in anderen Organen, wie beispielsweise der Leber gebildet(67). Auch bei der Entwicklung einer Darmbarrierendysfunktion nach substituiertem hämorrhagischen Schock ist IL-6 ein wesentlicher Mediator(68). Im Gegensatz zu den lokalen proinflammatorischen Effekten von IL-6 führen systemische IL-6-Applikationen zu drastisch verminderten Entzündungsreaktionen und Schäden in Lunge und Leber(69). Bei hämorrhagischem Schock dominieren jedoch die lokalen proinflammatorischen Effekte, die zu Granulozyteninfiltration und Organschäden führen(70). Sowohl an Patienten als auch im Rattenmodell konnte gezeigt werden, dass es nach einem Schädelhirntrauma zu einer Erhöhung der IL-6-Spiegel im Plasma und noch deutlicher im Liquor cerebrospinalis kommt(71). Im Gehirn wird IL-6 eine wichtige Rolle bei Reparaturprozessen nach einer traumatischen Hirnschädigung zugesprochen(72). Andererseits kann eine erhöhte IL-6- Produktion im Gehirn auch die Funktion der Bluthirnschranke beeinflussen und an einer Schädigung des Hirnparenchyms beteiligt sein(73). Die Expression von IL-6 im Gehirn führt außerdem zur Entwicklung einer reaktiven Gliose(74).
KENNTNISSTAND
2.4.3 Interleukin-12 (IL-12)
Sowohl dendritische Zellen, neutrophile Granulozyten und Makrophagen als auch Keratinozyten und Mikroglia produzieren Interleukin-12 und induzieren damit die Proliferation von T-Zellen und NK-Zellen und deren Ausreifung zu zytotoxischen Effektorzellen ebenso wie die Produktion von INF-γ(75,76). Auch bei der Entwicklung von naiven T-Zellen zu Th1-Zellen wirkt IL-12 als Stimulator und fördert damit die zelluläre Immunabwehr.
So wurde bei extrakraniellen Traumata ein Zusammenhang zwischen erniedrigten IL- 12 Werten und verminderten Resistenz gegenüber Infektionen und erhöhter Mortalität nachgewiesen(77). Bei Polytraumapatienten ist die Datenlage nicht eindeutig, es wurden sowohl erhöhte als auch erniedrigte IL-12 Plasmaspiegel gemessen(77). Bei Schädelhirntraumapatienten wurden signifikant erhöhte IL-12- Werte im Liquor gemessen(78), das hier hauptsächlich von Mikroglia(79) und Astrozyten(80) produziert wird. Die Astrozyten wirken dabei durch Hemmung von Mikroglia als Regulator auf die IL-12-Produktion(81).
2.4.5 Interferon-γ (IFN-γ)
IFN-γ wird neben Th1-Lymphozyten, CD8+-T-Zellen und NK-Zellen auch von dendritischen Zellen, Makrophagen und Astrozyten gebildet(82). Durch IFN-γ wird die Differenzierung von Th1-Zellen indirekt über die Hemmung der Proliferation von Th2- Zellen(83) und direkt über eine Optimierung der Ansprechbarkeit auf IL-12 gefördert(84). Des Weiteren aktiviert IFN-γ Makrophagen und erhöht deren Zytotoxizität. Djeu und Blanchard konnten 1988 nachweisen, dass IFN-γ auch auf neutrophile Granulozyten und NK-Zellen aktivierend wirkt und die Differenzierung zu
KENNTNISSTAND
zytotoxischen T-Zellen initiiert(85). Auf Monozyten hat IFN-γ einen chemotaktischen Einfluss. In einem Tierexperiment an Mäusen konnte schon 1988 gezeigt werden, dass eine IFN-γ-Injektion nach hämorrhagischem Schock die Mortalität signifikant senkt(86). In jüngster Zeit wurde nachgewiesen, dass sowohl bei Patienten mit Schädelhirntrauma(87), wie auch bei cerebraler Ischämie(88) vermehrt IFN-γ-mRNA exprimiert wird. Es konnte gezeigt werden, dass IFN-γ zu einer Aktivierung von Astrozyten führt(89) und ein wichtiger Mediator der reaktiven Gliose ist(90).
2.4.6 Monocyte chemoattractant protein-1 (MCP-1)
Die Funktion des MCP-1, ist die chemotaktische Wirkung auf Leukozyten. Es wird nach Induktion von Makrophagen, bestimmten Gewebszellen wie Fibroblasten und Endothelzellen aber auch von Astrozyten und Neuronen gebildet(91).
