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Archiv "Interview mit Prof. Dr. Robert Jütte, Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (BÄK): „Die Arzt-Patienten-Interaktion ist ganz zentral“" (19.07.2010)

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A 1388 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 28–29

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19. Juli 2010 Wie kommt der Wissenschaftliche Bei-

rat dazu, sich mit dem Thema Placebo zu befassen? Gibt es nichts Entspre- chendes, was man als Handreichung anbieten könnte?

Jütte: Es gibt bislang weltweit kei- ne umfassende Darstellung der Pla- ceboproblematik, also Zusammen- fassungen, die neben der Forschung auch die ethischen und rechtlichen Probleme miteinbeziehen. Der Wis- senschaftliche Beirat hat sich lange schwergetan mit dem Thema; es be- durfte einiger Überzeugungskraft, bis er sich im Jahr 2007 zur Be- schäftigung damit entschlossen hat.

Wurde die Auseinandersetzung mit der Placeboanwendung ursprünglich als ein nicht wirklich medizinisch-wissen- schaftliches Thema angesehen?

Jütte: So war wohl ursprünglich die Sichtweise. Inzwischen hat na- türlich auch der Wissenschaftliche Beirat bemerkt, wie viel experimen- telle Placeboforschung es gibt und wie relevant der Placeboeffekt auch für die evidenzbasierte Medizin ist.

Die Bundesärztekammer betont im Vor- wort zur Bekanntgabe, wie wichtig es sei, das Bewusstsein der Ärzte dafür zu schärfen, dass ein Placeboeffekt bei jeder Behandlung auftritt. Denken Sie, dass es da noch Nachholbedarf gibt?

Jütte: Ja, absolut. Dass ich mich überhaupt für dieses Thema einge- setzt habe, rührt daher, dass ich selbst in Stuttgart über lange Jahre den

Kurs „Placebo“ für Ärzte in der Wei- terbildung „Allgemeinmedizin“ ge- geben habe. Ich war verblüfft, dass die Ärzte zunächst einmal gar nicht einsehen wollten, warum das Thema Placebo in ihrer Weiterbildung über- haupt ein Thema war. Sie würden ja keine klinischen Studien machen, hieß es. Der Begriff Placebo wird von einem niedergelassenen Arzt in aller Regel mit klinischen Studien in Verbindung gebracht, aber nicht mit der alltäglichen Praxis. Es war als Dozent eine Menge Aufklärungs - arbeit nötig, um zu zeigen, dass der Placeboeffekt in der Tätigkeit des Arztes mitbegründet ist. Man braucht dazu nicht unbedingt Schein- medikamente oder etwas Ähnliches einzusetzen. Es ist das Anliegen der Bundesärztekammer, mit dieser Stellungnahme des Wissenschaftli- chen Beirats auf die Bedeutung des Placeboeffekts in der alltäglichen Praxis aufmerksam zu machen.

Entfaltet das Placebo nicht gerade da- durch seine Wirkung, dass der Patient von dessen Verabreichung keine Kennt- nis hat? Entsteht dann nicht ein logi- sches Problem, wenn vom Wissen- schaftlichen Beirat betont wird, dass wie bei einer Verumgabe eine Aufklä- rungspflicht gegenüber dem Patienten besteht?

Jütte: Man muss zwei Ebenen trennen. Wenn sich ein Arzt für ei- nen bewussten Einsatz von Placebo entscheidet, dann hat er in der Tat das Aufklärungsproblem. Der Arzt

kann bei der Erfüllung der Aufklä- rungspflicht zum Beispiel sagen:

„Sie bekommen jetzt kein Stan- dardmedikament, wir wissen aber aus der Placeboforschung, dass auch diese Substanzen wirken.“

Man darf aber in der Regel nicht vorgaukeln, dass man jetzt dieses

INTERVIEW

mit Prof. Dr. Robert Jütte, Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (BÄK)

