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Linguistik Semiotik Hermeneutik: Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie

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Elmar Holenstein

Linguistik Semiotik Hermeneutik

Suhrkamp

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Elmar Holenstein

Linguistik Semiotik

Hermeneutik

Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie

Suhrkamp Verlag

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Erste Auflage 1976

© dieser Ausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976. Alle Rechte vorbehalten. Druck MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen. Printed in Germany.

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Roman Jakobson zum 80. Geburtstag

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Inhalt

Vorwort 9

Jakobson und Husserl. Ein Beitrag zur Genealogie des

Strukturalismus 13

Der Prager Strukturalismus - ein Zweig der phänomeno-

logischen Bewegung 5 6

Die zwei Achsen der Sprache und ihre Grundlagen 76 Die Grenzen der phänomenologischen Reduktion in der

Phonologie oder Eine strukturalistische Lektion in Phä-

nomenologie 114

,Implicational Universals, versus ,Familienähnlichkeiten< 12 5

Linguistische Philosophie? 1 34

Semiotische Philosophie? 148

Die Struktur des Verstehens. Strukturalismus versus Her-

mrn~cik 1 ~

Anmerkungen 199

Bibliographie 2 r 3

Quellennachweis 223

Namenregister 225

Sachregister 228

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Vorwort

Die vorliegenden Aufsätze verfolgen ein dreifaches Ziel. In der Zeit eines neu erstarkten wissenschafl:sgeschichtlichen Be- wußtseins wollen sie die fast gänzlich verschüttete Abhängigkeit der Linguistik, in der Person eines ihrer führenden Vertreter, Roman Jakobsons, und seiner Kollegen im Cercle linguistique de Prague, von der Phänomenologie Husserls freilegen. über die Schlüsselposition, die der Linguistik im Konzert der Wis- senschafl:en zukommt, versuchen sie der weitgehend erstarrten phänomenologischen Philosophie einen Anschluß an die For- schungsfronten in den Humanwissenschafl:en zu verschaffen.

Gleichzeitig plädieren sie dafür, die Phänomenologie erneut, wie in ihren Anfängen und in der strukturalen Linguistik des Prager Kreises mit so viel Erfolg gehandhabt, wissenschafl:lich zu betreiben. Gemeint ist eine Reintegration von formalen und strukturalen Analysen in die Phänomenologie. Dazu gehört eine Reinterpretation der phänomenologischen ,Sinn-Aufklä- rungen, im Gefolge der neu erstandenen funktionalen und teleonomischen Erklärungsmethoden.

In Wissenschafl:lichkeit vermag mancher Philosoph nichts ande- res mehr zu sehen als den Anfang einer technischen, instrumen- talen Beherrschung und Ausbeutung von Mensch und Natur.

Für die (Husserlsche) Phänomenologie und den Strukturalis- mus stehen andere Anliegen im Vordergrund. Dieser bedeutet sie eine Möglichkeit der interkulturellen Verständigung, jener eine Notwendigkeit der intersubjektiven Verantwortung.

Die zwei ersten Aufsätze waren als historisch-komparatistische Vorstudien zu meiner phänomenologischen Interpretation des Prager Strukturalismus (Roman jakobsons phänomenologischer Strukturalismus; stw 116) geplant. Anschließend werden drei zentrale sprachtheoretische Probleme einer phänomenologischen Strukturanalyse unterzogen, die assoziationstheoretische Kon- zeption der zwei Hauptachsen der Sprache (paradigmatische und syntagmatische Achse), die Ablösung der kausalen durch eine funktionale Erklärung im Übergang von der klassischen Tonpsychologie und Lautphysiologie zur linguistischen Phono-

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logie und die These von sprachlichen Universalien, die Wittgen- steins vielzitierter und nie kritisch überprüfter These der »Fa- milienähnlichkeiten« gegenübergestellt wird. Die nächsten zwei Aufsätze sind eine Reflexion auf Karl-Otto Apels Forderung einer »sprachlich orientierten« bzw. »semiotischen Transforma- tion der Transzendentalphilosophie«, der erste vom Standpunkt der phänomenologischen Philosophie, der zweite, historisch weiter ausholend, vom Standpunkt der neuzeitlichen Philo- sophie- und der jüngsten Wissenschaftsgeschichte aus. Das Interesse der Philosophie an der Sprach- und insbesondere an der Universalienforschung gründet vorzüglich in den Möglich- keiten und Grenzen des intersubjektiven Verstehens, die sie aufdecken. Diesem Problem ist der abschließende Essay gewid- met. In der Frontstellung zur Entwicklung, welche die Herme- neutik unter dem Einfluß von Lebens- und Existenzphilosophie genommen hat, hätte auch der Titel »Hermeneutik als strenge Wissenschaft« gewählt werden können.

Zwei weitere Abhandlungen wurden nicht in diese Sammlung aufgenommen. Inhaltlich würden sie ihren Rahmen zu sehr sprengen. Formal und methodologisch liegen sie jedoch ganz und gar in der Linie der vorliegenden Aufsätze. »Der Null- punkt der Orientierung« (Tijdschrifl voor Filosofie 34, 1972, 28-78) ist eine Auseinandersetzung mit der herkömmlichen These der egozentrischen Raumwahrnehmung. Es wird gezeigt, wie ,objektive, Struktur- und Bedeutungsfaktoren eine ,Dezen- trierung des Ich, auch in der Wahrnehmung nach sich ziehen.

»Gewissen und rationale Verantwortung« (Gewissen?, hg.

von Helmut Holzhey, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1975, 108 bis 118) ist eine Applibtion der im letzten, hermeneutischen Aufsatz vorgestellten strukturalistischen Konzeption des Gan- zen, in das alles Einzelne einzuordnen ist, von der Sphäre der intersubjektiven Verständigung auf diejenige der intersubjek- tiven Verantwortung.

Den einzelnen Aufsätzen ist nach der leserfreundlichen Manier neuerer amerikanischer Sammelbände eine kurze Übersicht vor- angestellt. Es handelt sich um eine Mischung von Einführung in die Problemlage und Zusammenfassung des nachstehenden Aufsatzes.

Die ersten vier Aufsätze stützen sich auf Forschungsarbeiten,

IO

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die mir durch ein Stipendium der Schweizerischen Geisteswissen- schaftlichen Gesellschaft, der fünfte sowie der letzte Aufsatz auf solche, die mir durch die »Bourse Burrus 1974« ermöglicht worden sind. Beiden Stiftungen habe ich für eine großzügige Förderung zu danken.

Zürich, Januar 1976 Elmar H olenstein

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J akobson und Husserl

Ein Beitrag zur Genealogie des Strukturalismus

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Phänomenologie und Strukturalismus sind zwei Bewegungen, die, nach dem Wort eines historischen Zeugen beider Strömungen, des Prager Philosophen Jan Patol:ka, »die Mode streng geteilt«. In Wirklichkeit lassen sich mannigfaltige Kontakte persönlicher und thematischer Art zwischen der Phänomenologie Husserlscher Obser- vanz und dem osteuropäischen, russischen und tschechischen Zweig des Strukturalismus belegen. In thematischer Hinsicht besteht eine unmittelbare literarische Abhängigkeit des Prager Strukturalismus von Husserls Logischen Untersuchungen in bezug auf drei Problem- kreise, ( 1) die Ablösung der psychologistischen Grundlegung der Logik bzw. Linguistik durch den Nachweis einer genuinen Autonomie der beiden Disziplinen, ( 2) die traditionelle Idee einer universalen Grammatik, ( 3) die zentrale Stellung der Bedeutungslehre (Semantik).