In diversen Studien wurde belegt, dass MCP-1 chemotaktisch auf Monozyten, T- Lymphozyten und murine Astrozyten wirkt(92) und die Migration aktivierter NK-Zellen fördert(93). Rosseau et al. zeigten 2000, dass eine MCP-1-Erhöhung bei ARDS- Patienten in der bronchoalveolären Lavage (BAL) von einem vermehrten Monozyten- Einstrom begleitet ist. Die Stärke der respiratorischen Funktionsstörung korreliert mit der MCP-1 Konzentration(94). Im Gehirn deuten entsprechende Rezeptoren auf Mikroglia darauf hin, dass dieses Chemokin an Interaktionen zwischen Neuronen und Mikroglia beteiligt ist. Es konnte eine erhöhte Expression von MCP-1 in Neuronen nach Nervenverletzungen nachgewiesen werden(95). Studien am ischämischen Hirn bewiesen, dass MCP-1 eine entscheidende Rolle bei der Migration von Makrophagen in die Läsion spielt und dass die zeitlich unterschiedliche Freisetzung von Chemokinen zu Regulierung von eindringenden Leukozytensubtypen beiträgt(96).
KENNTNISSTAND
2.5 Tierexperimentelle Modelle
2.5.1 Experimentelles Schädelhirntrauma
In den letzten Jahren wurden verschiedene tierexperimentelle Schädelhirntrauma- Modelle etabliert. Entsprechend der Gewalteinwirkung direkt vs. indirekt ist eine Einteilung in 3 Hauptgruppen sinnvoll:
Direct-Brain-Deformation-Modelle
Inertial-Acceleration-Modelle und
Impact-Acceleration-Modelle
Bei den Direct-Brain-Deformation-Modellen kommt es über eine Kraniotomie zu einer direkten Krafteinwirkung auf die Dura mater und somit zu einer Komprimierung des Cortex Cerebri ohne zwischengeschaltete energie- absorbierende Strukturen. Beim Fluid-Percussion-Modell(97) wird nach der Trepanation durch Injektion physiologischer Kochsalzlösung eine Druckwelle initiiert, die sich dann im Epiduralraum konzentrisch ausbreitet und damit lokal zu einer Gehirnprellung führt. Durch Variation der Dauer und der Höhe des Flüssigkeitsdruckes kann die Schwere des Traumas beeinflusst werden. Ein weiteres Direct-Brain-Deformation-Modell ist das von Lighthall et al.
1988 entwickelte Controlled-Cortical-Impact-Modell(98). Hierbei wird das Trauma durch einen pneumatisch angetriebenen Impactor (Druckkolben), der auf die durch Trepanation freigelegte intakte Duraoberfläche trifft, ausgelöst. Durch Veränderung der Eindringtiefe und der Aufschlaggeschwindigkeit kann die Schwere des Traumas variiert werden.
KENNTNISSTAND
Bei den Inertial-Acceleration-Modellen wird das Schädelhirntrauma durch definierte Rotationsbeschleunigungen des Kopfes ohne Aufprall ausgelöst. Dieses Modell wurde von Ommaya et al. bereits 1966 am Affen etabliert und von Ross et al. 1994 für die Anwendung am Schwein modifiziert(99,100).
Bei den Impact-Acceleration-Modellen wird ein Beschleunigungstrauma durch direkte Gewalteinwirkung auf den Schädel erreicht, wie es beim durch Shapira et al. 1988 etablierten Weight-Drop-Modell(101) der Fall ist. Dieses Modell wurde durch Marmarou et al. 1994 weiterentwickelt und durch Chen et al. 1996 auf die Maus übertragen(102,103). Hierbei wird das Schädelhirntrauma ausgelöst, indem ein definiertes Gewicht aus einer bestimmten Höhe auf den Schädel trifft. Der Schweregrad der Verletzung kann hierbei durch Variieren der Fallhöhe bzw. des Gewichtes verändert werden.
Dieses Modell kam auch in dieser Arbeit in modifizierter Form zur Anwendung und wird in Kapitel 4.4 detailliert beschrieben.
2.5.2 Frakturmodelle und experimenteller hämorrhagischer Schock An vielen Spezies wurden Frakturmodelle für verschiedene Brucharten an unterschiedlichen Knochen, hauptsächlich der Extremitäten, aber auch der Rippen entwickelt(104,105). So kann eine Fraktur beispielsweise durch 3-Punkt-Biegung mit Hilfe einer Zange oder mittels einer Art Guillotine ausgelöst werden(106)). Die meisten Modelle dienen der Untersuchung der Frakturheilung und deren Komplikationen aber auch der Entwicklung und Bewertung verschiedener Osteosyntheseverfahren. Es existieren jedoch auch Frakturmodelle für bestimmte Fragestellungen der Unfallchirurgie, in denen zum Beispiel die Auswirkungen der Fraktur auf den Organismus untersucht werden, etwa ob eine Fraktur, dass durch einen
KENNTNISSTAND
Um experimentell einen hämorrhagischen Schock auszulösen, wurden ebenfalls verschiedene Modelle an unterschiedlichen Spezies etabliert. Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen unkontrollierten und druck- bzw. volumenkontrollierten Schockmodellen. Ein unkontrollierter hämorrhagischer Schock wird durch eine chirurgisch nicht kontrollierte Blutung ausgelöst. Wichtig ist hierbei, dass die Blutung über eine messbare Zeitspanne anhält, dabei ein signifikantes Blutvolumen verloren wird und die Blutung spontan endet(108). Bei dem druckkontrollierten Schockmodell nach Wiggers et al. von 1950 wird die zu entziehende Blutmenge über den Blutdruck reguliert(109). Dem Tier wird so viel Blut abgenommen, bis ein definierter mittlerer arterieller Druck (MAD) erreicht ist. Dieser wird dann bis zur Substitution für eine bestimmte Zeitspanne aufrechterhalten. Das durch Collins et al. 1969 etablierte volumenkontrollierte Schockmodell funktioniert analog, nur wird statt des MAD das abzunehmende Blutvolumen zur Kontrolle herangezogen. Über das Körpergewicht des Tieres wird sein Gesamtblutvolumen errechnet und ein definierter Teil dieses Blutvolumens abgenommen(110).