Robert Jütte ist seit 1990 Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart und seit 1991 gleichzeitig Honorarpro- fessor an der Universität Stuttgart. Er studierte Ge- schichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg, London und Münster, Promotion zum Dr.

phil. in Münster 1982, Habilitation in Bielefeld 1990 mit der Lehrbefugnis für Neuere Geschichte. Seit 2001 gehört Jütte dem Vorstand des Wissenschaft- lichen Beirats der Bundesärztekammer an. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Sozialgeschichte der Medizin, Wissenschaftsgeschichte, verglei- chende Stadtgeschichte, Alltags- und Kulturge- schichte der Frühen Neuzeit, jüdische Geschichte.

„Die Arzt-Patienten-Interaktion ist ganz zentral“

Der Wissenschaftliche Beirat der BÄK hat eine Stellungnahme zum Thema „Placebo in der Medizin“ verfasst, deren Kurzfassung im Bekanntgabenteil dieser DÄ-Ausgabe abgedruckt ist.@

Robert Jütte präzisiert die Zielsetzungen der Stellungnahme.

Foto: IGM

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Langfassung der Bekannt - gabe unter www.aerzte blatt.de/101388

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 28–29

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19. Juli 2010 A 1389 spezielle Medikament gibt. For-

schungen belegen, dass in einer sta- bilen Arzt-Patienten-Beziehung ei- ne solche Aufklärung, die eine Pla- cebogabe umschreibt, den Placebo- effekt nicht zerstört. Die Patienten wollen allerdings – wie eine noch nicht veröffentlichte Schweizer Studie zeigt – über die unspezifi- sche Wirkung von Placebos infor- miert sein. Das ist die eine Ebene – wenn ich als Arzt Placebo bewusst verabreichen will, was in der Praxis ja nicht selten geschieht, wie Um- fragen zeigen.

Selbst wenn der Arzt dem Patienten mitteilt, dass er ihm etwas gebe, was keinen Wirkstoff enthalte, entfaltet dies unter bestimmten Umständen eine Wir- kung?

Jütte: Es gibt einige wenige experi- mentelle Studien, die zeigen, dass es trotzdem wirkt. Wenn der Patient genügend Vertrauen hat, kann die gewünschte Wirkung durchaus ein- treten. Sehr viel wichtiger ist aller- dings die Rolle des Arztes beim Placeboeffekt. Die Arzt-Patienten- Interaktion ist ganz zentral. Mit sei- nem Verhalten kann der Arzt unge- mein viel erreichen – mit Empathie, Vertrauen und dem therapeutischen Setting. All das muss stimmen, da- mit der Arzt mit seiner Maßnahme – auch wenn sie noch so evidenzba- siert sein mag – Erfolg haben kann.

Darauf zielt diese Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats im Wesentlichen ab. In der alltäglichen Praxis sollte die Reflexion über die Bedeutung der Arzt-Patienten-In- teraktion für den Placeboeffekt im Vordergrund stehen.

Das heißt, es kommt ein Mittel mit ei- ner bestimmten Wirkung zur Anwen- dung, die noch verstärkt wird durch die therapeutischen Begleitumstände?

Jütte: Wenn ich eine therapeuti- sche Maßnahme habe, die in klini- schen Studien einen nachgewiese- nen hohen Effekt von beispielswei- se 60 Prozent hat, kann trotzdem in der täglichen Praxis eine Behand- lung, die etwa in den klinischen Studien nicht so gut abgeschnitten hat, im Endeffekt für den Patienten besser sein, weil der Verum- und Placeboanteil einer Behandlung un-

terschiedlich groß sein können. Es kommt also nicht selten vor, dass eine Maßnahme mit geringerer Evi- denz effektiver ist, weil die Um- stände besser passen und der Ge- samteffekt damit größer wird.

Sehen Sie auch im Bereich der klini- schen Forschung zu Placebo Hand- lungsbedarf?