Dazu ergeben sich Konvergenzen in der beidseitigen Konzentration auf die ( 4) intersubjektiven und - für viele Geisteswissenschaftler überraschend - ( 5) assoziationstheoretischen Aspekte von mentalen und kulturellen Phänomenen. Schließlich lassen sich auch bezüglich der beiden Essentials der Husserlschen Phänomenologie, ( 5) der Wesensabstraktion und (6) der phänomenologischen Einstellung eine ganze Reihe von Berührungspunkten aufzeigen. In den folgenden Aufsätzen wird eine Auswahl von ihnen eingehender zum Thema gemacht und zur Diskussion gestellt.

Gefragt nach den Anregungen zur neuen Konzeption von Spradie und Linguistik, wie sie im Russisdien Formalismus und im Prager Strukturalismus zum Durdibrudi gekommen ist, nennt Roman Jakobson, Mitbegründer und führender Vertre- ter beider Bewegungen, gewöhnlidi deren vier ( 1962: 6 3 1): die linguistisdie Sdiule von Kazan um Baudouin de Courtenay, Ferdinand de Saussures Cours de linguistique generale (1916), die phänomenologisdie Philosophie Busserls und die avantgar- distischen Strömungen in Diditung, Malerei und Musik zu Be- ginn des Jahrhunderts. Der entsdieidende Anstoß kam offenbar von der zuletzt genannten Bewegung. Was bei den ersten drei 13

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gefunden wurde, waren erste wissenschaftliche Formulierungen der neuen Einstellung und ihrer Grundsätze, methodische Richt- linien und vereinzelte Muster von konkreten Analysen in der neuen Sicht.

Husserls Beitrag ist heute nicht nur unter Linguisten, sondern auch unter Philosophen kaum bekannt. In Spiegelbergs Ge- schichte der Phänomenologischen Bewegung ( 1971) fehlt jeder Hinweis auf diese Einwirkung Husserls auf eine der maßgebend gewordenen wissenschaftlichen Strömungen unserer Zeit. Phä- nomenologen der dritten und vierten Generation, die sich heute der strukturalen Linguistik zuwenden, realisieren nicht, daß sie auf etwas zurückgreifen, das zu einem guten Teil aus ihrer eigenen Quelle stammt. Es sind allerdings teilweise Ideen, die bei der zweiten und dritten Generation der Phänomenologen (Heidegger, Merleau-Ponty) in den Hintergrund traten oder gar abgelehnt wurden.

Als wichtigster und einflußreichster Vermittler von Husserls Phänomenologie in der neuen Linguistik ist Roman Jakobson anzusehen. Ein kurzer historischer überblick über seine direkten und indirekten Beziehungen zu Husserl und daran anschließend die Ausbreitung der thematischen Berührungspunkte zwischen phänomenologischer Philosophie und strukturaler Linguistik, wie sie sich in seinem Schrifttum aufzeigen lassen, sind das Ziel dieses Artikels. Vergleiche »Husserl und Wittgenstein«, »Hus- serl und Peirce«, »Phänomenologie der Lebenswelt und ordin- ary language philosophy« sind zur Zeit beliebt. Anders als bei solchen Vergleichsstudien, die anhand einzelner Topics von unterschiedlichem Stellenwert in den betreffenden Gesamtsyste- men eine geistige Verwandtschaft aufzuspüren versuchen, kann man bei einem Vergleich J akobson - Husserl von historischen und literarischen Berührungen ausgehen und sich auf Themen abstützen, die nicht nur vage dem Geiste nach verwandt sind, sondern sich bis auf den Buchstaben decken.

1. Historischer überblick über J akobsons Beziehungen zu Husserl Husserls I. Band der Logischen Untersuchungen (1900) wurde bereits 1909 ins Russische übertragen. Es war die erste Über- 14

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setzung des bahnbrechenden Werkes. 19u folgte gleichzeitig mit der deutschen Fassung die Übersetzung des programmati- schen Aufsatzes »Philosophie als strenge Wissenschaft«. Als

Jakobson 1914/r 5 seine Universitätsstudien begann, war Husserl in Rußland nicht nur präsent, er war aktuell. In einem Brief2 von Gustav Spet aus Moskau, datiert auf den 26.2.1914, an Husserl in Göttingen heißt es: »Die Phänomeno- logie erweckt hier das große und ernste Interesse in allen phi- losophischen Kreisen. Ideen [Husserl, 1913 b] hat man bisher nicht so viel studiert, aber über Phänomenologie sprechen bei- nahe alle, sogar gibt es spezielle Vereine zum Studium der phänomenologischen Fragen. Ich verteidige die Ideen der Phä- nomenologie in meinen Vorlesungen und praktischen Übungen, und schon zweimal hatte ich Gelegenheit, öffentlich zu reden ...

Die Beurteilung der Phänomenologie ist überall hoch und gün- stig, die Phänomenologie wird als der erste und neue Schritt der Philosophie betrachtet.«

Einer der Plätze der Husserl-Diskussion, die sich über ver- schiedene Disziplinen ausbreitete (vgl. z.B. Kistjakovskij,

1916), waren die Seminarien bei Professor Georgij Celpanov am Psychologischen Institut der Moskauer Universität.3 Durch Celpanov, bei dem er 1915/16 zwei Seminarien besuchte, wur- de Jakobson zum ersten Mal auf Husserl aufmerksam ge- macht. Eines der Seminarien hatte die Frühschrift des Gestalt- psychologen Kurt Koffka, Zur Analyse der Vorstellungen und ihrer Gesetze (1912), zum Thema, wobei Jakobson die lingui- stischen Partien des Buches zu bearbeiten hatte. Koffka, nach Merleau-Ponty (1945: 62) ein ehemaliger Schüler Husserls, ver- weist in diesem Buch bei der Unterscheidung von dinglicher und nichtdinglicher Vorstellung wiederholt auf dessen Logische Unter- suchungen. Im Seminar wurde noch eingehender auf Husserls Theorie der Apperzeption (Auffassung, Einstellung) zurück- gegriffen. Deutsche Publikationen waren während des Ersten Weltkrieges in Rußland der Zensur unterworfen. So beschaff- ten sich Celpanovs Seminarteilnehmer Husserls Logische Unter- suchungen, deren ersten zwei Teile 1913 in zweiter, umgearbei- teter Auflage erschienen waren, schwarz über Amsterdam, Hol- land. Der erste Teil des zweiten Bandes sollte in der Folge zum Stoß der wenigen Bücher gehören, die Jakobson auf seinen

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Fluchten am Ende des Ersten und am Anfang des Zweiten Weltkrieges mit sich rettete.

Jakobsons Rezeption der Logischen Untersuchungen kann als originell und bis zu einem gewissen Grad als einzigartig be- zeichnet werden. Seine erste Berühmtheit verdankt Busserls bedeutendstes Werk der Widerlegung der psychologistischen Begründung der Logik in den Prolegomena. Innerhalb der phänomenologischen Bewegung waren es hauptsächlich die Bewußtseinsanalysen der V. und VI. Untersuchung, die Schule machten. Was dagegen von Jakobson aufgegriffen wurde, waren neben der I. Untersuchung über »Ausdruck und Bedeu- tung« vor allem die III. Untersuchung »Zur Lehre von den Ganzen und Teilen« und die Übertragung der dabei gewonne- nen Beziehungsverhältnisse auf die sprachlichen Gegebenheiten in der IV. Untersuchung mit dem Titel »Der Unterschied der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik«. In der III. Untersuchung sieht Jakobson das, was man in Anlehnung an die Überschrift des Kernsti.ik- kes der Ideen I (1913 b), »Die phänomenologische Funda- mentalbetrachtung«, als strukturalistische Fundamentalbetrach- tung bezeichnen kann. Dabei setzt Jakobsons Rezeption der Logischen Untersuchungen keineswegs an einer Nebensache an. Sie trifft sich im Gegenteil mit Busserls eigener Grundlegung seiner Philosophie. Husserl schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage (1913 a: I,XV) über die III. Untersuchung: »Ich habe den Eindruck, daß diese Untersuchung allzuwenig gelesen wor- den ist. Mir selbst bot sie eine große Hilfe, wie sie ja auch eine wesentliche Voraussetzung für das volle Verständnis der fol- genden Untersuchungen is~.«