Um die klinische Situation der Hämorrhagie durch ein Trauma zu simulieren, werden die genannten Schockmodelle mit unterschiedlichen Traumata wie etwa einer Laparotomie oder Frakturen der langen Röhrenknochen kombiniert(107). Da insbesondere die Femurfraktur beim Menschen mit einem starken Blutverlust einhergeht, soll der experimentelle hämorrhagische Schock, der mit einer Femurfraktur kombiniert wird, in erster Linie diesen Blutverlust nachahmen.
In der vorliegenden Studie wurde ein volumenkontrollierter hämorrhagischer Schock, mit einer geschlossenen Fraktur des Femurs und einem Schädelhirntrauma (Weight- Drop-Modell) im Sinne eines Polytraumas kombiniert. Die Methoden werden detailliert in Kapitel 4.4 beschrieben.
FRAGESTELLUNG
3 Fragestellung
Die vorliegende Arbeit soll Effekte des Interleukin-6 im Rahmen des Systemic Inflammatory Response Syndrome beim Polytrauma aufzeigen.
Auf der Basis eines tierexperimentellen Modells wurde ein geschlossenes Schädelhirntrauma, eine stumpfe Weichteil- und Knochenverletzung (Femurfraktur) und ein hämorrhagischer Schock im Sinne eines Polytraumas kombiniert.
Die Versuchsreihe wurde sowohl an Interleukin-6 knock-out Mäusen (IL-6-/-), bei denen das Gen für Interleukin-6 mittels genetischer Manipulation (Gene targeting) deaktiviert wurde, als auch parallel an Mäusen vom Wildtyp (WT) durchgeführt.
Anhand klinischer, histopathologischer und immunologischer Untersuchungen wurden die Auswirkungen des Polytraumas im Tiermodell verdeutlicht und folgende Hypothesen untersucht:
Interleukin-6 hat einen Effekt auf die Letalität und den klinischen Zustand der
Tiere (Aktivitätsverhalten, Körperkerntemperatur und Körpergewicht) nach komplexem Trauma.
Interleukin-6 hat einen Effekt auf die T-Zell vermittelte Immunantwort, sowie
die Plasmakonzentrationen der Zytokine TNF-α, MCP-1, IL-12 und IFN-γ nach komplexem Trauma.
Interleukin-6 hat einen Effekt auf histologische Veränderungen in den Organen Lunge, Leber, Milz, Niere und Gehirn im Sinne konsekutiver Organdysfunktion nach komplexem Trauma.
MATERIAL UND METHODEN
4 Material und Methoden
4.1 Versuchstiere
Die Studie wurde an 20 männlichen Mäusen des Inzuchtstammes B6; 129S2- IL6tmlKopf (IL-6 Knockout = IL-6-/-), mit einem mittleren Gewicht von 27,6 ± 2,3 g und zur Kontrolle an 16 männlichen Mäusen des Inzuchtstammes C57BL/6J (Wildtyp = WT), mit einem mittleren Körpergewicht von 28,3 ± 2,4 g durchgeführt.
Die Tiere stammten aus dem Zentralen Tierlaboratorium der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie wurden in Gruppengrößen von vier bis sechs Tieren in Makrolon®-Käfigen Typ III (Tecniplast, Buguggiate, Italien) unter kontrollierten Umweltbedingungen bei einer Raumtemperatur von 20°C ± 2°C und einem 12-h- Tages-Nacht-Rhythmus gehalten. Die Tiere erhielten ein pelletiertes Alleinfuttermittel (Altromin® 1324, Altromin GmbH, Lage) ad libitum und hatten über Makrolon®- Flaschen stets freien Zugang zu Trinkwasser. Als Einstreu fand ein Standardweichholzgranulat für Labortiere (Altromin GmbH, Lage) Verwendung.
Zweimal pro Woche wurden die Tiere in neue Käfige mit frischem Trinkwasser und Futterpellets umgesetzt.