Jütte: Dem Wissenschaftlichen Beirat ist aufgefallen, dass be- stimmte Bereiche der klinischen Forschung noch nicht vollständig geregelt sind. Dazu gehört die Fra- ge: Sind placebokontrollierte Stu - dien generell zulässig oder nicht?

Wir haben uns unter bestimmten Voraussetzungen dafür ausgespro- chen. Wir richten uns da nach der neuesten Fassung der Helsinki-De- klaration des Weltärztebundes. Dort werden weltweit anerkannte Stan-

dards zur Zulässigkeit placebokon- trollierter Studien genannt. Das wollten wir noch einmal ins Be- wusstsein rufen, insbesondere des- halb, weil die deutschen Ethikkom- missionen durchaus nach unter- schiedlichen Richtlinien arbeiten.

Es gibt in dieser Frage nicht nur hierzulande keinen Grundkonsens.

Dies deutlich zu machen, war auch Sinn dieser Stellungnahme.

Wie sehen die vom Weltärztebund for- mulierten Standards aus?

Jütte: Placebo im Test gegen eine neue Therapie ist in klinischen Stu- dien zulässig, wenn es keine andere wirksame Behandlung gibt.

Das ist ein sehr enger Bereich.

Jütte: Ja. Deshalb fordert die for- schende Arzneimittelindustrie ja auch, Ausnahmen zuzulassen. Wir sagen gemeinsam mit dem Weltärz- tebund: Wenn Ausnahmen gemacht werden, muss es dafür zwingende Gründe geben. Diese müssen auch wissenschaftlich schlüssig begrün- det sein. Patienten dürfen zudem im Fall einer placebokontrollierten

Studie natürlich nie dem Risiko ei- ner irreversiblen Schädigung aus- gesetzt werden. Die Frage der Zu- lässigkeit solcher Studien muss je- weils im Einzelfall von den Ethik- kommissionen geprüft werden. In unserer Stellungnahme wollten wir nur auf die Problematik aufmerk- sam machen.

Sollte das Wissen um Placeboeffekte mehr als bisher in der ärztlichen Aus- bildung vermittelt werden?

Jütte: Es kann nicht sein, dass man Medizinstudierenden das Wissen um Placebo nur im Kontext klini- scher Studien vermittelt. Es muss klar sein, dass der Placeboeffekt für die Beurteilung jeder medizini- schen Handlung, die erbracht wird, ganz entscheidend ist. Ohne dieses Wissen stochert der Arzt gewisser- maßen im Dunkeln herum und ver-

lässt sich blind auf evidenzbasierte Medizin. Natürlich steht der Wis- senschaftliche Beirat für die evi- denzbasierte Medizin, aber um sie zu optimieren, muss man den Pla- ceboeffekt kennen und berücksich- tigen. Denn sonst erzielt man keine optimale Therapie.

Überspitzt formuliert, könnte man dann sagen: Liebe Ärzte, seid etwas empa- thischer, das spart Arzneimittelkosten.

Jütte: Die Ärzte können sich vor allen Dingen viel Frust ersparen.

Denn die Patienten stimmen mit den Füßen ab. Wie anders erklärt sich denn die zunehmende In - anspruchnahme komplementärer Therapieformen? Mit der Fließ- bandabfertigung sinkt nicht nur die Erfolgsrate bei der Behandlung, sondern der Arzt verliert auch sei- ne Patienten. In der fast zweihun- dertseitigen Langfassung unserer Stellungnahme haben wir eine Rei- he von Beispielen genannt, was man in der Praxis konkret verän- dern kann, um den Placeboeffekt

zu nutzen. ■

Das Interview führte Thomas Gerst.

Mit Empathie, Vertrauen und dem therapeutischen Setting kann der Arzt ungemein viel erreichen. All das muss stimmen, damit er mit seiner Maßnahme Erfolg haben kann.

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