Für Husserl ist die Einsicht leitend, daß die Spracherscheinun- gen über ihre physiologischen, psychologischen und kulturhisto- rischen Bedingungen hinaus auch noch apriorische Fundamente haben. Es lassen sich universale, allen Sprachgegebenheiten immanente Formen und Beziehungsverhältnisse aufweisen, auf die sich jeder Sprachforscher reflektiert oder unreflektiert stützt (1913 a: II/1, 338). Bereits 1916 verteidigt Jakobson zum ersten Mal Husserls Konzeption einer reinen und univer- salen Formen- und Beziehungslehre gegenüber einem Vertreter der Schule der Junggrammatiker, gegenüber seinem eigenen 16

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Lehrer und Examinator an der Moskauer Universität W. Por- zezinski4 (Jakobson, 1963 b: 590). 1936 (a: 34) führt er die Logischen Untersuchungen als eine Schrift an, »deren Tragweite für die Sprachtheorie man nie genug betonen kann«, und noch 1963 (a: 280) nennt er ihren zweiten Band »noch immer einen der anregendsten Beiträge zur Phänomenologie der Sprache«.5 1917 lernte Jakobson Gustav Spet kennen, einen Schüler Hus- serls aus der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, den dieser noch 193 5 Jakobson gegenüber als einer seiner besten rühmte (1974: 14). Spet wurde 1920 Mitglied des Moskauer Linguistenkreises und hatte mit seinen Schriften (1917, 1922 a, 1922 b, 1927) einen nicht geringen Einfluß auf einen Teil des Kreises, der sich damals in eine mehr theoretische und eine mehr empirische Richtung spaltete. Die erste wurde von ihren Geg- nern mit einem Wortspiel spöttisch als »spetial« bezeichnet.

Im Anschluß an Husserls Antipsychologismus insistierte Spet auf der Unzulänglichkeit der genetischen und der individual- psychologischen Erklärung der Sprache. Die Sprache ist eine soziale Gegebenheit, ein Objekt sui generis, das auf die ihm immanten Strukturgesetze hin untersucht und beschrieben wer- den muß (cf. Jakobson, 1929 a: 21; 1939 b: 314; Erlich, 1965:

62).

Spet empfahl Jakobson neben Husserl und den Gestaltpsycho- logen auch das Studium Anton Martys (1847-1914), dessen eben publizierte Gesammelte Schriften (1916-1920) mit den großen Artikelserien »Über Sprachreflex, Nativismus und ab- sichtliche Sprachbildung« (I/2) und »über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zu Logik und Psychologie«

(II/1) sowie dessen Hauptwerk Untersuchungen zur Grund- legung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophe I (1908) er sich alsbald verschaffte. Marty war wie Husserl ein Schüler des Wiener Philosophen Franz Brentano (1838-1917).

Er war um 1920, wie Jakobson bald feststellen konnte, in Mos- kau besser bekannt als in Prag, wo er 1880 bis 1913 an der Deutschen Universität gelehrt hatte. Einer der wenigen Lingui- sten in Prag, dem seine Theorien vertraut waren, war Vilem Mathesius, selber ein ehemaliger Schüler Martys und späterer Begründer und erster Präsident des Cercle linguistique de Prague.

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Im Prag der zwanziger Jahre lernte Jakobson noch andere Brentano-Schüler kennen, so Th. Masaryk, den Präsidenten der jungen tschechoslowakischen Republik und ehemaligen Profes- sor für Philosophie an der Tschechischen Universität in Prag, wo zu seinen Schülern wiederum V. Mathesius zählte; Chr. von Ehrenfels, dessen berühmter Aufsatz » über ,Gestaltqualitä- ten«< (1890) am Anfang der gestalttheoretischen Bewegung steht; ferner 0. Kraus, den orthodoxesten aller »Brentanisten«, bei dem Jakobson 1929 an der Deutschen Universität6 die mündlichen Doktoratsexamen abzulegen hatte. In Brentanos Schriften, mit denen er sich für die Prüfung bei Kraus vertraut zu machen hatte, fühlte sich Jakobson besonders von der Theo- rie der sprachlichen Fiktionen (Brentano, 1925: 197 ff.) ange- sprochen, die ihm zu einer ersten Anregung zum Studium der sprachlichen Transformationen durch wechselnde Tropen und Figuren wurde.

Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang noch ein wei- terer Brentano-Schüler, Carl Stumpf (1848-1936), der ebenfalls an der Deutschen Universität in Prag gelehrt hatte, und bei dem sich Busserl später, 1887, in Halle habilitierte. Jakobson verweist schon in seinem Futurismus-Aufsatz (1919: 26) auf Stumpfs Nachweis der Korrelation von Inhalt und Form. In Stumpfs Spätwerk Die Sprachlaute (1926) fand Jakobson nicht nur einen wegweisenden Ansatz zur akustischen Erforschung der Sprachlaute (wie gleichfalls bei Köhler, 1910-1916), sondern ebenso zu ihrer strukturalen Beschreibung, nämlich in der Her- ausarbeitung von zwei fundamentalen Qualitäten dieser Laute, der Farbigkeit und des Gegensatzes von hell und dunkel ( r 941:

378 ff.).

Was für die Brentano-Schule charakteristisch ist und was sie für die Formalisten und Strukturalisten anziehend machte, war ihre deskriptive Methode und die Anerkennung der autonomen Strukturgesetzlichkeit der von ihnen untersuchten Gegenstände.

Dazu kam bei Marty der »theologische« oder funktionale Gesichtspunkt - die Sprache als eine absichtliche Bildung von Bezeichnungs- und Kommunikationsmitteln - sowie die dann von Busserl aufgegriffene und weiterentwickelte Idee einer allgemeinen Grammatik. Damit trafen sich Brentano und seine Anhänger mit Forderungen, wie sie im Umkreis von Baudouin 18

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de Courrenay und Ferdinand de Saussure erhoben wurden.

Baudouins Mitarbeiter N. Kruszewski (1851-1887) definierte bereits 1882 die neue Sprachwissenschaft als eine »gewisse Art von Phänomenologie der Sprache« (Jakobson, 1974: 15), mit dem gleichen Begriff also, der mit Husserl Schule machen sollte.

Neben Brentano-Gefolgsleuten traf Jakobson in Prag, einem der lebendigsten kulturellen Zentren der Zwischenkriegszeit, auch jüngere Husserl-Schüler. Alexandre Koyre, von Husserl persönlich und fachlich hochgeschätzt - »mit Leib und Seele Phänomenologe« (Husserl, 1968: 21) - weilte Ende der zwan- ziger Jahre als Stipendiat in Prag. Jakobson fand ihn, mit dem er sich eng befreundete, später, während des Zweiten Welt- krieges, in New York wieder, wo ihm dieser zu einer ersten Lehrmöglichkeit an der Ecole Libre des Hautes Etudes verhalf (Jakobson, 1964 a: 269). - Ludwig Landgrebe, 1923-1930 Husserls Assistent, habilitierte sich an der Deutschen Universi- tät mit einer Schrift über Marty (1934) und hielt am 18.5.1936 im Cercle linguistique einen Vortrag über »Feldbegriffe in Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie«, womit er ebenfalls zum Mitglied des Cercle ernannt wurde. - Gleichfalls Mitglied des Cercle war ein weiterer ehemaliger Husserl-Schüler, Cyzev- skyi (1931). Er vertrat neben den Ideen der Husserlschen Phänomenologie auch solche der Hegelschen, mit denen auch andere Mitglieder, nicht zuletzt N. Trubetzkoy, wohlvertraut waren (die Thesen des Ganzheitlichen - »Das Ganze ist das Wahre« - und der dialektischen Gegensätze; cf. Jakobson, 1968 a; 1972: 47; 1974: 14).