Die Versuche der WT- und IL-6-/- Mäuse wurden von der Bezirksregierung Hannover unter dem Aktenzeichen 08/1478 am 03.06.2008 und unter dem Aktenzeichen 03/672 am 10.07.2003, Verlängerung am 14.01.2005, genehmigt.
MATERIAL UND METHODEN
4.2 Versuchsaufbau
Zur Verdeutlichung der Effekte von Interleukin-6 für das SIRS beim Polytrauma anhand eines Polytrauma-Modells der Maus wurden insgesamt 36 Tiere, 20 IL-6 -/- Tiere und als Kontrollgruppe 16 Tiere vom Wildtyp, operiert.
Tabelle 2: Aufteilung der Gruppen unter Angabe von Mäusestamm und Tieranzahl
Gruppe Stamm Anzahl
1 WT 16
2 IL-6-/- 20
Zur Initiierung eines Polytraumas wurde eine geschlossene Fraktur des Femurs, mit einer volumenkontrollierten Hämorrhagie und einem definiertem geschlossenen Schädelhirntrauma kombiniert.
Die T-Zell vermittelte Aktivierung des Immunsystems der Tiere wurde nach Auslösen einer Kontakthypersensibilitätsreaktion (Typ-IV-Reaktion) ermittelt.
Die Versuchsdauer betrug 96 Stunden. 96 Stunden post Trauma wurden die Tiere mittels Exsanguination durch mediane Laparatomie euthanasiert.
Blut und die Organe Lunge, Leber, Milz, Niere und Gehirn wurden entnommen, histologisch aufbereitet und mittels Hämatoxylin und Eosin (H.E.) gefärbter Präparate untersucht. Die histologischen Hirnschnitte wurden zusätzlich mit Hilfe einer Nissl- Färbung und den immunhistochemischen Färbungen GFAP (Glial Fibrillary Acidic Protein) und APP (Amyloid Precursor Proteins) angefärbt. Aus einem Teil der Milz wurde eine Zellsuspension hergestellt. Mittels Durchflusszytometrie wurde sowohl die Milzsuspension auf Lymphozyten als auch das Plasma auf Zytokinkonzentration untersucht.
MATERIAL UND METHODEN
4.3 Studienablauf
Zwei Tage vor der Durchführung des Traumas wurde nach der Visite, die immer aus der Ermittlung der klinischen Untersuchungsparameter (Gewicht, Körperkerntemperatur, Aktivität und Ohrdicke) bestand, die Sensibilisierung der Mäuse am Rücken mit 1%igem DNFB (2,4-Dinitrofluorobenzen) für die spätere Messung der Hypersensibilitätsreaktion vom verzögerten Typ (Typ-IV-Reaktion) durchgeführt. Vierundzwanzig Stunden später wurde eine weitere Visite durchgeführt, die dazu diente, eine mögliche Reaktion auf die DNFB-Sensibilisierung zu erkennen. Unmittelbar vor der Durchführung des Traumas fand dann die nächste Visite statt (Visite 0). Die folgenden drei Visiten (12 h, 24 h und 48 h nach Trauma) dienten der Erfassung der klinischen Untersuchungsparameter und der Ohrdicke.
Nach 72h post Trauma wurden die Tiere erneut mit 0,5% DNFB dorsal am rechten Ohr in Kontakt gebracht. Durch diesen Zweitkontakt wurde die Hypersensibilitätsreaktion vom Typ IV ausgelöst (T-Zell vermittelt), die 24 Stunden später (96-h post Trauma) anhand der Ohrdickenzunahme quantitativ erfasst werden konnte. Dieser Visite folgte die Euthanasie der Tiere, die Organentnahme und die entsprechende Aufbereitung und Auswertung der Proben.
Im Falle übermäßigen Leidens eines Tieres durch das Trauma wurde das entsprechende Tier vor Abschluss der Studie euthanasiert.
MATERIAL UND METHODEN
Abbildung 3: Studienablauf mit Angabe der Untersuchungszeitpunkte und Art der Versuchsdurchführung
4.4 Durchführung des Polytraumas
Zur Durchführung der Versuche erfolgte die Narkose mittels subkutaner Injektion von 100 mg/kg Körpergewicht Ketamin (Ketanest®) und 16 mg/kg Körpergewicht 2%igem Xylazin (Rompun®). Die Augen der Tiere wurden mit Dexpanthenol (Bepanthen® Augen- und Nasensalbe) gegen Austrocknung geschützt. Die Operationsfelder wurden rasiert, gereinigt und desinfiziert.
Nach erfolgter Traumatisierung verblieben die Tiere zum Schutz vor Hypothermie unter einer Rotlicht-Wärmelampe. Eine Analgesie wurde bis zur Euthanasie und Organentnahme (96h post Trauma) mit Metamizol (Novaminsulfon Ratiopharm®
Tropfen) (1mg/ml) ad libitum über das Trinkwasser erreicht.
Bei beiden Versuchsgruppen wurden die unten beschriebenen Traumata mit einer Hämorrhagie kombiniert und damit ein Verletzungsmuster eines Polytraumas verursacht.