Zurück zu Husserl selber. Von Koyre wurde Jakobson auf die 1931 in französischer Sprache erschienenen Meditations Cartesiennes Husserls aufmerksam gemacht. Was Jakobson an dieser großzügig entworfenen »Einleitung in die Phänomenolo- gie« besonders interessierte, waren die letzten Paragraphen über die intentionale Analyse in der II. Meditation mit dem bezeichnenden Titel »Freilegung des transzendentalen Erfah- rungsfeldes nach seinen universalen Strukturen« und die V. Me- ditation über die Intersubjektivität.

In den drei letzten Paragraphen der II. Meditation insistiert Busserl auf zwei Grundeinsichten, von denen sich jede phäno-

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menologische Analyse in methodologischer Hinsicht leiten läßt.

r. Jede Gegebenheit weist über sich hinaus auf einen Horizont von mit ihr zusammengehörenden Gegebenheiten sowie von möglichen Abwandlungen ihrer selbst. 2. Alle Gegebenheiten, Körperdinge, Kulturobjekte (m. a. W. auch die sprachlichen En- titäten der verschiedenen Stufen) und ebenso die Bewußtseins- weisen (Wahrnehmung, Erinnerung usw.), in denen sie erscheinen, mögen sie ihrer Natur nach noch so »fließend« sein, sind doch keineswegs von »beliebiger« Form: »Sie bleiben stets gebunden an eine Strukturtypik« (r93r: 88). Dasselbe gilt für die Allheit der Gegenstände und der Kategorien oder - wie Busserl sagt - Regionen von Gegenständen, die Welt als Ganze. Die Welt ist kein Chaos, sondern ein Gebilde von systematischer Ordnung oder, um es mit einer Formel auszudrücken, die Jakobson und Tynjanov kurz zuvor geprägt hatten, ein »System der Systeme«

(1928 b: 390 f.). Die Folge ist, daß »sich die phänomenologischen Untersuchungen nicht in zusammenhangslose Beschreibungen verlieren, sondern sich aus Wesensgründen organisieren« (Bus- serl, 19 3 1: 90 ). Aufgegeben ist der Philosophie entsprechend die Aufklärung der »Strukturtypik« des untersuchten Objekts, die sein Wesen ausmacht, und seiner »Horizontstruktur«, des Zusammenhangs, in dem es erscheint und sich konstituiert, die beide zusammen eine »Regelstruktur« für das mögliche Be- wußtsein dieses Gegenstandes darstellen.

Zur Intersubjektivitätsproblematik sollte sich kurze Zeit später die Gelegenheit eines mündlichen Gedankenaustausches ergeben.

Im November 193 5 weilte Busserl zu Vorträgen in Prag. Auf Initiative Jakobsons sprach er am 18. November im Cercle linguistique über »Phänomenologie der Sprache«. Nach Bus- serls eigenen Worten bedeutete für ihn dieser Besuch im Cercle

»eine absolute Entdeckung«. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sich ein ganzer Kreis von Sprachwissenschaftlern an den Logischen Untersuchungen orientierte. Ein Hauptpunkt des Vortrages und der anschließenden Diskussion war die intersub- jektive Konstitution der Sprache.7

Jakobson thematisierte die intersubjektive Konstitution der sprachlichen Gebilde schon Jahre vor den Cartesianischen Me- ditationen und dem Vortrag im Cercle linguistique. In diesem Punkt liegt also keine direkte literarische Abhängigkeit vor, 20

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sondern eine Konvergenz, die sich von der Sache selber her er- geben hat. Möglicherweise läßt sich hier sogar umgekehrt ein gewisser Einfluß Jakobsons auf Busserl annehmen. Jakobson übergab Busserl anläßlich dessen Prager Besuchs u. a. einen Sonderdruck des Aufsatzes »Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens«, den er 1929 zusammen mit P. Bogatyrev verfaßt hatte.8 Dieser Aufsatz ist der spezifisch intersubjek- tiven Konstitution der folkloristischen Kulturgebilde gewidmet.

Seine Topics lassen den Busserl-Kenner spontan an dessen ein Jahr nach dem Prager Besuch verfaßten Essay » Vom Ursprung der Geometrie« (1939) denken. Man ist geneigt, in einzelnen Ausführungen dieses Essay eine Nachwirkung des Aufsatzes über die Folklore oder der in die gleiche Richtung gehenden Diskussion im Prager Cercle zu sehen.9 Man muß dabei aller- dings im Auge behalten, daß Busserl in den späteren Jahren, wie sich z.B. an Hand seiner Rezeption der Gestaltpsycholo- gie zeigen läßt, von neuen Strömungen kaum mehr aufnahm, als er selber schon auf seine Weise entdeckt hatte. Auf der an- deren Seite gilt für Jakobsons Intersubjektivitätsproblematik, daß offenbar bereits Spet (1917, 1927) Busserls antipsycholo- gische Erörterungen der Logischen Untersuchungen als Angriff auf die individualpsychologische Erklärung der geistigen En- titäten interpretiert hatte. Desgleichen findet sich schon zuvor bei Saussure die Langue, der Kode jeder Sprache, als eine »eminent soziale Sache« der in einem individuellen Sprechakt erzeugten parole gegenübergestellt.

Schließlich sind noch einige Linguisten und linguistisch interes- sierte Wissenschaftler anzuführen, die sich gleichfalls an Busserl orientierten und mit denen Jakobson gerade auch in dieser Hin- sicht in Kontakt getreten ist. Unter seinen russischen Kollegen ist N. Zinkin (1968) und unter den Prager

J.

Mukafovsky (cf. 1936) zu nennen. Hierher gehören ferner H. Pos, V. Brnn- dal und K. Bühler, die alle mit dem Cercle in Kontakt standen.

Vom holländischen Linguisten Henrik Pos, einem ehemaligen Busserl-Schüler, stammt nach Jakobsons Meinung eine der besten Einführungen in den Strukturalismus und insbesondere in das sprachliche Urphänomen der Opposition (1938, 1939 a).

Von seiner Feder stammt aber auch die grundsätzliche Heraus- arbeitung der für die späte Philosophie Husserls charakteristi- 21

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sehen und besonders von der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty, 1960: 106 f.) ausgewerteten Unterscheidung zwischen der Sprache, wie sie sich einem außenstehenden Be- obachter darbietet, und der Sprache, wie sie vom Sprechenden und Hörenden in der lebendigen Erfahrung (experience vecue) vollzogen wird (1939 b).

Viggo Br0ndal, zusammen mit dem jüngeren L. Hjelmslev Begründer des Cercle linguistique de Copenhague, schloß den programmatischen Einleitungsartikel des I. Bandes der Acta linguistica, die zuerst als gemeinsame Zeitschrift des Kopen- hagener und des Prager Cercle geplant waren, mit dem Hin- weis auf Busserls bahnbrechende Analysen der formalen Struktur von Sprache und Logik (1939; cf. 1937). Den Aufsatz hatte Brnndal mit Jakobson durchbesprochen.

Karl Bühler, ein der Gestalttheorie nahestehender Psychologe, hielt 1931 am Prager Phonologen-Kongreß einen bedeutenden Vortrag über »Phonetik und Phonologie«, in dem er u. a. mit Berufung auf Busserl für die strikte Ausscheidung von psycho- logischen Begriffen aus der Phonemdefinition eintrat.10 Seine Sprachtheorie von 1934, die zum ersten Mal die sprachphilo- sophischen Ideen Busserls, Saussures und Trubetzkoys, mit dem er in Wien regen Kontakt pflegte, zu einer einheitlichen und systematischen Konzeption zu verbinden verstand, beurteilt Jakobson (1974: 41) als »für Linguisten noch immer der wahrscheinlich anregendste aller Beiträge zur Sprachpsycholo- gie«. Busserl seinerseits schätzte Bühler als einen »der ersten Psychologen seit Külpe, die von meinen Logischen Untersu- chungen einigen Gebrauch zu machen suchten«.11

Diese historische übersieht, sei mit einem Hinweis auf den ori- ginellsten Phänomenologen nach Busserls Tod, M. Merleau- Ponty, abgeschlossen. Merleau-Ponty besuchte Jakobson 1948 in New York und traf ihn auch später wiederum in Paris. Sein philosophisches Konzept war jedoch wesentlich enger als das Busserls, der den >noematischen Intentionalitäten,, die ihren Quellpunkt in den immanenten Strukturen eines Gegenstandes haben, mehr Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit zukommen ließ. Merleau-Pontys Kontakt mit der strukturalen Linguistik (vgl. 1968: 34 f.) ist denn auch nicht sonderlich fruchtbar aus- gefallen (vgl. dagegen Edie, 1971; Waldenfels, 1975).

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2. Sachliche Berührungspunkte

Wenn man für den thematischen Vergleich der Werke Jakob- sons und Busserls von Jakobsons namentlichen Verweisen auf Busserl und seinen expliziten Zitationen ausgeht, dann ergeben sich drei Themenkreise, der sog. »Antipsychologismus«, die Idee einer reinen und universalen Grammatik bzw. Formenlehre und die Bedeutungslehre. Dazu kommt über die Cartesianische M e- ditationen und die Begegnung in Prag als weiterer Berührungs- punkt die intersubjektive Konstitution der Sprache. Im Werke beider wird der Assoziationsthematik zum Erstaunen vieler geisteswissenschafl:lich und rationalistisch orientierter Forscher, welche die Assoziationslehre für ein längt überholtes Dogma der empirizistischen und sensualistischen Psychologie halten, ein zentraler Platz eingeräumt. Die diesbezüglichen Thesen Bus- serls und Jakobsons verdienen, obschon ihre Ausbildung ohne direkte literarische Berührung erfolgte, in Anbetracht ihrer wechselseitigen Bestätigung (cf. Jakobson, 1974: 16) ebenfalls eine kurze Behandlung. Zur Abrundung dieser Vergleichsstudie wird Jakobsons Werk mit den zwei Grundanliegen der Hus- serlschen Phänomenologie, den Theorien der Wesensanalyse und der phänomenologischen Reduktion konfrontiert. Hierbei lassen sich bei Jakobson nicht nur einzelne von Busserl ausgehende Impulse, sondern auch bemerkenswerte Ansätze zur Weiterent- wicklung gerade dieser zentralen Husserlschen Theorien aus- machen.

2.1. Der sog. »Anti-Psychologismus«

Im Unterschied zu einem großen Teil der frühen Busserl-Ge- folgschaft hat Jakobson Busserls »Anti-Psychologismus« zu- recht immer nur in einem relativen Sinn verstanden, nicht als Ablehnung der Psychologie überhaupt, sondern nur als Zu- rückweisung bestimmter Formen und Methoden der psycho- logischen Erklärung, denen gegenüber eine neue Psychologie zu entwidceln ist, und besonders als Angriff auf die Reduktion einer Wissenschafl: auf eine andere (J akobson, 197 4: 16; cf.

unten 2.7.)

Gegen was sich Busserl wandte, war die Psychologie des aus- 23

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gehenden 19. Jahrhunderts, die mit Schlagworten als eme genetische, kausal-erklärende, physiologische, atomistische, sen- sualistische, individualistische, naturalistische Tatsachenwissen- schaft zu bezeichnen ist. Ihr gegenüber fordert Busserl anfäng- lich eine statisch beschreibende, später eine neuartig genetische, nämlich eine motivational-aufklärende Psychologie, die des weitem als eine phänomenologische, ganzheitliche, intentionale, intersubjektive, transzendentale, apriorische Wesenswissenschaft ausgebaut wird. Von der verabsolutierten Konzeption einer transzendentalen und apriorischen Wesenswissenschaft abge- sehen, deckt sich Jakobsons Verständnis der Psychologie 1m Prinzipiellen mit demjenigen Busserls.

Alte Psychologie Busserls Psychologie genetisch-kausal erklärend statisch beschreibend und

genetisch-motivational physiologisch

atomistisch sensualistisch individualistisch naturalistisch induktive

Tatsachenwissenschaft

aufklärend phänomenologisch ganzheitlich intentional intersubjektiv transzendental apriorische

Wesenswissenschaft

2.1.1. Das ausgehende 19. Jahrhundert anerkannte als wissen- schaftliche Leistungen allein genetische und kausale Erklärun- gen. Dem vorherrschenden Ideal der empirizistischen Natur- wissenschaft der damaligen Zeit entsprechend versuchte man, die Psychologie gleichfalls, als eine empirisch erklärende Tat- sachenwissenschaft zu fassen. Den naheliegendsten Weg dazu bot die Reduktion alles Psychischen auf die es fundierenden phys:o- logischen Prozesse. In der Folge dieser Reduktion erfuhren auch sämtliche geistigen und kulturellen Phänomene eine in le:zter Instanz physiologische Erklärung. So wurden in der Linguistik die Gesetze für die Gewinnung und die Wandlung der Sprad1- laute, d. h. künstlicher und kultureller Gebilde, auf die Gesetze reduziert, die den Artikulationsvorgang regulieren sollen, mit Vorliebe auf das Gesetz des kleinsten Kraftmaßes ( cf. noch Saussure, 1916: 204; Jakobson, 1941: 334 f.). Abgesehen von

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der Schwierigkeit, objektive Kriterien für den Anstrengungs- grad zu finden, ist dieser Erklärung die Blindheit gegenüber allen den Systemen der Sprachlaute immanenten Strukturen vorzuwerfen. Auf der anderen Seite reduzierten in der Logik z.B.

J.

Mill und H. Spencer den Glauben, das Für-wahr-Halten, durch das sich ein Urteil von einer bloßen Vorstellung unterschei- det, auf die »untrennbare Assoziation«, die sich zwischen zwei vorgestellten Merkmalen eingestellt hat. Die Assoziation ihrer- seits wurde in mechanistischer Weise gehirnphysiologisch er- klärt, durch die Reizung ein und derselben Nervenbahn durch zwei verschiedene Stimuli. Bildete sich der Glaube im Urteil tatsächlich nach den Gesetzen der Ideenassoziation, wäre er Sache des Zufalls und nicht der Einsicht. Jeder Unterschied zwischen den von Beweisgründen geleiteten Affirmationen eines Wissenschafl:lers und ideenflüchtigen Behauptungen eines Schizo- phrenen würde dahinschwinden (Brentano, 192 5: 41 f. ).

Gegen solche letztlich nicht nur psychologistische, sondern phy- siologistische Reduktionen reklamierten Brentano und seine An- hänger als Voraussetzung jeder genetischen Ableitung die vor- gängige Beschreibung der betreffenden Phänomene und ihrer Verhältnisse und Beziehungen zueinander. Bevor etwas auf ein anderes zurückgeführt werden kann, muß man zuerst seine innere Struktur und das Beziehungsgefüge, in das es einge- bettet ist, kennen. Der Trennung von statisch beschreibender und genetisch erklärender Psychologie entspricht in Saussures Cours die Unterscheidung von synchronischer und diachroni- scher Linguistik.