MATERIAL UND METHODEN
4.4.1 Femurfraktur
Der rechte Femurschaft des Tieres wurde mit Hilfe einer nach Hiltunen et al.
modifizierten Frakturmaschine (Abbildung 4) mit einem standardisierten Gewicht von 400 g und einer Fallhöhe von 160 mm frakturiert. Dazu wurde nach der Kontrolle der Narkosetiefe palpatorisch der rechte Femur aufgesucht und mittig unter der Frakturmaschine fixiert. Das definierte Gewicht wurde auf den Stempel fallen gelassen und somit das Trauma initiiert. Anschließend wurde durch Überprüfen von Krepitation und pathologischer Beweglichkeit in der Frakturzone der Bruch kontrolliert. In den Fällen, in denen keine Fraktur aufzufinden war, wurde die Traumatisierung wiederholt und dies protokolliert. Der Bruch wurde geschlossen reponiert und mit einer Schiene versorgt.
4.4.2 Hämorrhagischer Schock
Unmittelbar nach Durchführung der Femurfraktur wurde dem Tier noch in Narkose durch Punktion des retrobulbären Venenplexus 60% seines Blutvolumens abgenommen. Hierbei wurde nach Stauen der Halsgefäße durch Zwangsgriff im Nackenbereich eine heparinisierte (Liquemin® N 25000, Hoffmann-La Roche AG, Grenzach-Wyhlen) Hämatokrit-Glaskapillare (End-to-End, 20µl K2 EDTA, Sarstedt,) vorsichtig unter leichten Drehbewegungen am nasalen Augenwinkel in Richtung auf das kontralaterale Kiefergelenk eingeführt bis die knöcherne Orbita erreicht wurde.
Durch leichtes Zurückziehen der Kapillare stieg das Blut auf. Die Menge des abzunehmenden Blutes war zuvor mittels folgender Formel errechnet worden:
Formel 1: Formel zum Errechnen der abzunehmenden Blutmenge für den hämorrhagischen Schock; 33,3 = mittlerer Hämatokrit; 20 µl = Volumen der Hämatokrit-Glaskapillare; 1,1 mg/µl = Dichte von Mäuseblut
MATERIAL UND METHODEN
Das Blut wurde in einem sich auf einer Feinwaage (Typ L 610, Sartorius GmbH, Göttingen) befindenden Eppendorfröhrchen (Eppendorf, Hamburg) gesammelt und dadurch die Blutmenge während des Abnehmens kontrolliert.
Der hypovolämische Zustand der Tiere wurde für 60 Minuten aufrechterhalten.
Während dieser Zeit befanden sie sich unter einer Wärmelampe, um eine Hypothermie zu vermeiden. Danach wurde zur Volumensubstitution sterile Ringer- Lactat-Lösung (Braun, Melsungen) in vierfacher Menge des entnommenen Blutvolumens intraperitoneal appliziert.
4.4.3 Schädelhirntrauma
Die Erzeugung des geschlossenen Schädelhirntraumas erfolgte mit Hilfe des modifizierten Modells nach Shapira et al. (Abbildung 5).
Der Kopf des tief narkotisierten Tieres wurde in einem stereotaktischen Rahmen fixiert und eine Mittellinieninzision der Haut durchgeführt. Nach Abspannen der Kopfhaut nach lateral und erfolgter Blutstillung wurde die Sutura sagittalis und kaudal die Sutura coronalis aufgesucht. Der Druckkolben mit einem Durchmesser von 3 mm wurde links der Sutura sagittalis und kaudal der Sutura coronalis positioniert.
Ansteuerung und Geschwindigkeitsmessung erfolgten mit der auf einem Laptop installierten Software ,,Labview“ (National Instruments, Austin, USA). Mittels Sensoren an der SHT-Maschine wurde die Beschleunigung und die Wegstrecke ermittelt und unmittelbar nach dem Auftreffen auf der Kalotte auf dem Laptop angezeigt. Die mittlere Geschwindigkeit lag bei 3 m/s. Unmittelbar vor der Traumaapplikation wurde die Geschwindigkeit des Schusszylinders nochmals mit Probeschüssen überprüft. Nach erfolgter Traumatisierung wurden die Kopfhaut mit etwa vier Einzelheften aus nichtresorbierbarem Nahtmaterial (4.0 Prolene, Ethicon, Norderstedt) verschlossen.
MATERIAL UND METHODEN
Abbildung 4: Femurfrakturmaschine, modifiziert nach Hiltunen et al.(106)
Abbildung 5: Schädelhirntrauma-Maschine modifiziert nach Shapira et al.(101), Detailaufnahme: Druckkolben
MATERIAL UND METHODEN
4.5 Übersicht Untersuchungsparameter
Um die Auswirkungen der durchgeführten Traumata beurteilen zu können, wurden folgende Parameter untersucht:
Tabelle 2: Parameter zur Beurteilung der Ausbildung eines SIRS nach Trauma
Untersuchung Parameter
Letalität bzw. Überlebensrate Todeszeitpunkte Körpergewicht
Körperkerntemperatur Klinische Untersuchung
Aktivität Immunstatus/ Typ-IV-Reaktion Ohrdicke
Interstitielles Ödem Lunge Granulozyteninfiltration
Interstitielles Ödem Granulozyteninfiltration Leber Hydropische Degeneration
Nekrose
Abgrenzbarkeit der Milzpulpa Milz Fülle der weißen Milzpulpa
Fülle der Glomeruli Histologische
Untersuchung
Niere Granulozyteninfiltration relative Cortexdicke
Qualitative Beurteilung der Neuronen Astrozytendichte im Cortex
Histologische und Immunhistochemische
Untersuchung Gehirn Astrozytendichte im Hippocampus CD4+-T-Zellen
CD8+-T-Zellen Lymphozyten-
subpopulation in der
Milzsuspension NK-Zellen (Ly49) TNF-α
MCP-1 IL-12 Durchflusszytometrie
Zytokin-
konzentrationen
Im Plasma IFN-γ
MATERIAL UND METHODEN
4.6 Klinische Untersuchungsparameter
Um eine Aussage über die Letalität bzw. Überlebensrate zu erhalten, wurden die Todeszeitpunkte der Tiere bei den Visiten notiert. Für die Beurteilung des klinischen Allgemeinzustandes wurden Körpergewicht, Körperkerntemperatur und die Aktivität erfasst.
Die Körperkerntemperatur wurde rektal mit einem digitalen Thermometer (Typ GTH 1200, Greisinger Electronic GmbH, Regenstauf) gemessen. Anschließend wurde das Körpergewicht der Tiere ermittelt (Typ P1200, Mettler-Waagen GmbH, Gießen).
Die Aktivität der Mäuse wurde anhand der in Tabelle 3 abgebildeten Skala beurteilt.
Hierbei wurde je nach Verhalten des Tieres die Aktivität von 1 (moribund) bis 6 (sehr aktiv) bewertet(111).
Tabelle 3: Skala zur Beurteilung der Aktivität der Versuchstiere anhand definierter Aktivitätsgrade durch spezifische Verhaltensmerkmale nach van Griensven.
6 sehr aktiv kräftig, neugierig, schnelle Bewegungen 5 aktiv neugierig schnell, vereinzelte Aktivitätspausen 4 eingeschränkt aktiv Reaktion auf Zuwendung, häufige Aktivitätspausen 3 ruhig Desinteressiert an Umwelt, schläfrig
2 lethargisch keine Aktivität, Verharren, keine Nahrungsaufnahme 1 moribund keine Aktivität, Tod zu erwarten
MATERIAL UND METHODEN
4.7 T-Zell-vermittelte Typ IV-Reaktion
Für die Erfassung des Immunstatus der Tiere wurde eine T-Zell-vermittelte Typ-IV- Reaktion mittels DNFB (2,4 Dinitroflourobenzen) ausgelöst. 24 Stunden nach Zweitkontakt (Challenge) mit dem Antigen konnte die Ödemreaktion am rechten Ohr quantitativ als Ohrdickenzunahme beobachtet werden. Um diese berechnen zu können, wurde die Ohrdicke des rechten Ohres bei jeder Visite mit Hilfe eines Präzisionsmikrometers (Oditest®, Kroeplin GmbH, Schlüchtern) gemessen.
Die Kontaktsensibilisierung mittels epikutaner Applikation von 50 µl 1%igem DNFB (DNFB, Sigma-Aldrich Chemie GmbH, Steinheim) am teilrasierten Rücken wurde nach der ersten Visite, 48 Stunden vor Trauma durchgeführt.
Der wiederholte Antigenkontakt (Challenge) fand 24 Stunden vor der Organentnahme statt (72h Visite). Hierbei wurden 50 µl 0,5%iges DNFB epikutan auf der dorsalen Seite des rechten Ohres der Mäuse aufgetragen.
Das Protokoll für die Herstellung des 1%igen bzw. 0,5%igen DNFB-Ansatzes befindet sich im Anhang.
Zur Quantifizierung der Immunantwort, die als inflammatorische Ödemreaktion imponierte, diente der Quotient der Ohrdicke 24 Stunden nach Zweitkontakt (96h Visite) und der Ohrdicke vor diesem Zweitkontakt jedoch nach Erstsensibilisierung (72h Visite).
Formel 2: Formel zur Berechnung der relativen Veränderung der Ohrdicke
relative Ohrdickenveränderung = Ohrdicke nach Zweitkontakt mit DNFB Ohrdicke vor Zweitkontakt mit DNFB
MATERIAL UND METHODEN
4.8 Blut- und Organentnahme
Die Probengewinnung fand 96 Stunden nach Durchführung des Traumas statt. Dazu wurden die mit Ketamin (100 mg/kg Körpergewicht) und 2%igem Xylazin (16 mg/kg Körpergewicht) narkotisierten Tiere durch Exsanguination getötet.