Während die russischen Formalisten die schroffe Gegenüber- stellung von derartigen Begriffspaaren als methodisches und heuristisches Prinzip weitgehend übernahmen, suchten die Pra- ger Strukturalisten von Anfang an nach einer Brücke und Ver- mittlung zwischen den Gegensätzen. Nicht nur sind für sie Synchronie und Diachronie nicht mehr länger independente Dimensionen, auch die Identifikation von Statik und Synchro- nie bzw. Dynamik und Diachronie wird nicht mehr aufrecht- erhalten. Für die Prager wurde die 1926 von Jakobson in einem Brief an Trubetzkoy aufgeworfene Frage wegweisend, ob es nicht geeignet wäre, die Kluft zwischen der synchronischen Analyse des phonologischen Systems und der »historischen 25

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Phonetik« dadurch zu überbrücken, daß jeder Lautwandel als ein zweckbedingtes Ereignis unter dem Gesichtspunkt des gesamten Systems betrachtet wird (1956 c: 512 f.). Mit dieser Einsicht kamen die Prager, wie Jakobson (1933: 543) in be- sonderer Berücksichtigung Masaryks ausführt, der Konzeption der Brentano-Schule näher als dem radikalen Dualismus Saus- sures. Der Brentano-Schüler Masaryk vertrat schon 1885 in seinem Versuch einer konkreten Logik die These, daß, wer eine Sache nicht ihrem Wesen nach kennt, die Evolution dieser Sache nicht verstehen kann.

Was die Gleichsetzung von Synchronie und Statik und von Diachronie und Dynamik betrifft, weist Jakobson immer wieder darauf hin, daß es statische Zustände gibt, die Zeitepochen überdauern, und daß sich andererseits dynamische Wandlungen immer auf der Ebene der Synchronie - im Ineinandergreifen von verschiedenen Subkodes - anzeigen. Die Sprache ist ein zeitlicher Prozeß. Jede syntagmatische Kombination erfolgt in einer zeitlichen Dimension. Dazu kommt, daß die gleichen uni- versalen Gesetze, welche die Synchronie der Völkersprachen beherrschen, auch für die Erwerbung der Sprachlaute beim Kinde maßgebend sind, bzw. in umgekehrter Folge dem Zer- fall der Sprachkompetenz des Aphasikers zugrundeliegen (Ja- kobson, 1941).

In einer durchaus analogen Weise kam es bei Busserl im Fort- gang der Forschung zu einer Revision der zu abstrakten Gegen- überstellung von Statik und Genetik. Die verschiedenen Phäno- mene, mit denen sich der Phänomenologe befaßt, sind keine ,fix-fertigen, Gegebenheiten. Sie sind durchweg dynamischer Natur, in ständigem Wan,del begriffen, in sich selbst auf eine Entstehungsgeschichte zurückweisend und auf mögliche Weiter- entwicklungen vorweisend. So sind z. B. die umstrittenen

» Wesen«, auf die es die klassische Phänomenologie abgesehen hat, nicht etwas, das das Bewußtsein in sich selbst oder an einem platonischen Ideenhimmel fertig vorfindet. Sie erwachsen vielmehr genetisch in der Gleichheitsdeckung von ähnlichen Einzelgegebenheiten. Die Gleichheitsdeckung motiviert den Er- fahrenden nicht nur zur Vergegenständlichung des Gemeinsamen, sondern auch zu dessen Idealisierung. Die »genetische Phäno- menologie«, die Busserl in seinen Forschungsmanuskripten ab 26

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1917/I 8 entwickelte, unterscheidet sich von der alten geneti- schen Psychologie dadurch, daß sie die vorgefundenen psychi- schen und geistigen Phänomene nicht kausal aus physiologi- schen Prozessen ableitet, sondern motivational von vorangehen- den Phänomenen her verständlich macht. Omne phaenomenum ex phaenomeno. Dabei zeigt sich, daß diese motivationalen Abhängigkeitsbeziehungen ebenso apriorischen und univer- salen Gesetzmäßigkeiten folgen wie die zuvor beschriebenen statischen Verhältnisse. Auch für Jakobson sind die panchroni- schen, die Synchronie und die Diachronie gleicherweise beherr- schenden universalen Gesetze nicht physiologischer, sondern rein linguistischer bzw. phänomenologischer Natur, wenn wir phä- nomenologisch alles nennen können, was zu einer Sache selbst, so wie sie sich uns in der Erfahrung gibt, gehört.13 Wegen ihrer einseitig statisch orientierten Frühzeit haben sowohl die Phänomenologie wie der Strukturalismus gegen das fast unausrottbare Vorurteil zu kämpfen, es handle sich bei ihnen um antigeschichtliche Strömungen.

2.r.2. Phänomenologie und strukturale Linguistik decken sich in der Annahme des gestalttheoretischen Grundgesetzes, daß jede Gegebenheit »feldbedingt« ist und nur unter Berücksich- tigung ihrer Einordnung in einen Verweisungszusammenhang verstanden werden kann. Busserl gebraucht für das Ganze, das mit jeder Einzelheit mitgegeben ist, den Begriff »Horizont«.

Die Vorderseite eines Hauses, die mir unmittelbar ansichtig ist, steht nicht beziehungslos in meinem Gesichtsfeld. Sie ver- weist u. a. auf die Rückseiten des Hauses. Die Verweisung geht dabei nicht einseitig vom unmittelbar Gegenwärtigen auf das Mitgegenwärtige, sondern auch umgekehrt von diesem auf jenes. Beide stehen zusammen in einer Funktionsgemeinschaft.

Ohne die Verweisung auf Rückseiten verliert die direkt zugäng- liche Front des Hauses nicht nur ihren Sinn als »Vorderseite«, sondern wird davon in ihrer ganzen phänomenalen Beschaffen- heit betroffen. (Cf. zu dieser »kubistischen« Sicht der Dinge auch Jakobson, 1919: 25).

Der Strukturalismus wiederum insistiert gegenüber der atomi- stischen Behandlung der einzelnen Sprachelemente bei den Jung- Grammatikern auf deren relationalen Natur und relationalen Eigenschaften, auf den Verhältnissen der Korrelation und der

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Disjunktion, in denen sie ihrer Natur nach zueinander stehen.

Die Phoneme beziehen ihre bedeutungsunterscheidende Funk- tion aus der horizonthafl:en Mitgegebenheit (in einer von der Linguistik als nichtphilosophischer und nichtspsychologischer Einzelwissenschafl: offen gelassenen Art von inaktuellem Be- wußtsein; cf. Jakobson, 1939 a: 282 f.; 1939 c: 275) von op- positionalen Mitphonemen innerhalb eines hierarchisch geglie- derten Systems. Dabei stützte sich Jakobson bei der Ermittlung des Schichtenbaus des Sprachlautsystems auf die von Busserl in der III. Logischen Untersuchung erarbeiteten formalen Gesetze der Fundierung, denen Ganze und Teile in ihrem Verhältnis zueinander unterworfen sind (cf. 2.2.).

2.r.3. Einer der wichtigen Vorwürfe Busserls an die Adresse der Psychologisten unter den Logikern bezieht sich auf die feh- lende Unterscheidung von Erlebnis und Erlebnisinhalt oder Er- lebnisgegenstand. Die Vermengung der beiden wird durch eine sprachliche Äquivozität suggeriert. Für Akterlebnis und Akt- gegenstand wird bei vielen psychischen Akten derselbe Aus- druck gebraucht. Als »Vorstellung« bezeichnen wir sowohl das Vorstellen wie das Vorgestellte, als »Wahrnehmung« das Wahr- nehmen und das Wahrgenommene, als »Erinnerung« das Er- innern und das Erinnerte usf. Ähnlich verwechselt man in der Rede von Urteilen und Schlüssen die Urteile und Schlüsse bzw.

die Sachverhalte, die ihnen entsprechen, mit dem Urteilen und Schließen. Sind logische, ideale Entitäten derart auf die ihnen korrelativen psychischen Tätigkeiten reduziert, glaubt man, daß sie als etwas rein Psychisches auch rein psychischen Ge- setzen unterliegen (Busserl, 1913 a: 1, 167 ff.).

Diese prinzipielle Unterscb.eidung zwischen psychischen Akten und intentionalen Gegenständen, zwischen dem, was den psy- chischen Erlebnissen als reeller Bestandteil immanent ist, und dem, was von ihnen intentional vermeint wird, war es, die den Blick für die Autonomie der dem Bewußtsein intentional ge- gebenen Gegenstände - logische Sachverhalte wie linguistische Entitäten - und die ihnen eigene Strukturgesetzlichkeit freigab (cf. Stumpf, 1907: 28 ff., 61 ff.). Es sind nicht so sehr die psy- chischen und physiologischen Artikulationsprozesse, die bestim- men, was und wie gedacht und gesprochen wird, es sind viel- mehr die dem Gedachten und dem Gesprochenen immanenten

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Strukturen, die die Regel für die Artikulation abgeben. Die Tatsache, daß ein Satz eine sinnvolle und logische Konsequenz anderer Sätze ist, motiviert mich zu seiner Äußerung und nicht irgendwelche psychische oder physiologische Wirkung von vor- angegangenen Satzartikulationen. Ebenso sind es auf der Ebene der Sprachlaute die diesen immanenten Strukturgesetze, die die Artikulation leiten.

Ebenso wichtig wie die Unterscheidung zwischen psychischen Ak- ten und intentionalen Gegenständen ist aber auch das Zurückbe- halten der intentionalen Gegebenheiten als bewußte (wahrge- nommene, imaginierte, gedachte usw.) Gegebenheiten. Auch wenn sie und die Beziehungen, die zwischen ihnen herrschen, autonom sind und nicht aus den vielfältigen kontingenten Ein- flüssen, denen das psychische Leben unterliegt, abgeleitet werden können, so dürfen sie doch nicht als eigentlich bewußtseinstran- szendent angesetzt werden. Nicht nur »für mich Gültiges«, im engeren Sinn Subjektives, sondern auch »an sich Gültiges«, das in unreflektierter Betrachtung als objektiv, bewußtseinstran- szendent erscheint, ist immer nur eine Gegebenheit des Bewußt- seins und als solche aufzuklären. Neben der artikulatorischen (physiologischen) Ebene der Phoneme, mit der sich vor allem die traditionelle Linguistik befaßt hat, und neben der akusti- schen (physikalischen) Ebene, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vordergrund getreten ist, ist die perzeptive (phänomeno- logische) Ebene nicht nur als eine Ebene sui generis, sondern zugleich als die im intersubjektiven Verständigungsprozeß eigentlich intendierte anzuerkennen.

Entscheidend ist bei der Perzeption nicht eigentlich das Sinnlich- Gegebene in seiner rohen Stofflichkeit, sondern, was mit ihm gemeint ist, m. a. W. als was es aufgefaßt, »apperzipiert« wird, um eine Terminologie aufzugreifen, die heute kaum mehr in Gebrauch ist, die Jakobson aber von seinen Moskauer Semina- rien über Busserl (cf. 1913 a: II/1, 384 f.) her wohl vertraut war. Diese Apperzeptionslehre war Jakobson nach seinem eigenen Bekenntnis bei der Gewinnung und Ausbildung des Phonembegriffes eine wesentliche Hilfe.14 Sind wir auf Laute als Sprachlaute eingestellt, so nehmen wir sie von vornherein in Beziehung auf das System wahr, von dem her sie ihren spezifi- schen Wert erhalten. Diejenigen Qualitäten an einem Laut tre-

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ten heraus, mit denen er sich in das entsprechende System ein- ordnet.

Die Beziehungen zwischen den Phonemen bzw. deren distinkti- ven Qualitäten sind in phänomenologischer Perspektive keines- wegs, wie strukturalistischerseits oft vorgetragen, als bloße abstrakte, statische und logische Verhältnisse vorgegeben. Hin- ter Beziehungen wie denen der Ähnlichkeit und des (maxima- len) Kontrasts verbergen sich vielmehr generative oder - in phänomenologischer Sprechweise - konstitutive, motivationale Prinzipien, denen die phonologischen Systeme ihre Gestaltung verdanken (cf. 2.4). Einer solchen phänomenologisch interpre- tierten Phonologie gegenüber wird der Vorwurf, den Chomsky ( r 968: 6 5) jetzt pauschal der strukturalistischen Phonologie gegenüber erhebt, hinfällig, der Vorwurf nämlich, daß sie bloß die strukturalen Phonemmuster freigelegt habe, nicht aber die Regelsysteme, durch die diese Muster gebildet und hervorge- bracht werden. Man könnte ihr höchstens und historisch voll- kommen begreiflich vorhalten, daß sie nicht über eine kleine Zahl von solchen generativen Prinzipien, die sie allerdings als die fundamentalsten und universalsten ausweisen kann, hinaus- gekommen ist.1s

2.2. Die Idee einer reinen und universalen Grammatik

Das eigentliche und positive Anliegen des »Anti-Psychologis- mus« Busserls und der frühen strukturalen Linguisten ist der Aufbau einer reinen (autonomen) und universalen Grammatik oder Formenlehre der sprachlichen Entitäten der verschiedenen Stufen.

Ausgang der diesbezüglichen Forschung ist die Einsicht, daß alle Entitäten in ihren Komplikationen und Modifikationen einer festen, aus ihrer Natur ableitbaren Strukturtypik unterworfen sind. Das Ziel ist, die Gesetze, die Verknüpfung und Umwand- lung leiten, auf eine Minimalzahl unabhängiger Elementarge- setze zurückzuführen. Als Leitbild bei der Erforschung der invariablen Strukuren, die Sinn und Umfang der Variablen umgrenzen, dient die Mathematik (Busserl, r9r3 a: Il/r, 328 ff.).16

Vom apriorisch Allgemeinen, das im Wesen der sprachlichen 30

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Gegebenheiten wurzelt, ist streng zu scheiden das empirisch All- gemeine, das durch die allgemeinen und doch nur faktischen Züge der Menschennatur bestimmt ist. Das apriorisch Allge- meine wird durch die Einsicht in die Wesensnatur eines Phäno- mens, das empirisch Allgemeine dagegen auf induktivem Wege, durch eine induktiv fundierte Generalisierung gewonnen. Daß es sich bei der Wortfolge »dieses Haus ist und« im Unterschied zur Folge »dieses Haus ist rot« um eine unverträgliche Kom- plexion von Wortkategorien handelt, ist unmittelbar aus der Bedeutung der einzelnen Wörter zu entnehmen. Daß die mensch- liche Sprache nur Laute innerhalb der Grenzen von 20 und

20 ooo Hertz enthält, ist dagegen eine induktiv gewonnene Feststellung.

Jakobson insistiert vor allem auf zwei Verhältnisformen, nach denen sich alle linguistischen Gegebenheiten richten zu lassen scheinen: Dichotomie und Hierarchie. Ziel der strukturalisti- schen Forschung ist ein möglichst einfaches und geschlossenes, dichotomisch und hierarchisch strukturiertes System, wie es in vorbildlicher Weise für die Klassifikation der distinktiven phonologischen Eigenschaften entworfen worden ist.

Für die hierarchische Stratifikation der linguistischen Systeme, die sich aus den Implikationsgesetzen ergibt, durch die die ein- zelnen Gegebenheiten miteinander verknüpft sind, stützt sich Jakobson, wie bereits erwähnt, auf die von Busserl in der III. Logischen Untersuchung (ibid. 26 5) erarbeiteten Formen der Fundierungsgesetze. »Laut der logischen Definition kann, wie bekannt, die Fundierung, d. h. die notwendige Verknüp- fung zweier Elemente, ,eine gegenseitige oder eine einseitige sein, je nachdem die bezügliche Gesetzmäßigkeit eine umkehr- bare ist oder nicht,. So setzt in der Kindersprache der Erwerb der Engelaute den der Verschlußlaute voraus, und in den Sprachsystemen der Welt können die ersten nicht bestehen, ohne daß auch die letzteren bestehen« (1941: 360).