Nach erfolgter medianer Laparotomie und Eröffnung der Brusthöhle wurde das Herz mit einer mit Heparin (Liquemin® N 25000) benetzten Spritze punktiert. Das gewonnene Vollblut wurde fünf Minuten bei Raumtemperatur und 1750 rpm zentrifugiert. Der Plasmaüberstand wurde abpipettiert, in flüssigem Stickstoff (Linde, Hannover) tiefgefroren und bis zur weiteren Untersuchung bei -80°C gelagert. Zur Fixierung wurde das Gehirn über das Herz-Kreislauf-System mit 4%iger phosphatgepufferter Formalinlösung (Herstellung: siehe Anhang) perfundiert, entnommen und fixiert.
Daraufhin wurde die Lunge mit 4%iger phosphatgepufferter Formalinlösung perfundiert und in einem Gläschen mit Formalinlösung fixiert. Von der Milz wurde ca.
1/3 durch ein Sieb gerieben und mit einigen Tropfen Natriumchlorid verdünnt. Diese Suspension wurde mit Hilfe einer Spritze aufgenommen und bis zur weiteren Aufbereitung für die Analyse der Lymphozytensubpopulation in einem Eppendorfröhrchen auf Eis gelagert. Der Rest der Milz sowie die Nieren und der rechte Leberlappen wurden für spätere histologische Untersuchungen in phosphatgepufferter Formalinlösung fixiert.
4.9 Aufbereitung und Auswertung der Proben 4.9.1 Histologische Aufbereitung
Die nach der Organentnahme in 4%igem gepufferten Formalin fixierten Organe (Lunge, Leber, Milz, Niere und Gehirn) wurden in entsprechende Einbettkassetten (Roth, Karlsruhe) verbracht und über Nacht mit Hilfe eines Einbettautomaten mit
MATERIAL UND METHODEN
Einkammersystem (Shandon, Frankfurt) in Paraffin (Gewebeeinbettmittel, Vogel- Histo-Comp®, Vogel, Gießen) eingebettet. Mit einem Microtom (HM 355, MICROM GmbH, Walldorf) wurden Schnitte von Lunge, Leber, Milz und Niere mit einer Dicke von 5 µm angefertigt.
Vom Gehirn wurden ab dem Übergang des Bulbus olfactorius zum Cerebrum bis zum Erreichen des Cerebellums 3 µm dicke Schnitte präpariert. Es wurden pro Gehirn vier annähernd gleiche Serien von vier Objektträgern angefertigt. Pro Objektträger wurden drei Hirnschnitte aufgenommen während dazwischen, außer in der Traumaregion (Bregma -1 mm bis Bregma -3 mm) ungefähr 30 Schnitte verworfen wurden. Alle aufgenommenen und verworfenen Gehirnschnitte wurden in einer Tabelle dokumentiert.
Bei den restlichen Organen wurden jeweils zwei bis drei repräsentative Schnitte aufgenommen. Die Schnitte wurden dabei vorsichtig mit einem Pinsel von dem Messer abgelöst und zum Strecken in ein auf knapp 40°C beheiztes Wasserbad (GFL® Typ 1052, GFL, Burgwedel) überführt. Von dort wurden sie mit einem Objektträger (Super Frost Plus, Menzel Gläser, Braunschweig) aufgenommen und zum Trocknen in eine verschließbare Präparatemappe gelegt.
Nach einer Trocknungszeit von mindestens 24 Stunden wurden die Präparate gefärbt. Dabei wurden die histologischen Schnitte von Lunge, Leber, Milz und Niere mit Hämatoxylin und Eosin (H.-E.) gefärbt, die Gehirnhistologien wurden sowohl einer H.E.- als auch einer Nissl-Färbung mit Kresylviolett und den immunhistochemischen Färbungen GFAP und APP unterzogen. Bei allen Färbungen wurden die Präparate zum Entfernen des Paraffins zweimal für zehn Minuten in Xylol (J.T. Baker, Deventer, Niederlande) verbracht. Die Rehydrierung erfolgte mit Hilfe einer absteigenden Alkoholreihe.
MATERIAL UND METHODEN
H.E.-Färbung
Hämatoxylin, ein natürlicher aus Blauholz gewonnener Pflanzenfarbstoff, färbt Zellkerne blau bis dunkelblau an. Als Gegenfärbung zu Hämatoxylin wird Eosin genutzt. Eosin ist ein schwach saurer Farbstoff, der das Zytoplasma kräftig rot färbt.
Jeder vierte Gehirnschnitt sowie alle Lungen-, Milz-, Nieren- und Leberschnitte wurden mit H.E. gefärbt (Färbeprotokoll siehe Anhang).
Nissl-Färbung
Mit Hilfe der Nissl-Färbung werden selektiv Neuronen dargestellt. Durch elektropolare Anlagerung des basischen Farbstoffs Kresylviolett an die sauren Gruppen der Nukleinsäuren werden hierbei die Kerne und Nisslschollen (raues endoplasmatisches Retikulum) der Nervenzellen angefärbt (Färbeprotokoll siehe Anhang).
GFAP-Färbung
GFAP findet als spezifischer Marker für reaktive Astrozyten Anwendung. Mit der GFAP-Färbung wird das saure Gliafilamentprotein angefärbt, eine der Hauptkomponenten des Zytoskeletts differenzierter Astrozyten(112). GFAP wird vermehrt nach Verletzungen des Zentralen-Nerven-Systems (ZNS) in hypertrophierten Astrozyten exprimiert. Für die GFAP-Färbung wurde ein Primärantikörper aus Kaninchen (Polyclonal Rabbit Anti-Cow-GFAP, DakoCytomation Z 0334) in einer Verdünnung von 1:400 und ein biotinylierter Sekundärantikörper aus Schweinen (Polyclonal Swine Anti-Rabbit Immunoglobulins/Biotinylated, DakoCytomation E0353) in einer Verdünnung von 1:500 verwendet (Färbeprotokoll siehe Anhang).
MATERIAL UND METHODEN
APP-Färbung
APP ist ein transmembranes Glykoprotein, welches ubiquitär im Gehirn exprimiert
wird(113). Eine APP Überexpression konnte in Folge verschiedener Stimuli wie z.B.
Ischämie, Trauma oder Inflammation in vitro und im Tiermodell nachgewiesen werden(114).
Eine immunhistochemische Darstellung von APP erlaubt den Nachweis geschädigter Axone, da eine Akkumulation wahrscheinlich auf eine Inhibition des schnellen anterograden Transportes zurückzuführen ist(115). In normalen Axonen wird APP auf dem schnellen Weg transportiert und hat niemals eine immunhistologisch detektierbare Konzentration in Gewebeschnitten. Eine Akkumulation von APP geschädigter Axone erfolgt proximal des unterbrochenen Segments. Die Immunreaktion in geschädigten Axonen für β-APP ist bei Kopftraumata bereits 1 bis 3 Stunden nach dem Insult positiv(116) und bleibt dies bis zu einem Monat(117). Neben den erwähnen Studien über APP-Immunreaktivität bei Schädeltraumata findet diese Nachweismethode auch Anwendung bei Untersuchungen über das shaken-baby- syndrome(118), bei Axonschäden im Zusammenhang mit Rückenmarkstraumata(119) und metabolischen Enzephalopathien(120) sowie bei demyelinisierenden Erkrankungen wie der MS. Für die Färbung wurde ein Primärantikörper und ein Sekundärantikörper aus Kaninchen (Polyclonal Rabbit anti Amyloid Precursor Protein) in einer Verdünnung von 1:100 verwendet (Färbeprotokoll im Anhang).
MATERIAL UND METHODEN
4.9.2 Auswertung der histologischen Präparate
Die mit Hämatoxylin und Eosin gefärbten Präparate der Organe (Lunge, Leber, Milz, Niere) wurden lichtmikroskopisch (Mikroskop BX51TF, Olympus, Tokyo, Japan) untersucht und semiquantitativ ausgewertet. Alle histologischen Untersuchungen wurden hinsichtlich der Gruppeneinteilung geblinded durchgeführt. Beurteilt wurde ein mögliches interstitielles Lungen- bzw. Leberödem, eine potentielle Granulozyteninfiltration in Lunge, Leber und Niere, ein Untergehen der Zellen in der Milz (im Sinne einer Nekrose), die Abgrenzbarkeit und Fülle der weißen Milzpulpa gegenüber der roten Milzpulpa, sowie die Fülle der Glomeruli in der Niere.
Dazu wurden je nach zu bewertendem Kriterium 100- oder 200-fache bzw. für Detailansichten bis zu 1.000-fache Vergrößerungen eingesetzt. Die Beurteilung erfolgt nach einem Bewertungsschema, bei dem je nach Ausprägung eines Merkmals ein Zahlenwert (Score) vergeben wurde (Tabelle 4 bis 7)(111).
Tabelle 4: Bewertungsschema zur semiquantitativen Beurteilung der histologischen Lungenpräparate
Lunge Granulozyteninfiltration Interstitielles Ödem
0 1 2 0 1 2
Score
+ ++ +++ + ++ +++
Erklärung + = ohne besonderen Befund ++ = geringgradige Veränderungen +++ = mittel bis hochgradige Veränderungen
Tabelle 5: Bewertungsschema zur semiquantitativen Beurteilung der histologischen Leberpräparate
Leber Granulozyteninfiltration Interstitielles Ödem
Hydropische Degeneration
0 1 2 0 1 2 0 1 2
Score
+ ++ +++ + ++ +++ + + +++
Erklärung + = ohne besonderen Befund ++ = geringgradige Veränderungen +++ = mittel bis hochgradige Veränderungen