Als erstes Motto der zitierten Studie über »Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze« wählte Jakobson einen Satz aus der gleichen III. Logischen Untersuchung (ibid. 279):

»Alles wahrhaft Einigende sind die Verhältnisse der Fundie- rung«. Eine Einheit, die im formalen Verhältnis der Fundierung gründet, unterscheidet sich von jenen Einheiten, mit denen sich 31

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vor allem die Gestaltpsychologie beschäfl:igt hat und die ihre Einheit einem eigenen Forminhalt, Gestaltqualität genannt, verdanken, einer Qualität, die ähnlich anschaulich gegeben ist wie die sinnlichen Qualitäten der Elemente der zu einer Einheit zusammengeschlossenen Gruppe. Eine solche Gestaltqualität ist z. B. der Reihencharakter einer Kolonne Soldaten. Die Ein- heit des phonologischen Systems ist also keine anschauliche Gestalteinheit. Sie gründet nicht in einer Gestaltqualität, son- dern in einem formalen Verhältnis, genauso wie die Einheit von Farbe und Ausdehnung oder von Tonqualität und Ton- intensität - Busserls Beispiele der Fundierung - nicht durch einen zusätzlichen Forminhalt, durch ein anschauliches Band zustandekommt, sondern allein durch eine wechselseitige Er- gänzungsbedürfl:igkeit. Beachtenswert ist, daß Busserl die Fun- dierungsgesetze bei der Beschreibung der Einheit von einzelnen Gegebenheiten (Töne und Farbflecken) in bezug auf deren ver- schiedenartige Qualitäten einführt, während sie Jakobson für die Beschreibung der Einheit von Systemen von diskreten Ge- gebenheiten der gleichen Art (Phoneme) übernimmt.

Für die Dichotomie, die binäre Opposition als ein universales Formgesetz finden sich gleichfalls Ansätze bei Busserl, und zwar innerhalb seiner Phänomenologie der Assoziation. Sie sind von ihm allerdings nicht im gleichen Maße entwickelt und ausgewer- tet worden wie vom Strukturalismus. Die Phänomenologie führt für den Gegensatz jedoch nicht in erster Linie eine ökono- mische ( das Gefüge von binären Gegensätzen als das rationell- ste Aufteilungs- und Entzifferungssystem) und selbst nicht eine logische Begründung ( der Gegensatz als logische Grund- operation) an (Jakobson, 1_956 a: 499 f.). Sie weist ihn vielmehr als ein transzendentales Prinzip auf, als eine Bedingung der Möglichkeit von Bewußtsein überhaupt. Am leichtesten läßt es sich an der schlichtesten Form von Bewußtsein, der sinnlichen Wahrnehmung, aufweisen. Es kann überhaupt nichts wahrge- nommen werden, das sich nicht ipso facto von etwas anderem, von ihm verschiedenen abhebt (cf. das gestaltpsychologische Gesetz von Figur und Hintergrund). In diesem Sinn erweist sich der Kontrast als ein »Urphänomen« (Busserl, 1966: 138;

cf. unten 2.5.).

Anders als die hierarchische Gliederung des ganzen Systems ist 32

(35)

das oppositionale Verhältnis, das die einzelnen Entitäten pri- mär charakterisiert, als eine Gesta!tqualität anzusprechen. Die Opposition weist die beiden Merkmale (Ehrenfels-Kriterien) der Gestalten auf, Obersummativität und Transponierbarkeit. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das Kontrastphä- nomen kommt nicht den Teilen für sich zu, sondern beiden zu- sammen als einer Einheit, als einem Paar. Hühner, darauf abgerichtet, Körner von einem grauen Feld zu picken und die Körner auf einem angrenzenden dunkleren Feld unberührt zu lassen, geben, wenn die Feldgegensätze grau und dunkel durch einen neuen Gegensatz grau und hell ersetzt werden, das graue Feld auf und picken ihr Futter wiederum vom relativ helleren Teil. Der Gegensatz hell - dunkel ist die primäre Gegebenheit und loslösbar von seinen faktischen Trägern, dem faktischen Grad der Helligkeit und der Dunkelheit der Träger des Gegen- satzes (Jakobson, 1956 a: 473). In analoger Weise überträgt sich z. B. im Dänischen der Gegensatz stark - schwach von t vs.

d in starker Position auf d vs. lj in schwacher Position. Das schwache Phonem in der starken Position deckt sich materiell mit dem starken Phonem in der schwachen Position. Der Gegen- satz als solcher, als Gestaltqualität und als primäres Krite- rium der Wahrnehmung, wird dadurch nicht tangiert (Jakob- son, 1949: 424).

2.3. Grundfragen der Bedeutungslehre

Neben der Idee einer universalen Formenlehre kann als em weiteres Hauptanliegen von Jakobsons Linguistik die These angeführt werden, daß auf jeder Ebene der Sprache, von ihren höchsten Einheiten bis zu ihren letzten Komponenten, die Be- deutung als ein konstitutiver Faktor mit in Betracht zu ziehen ist. Auch diese für Jakobson so typische These ist mitangeregt von Busserls Logischen Untersuchungen. »Zum Begriff des Ausdrucks gehört es, eine Bedeutung zu haben« (Busserl, 1913 a:

II!I, 54).17

Immer wieder verweist Jakobson in diesem Zusammenhang auf die Logischen Untersuchungen, beim Aufzeigen von grund- legenden Unterscheidungen und nicht weniger bei der Erörte- rung von Einzelproblemen. Da ist zuerst die Klärung des Ver- 33

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hältnisses von Ausdruck und Bedeutung selber. Dazu zittert Jakobson den beliebten, durch Wittgenstein berühmt geworde- nen Vergleich der Sprache mit einem Brettspiel in Busserls Version. Bei Wittgenstein dient der Vergleich zur Abhebung der richtig verstandenen, ,entmythologisierten, Bedeutung der sprachlichen Zeichen, die mit der Regel ihrer Verwen- dung identifiziert wird, von einer vermeintlichen Bedeutung, die nach einer gewissen traditionellen Ansicht in einer vorstel- lungsmäßigen, mentalen Begleiterscheinung der sinnlichen Zei- chen bestehen soll. Busserl und Jakobson gebrauchen den Ver- gleich zur anschaulichen Demonstration dafür, daß die Bedeu- tung nicht im physischen und sinnlich wahrnehmbaren Gehalt des Ausdrucks enthalten ist. »Was sie [seil. die Figuren des Brettspiels] phänomenal und physisch konstituiert, ist ganz gleichgültig und kann nach Willkür wechseln ... Zu Spielmar- ken des fraglichen Spiels werden sie vielmehr durch die Spiel- regeln, welche ihnen ihre feste Spielbedeutung geben« (Busserl, 1913 a: II/1, 69; Jakobson, 1941: 350). Ein Laut wird zu einem Sprachlaut nicht durch eine elementare Hörempfindung, durch die er sich von anderen Tönen unterscheidet, sondern durch einen intentionalen Akt des Bewußtseins, eine spezifische Auffassung oder Wertung, durch die er gleichzeitig in ein Regelsystem eingeordnet wird. In dieser Interpretation wird der Bedeutung keineswegs der »Charakter eines Abbildes«

(Busserl, 1913 a: II/I, 314)17 zugesprochen. Vor einer solchen Auffassung bewahrt die Analyse der Synkategoremata. Die Bedeutung liegt - subjektiv - in der Art meiner Intention, in der Art, wie ich mich auf Gegenstände, selbständige oder un- selbständige, richte, und -. objektiv - in der Art des Gegeben- seins der betreffenden Gegenstände. Die Bedeutung ist im Akt des Bedeutens keineswegs gegenständlich bewußt. Sie kann aber durch eine reflexive Blickwendung jederzeit vergegenständ- licht und veranschaulicht werden.

Bei der nächsten semantischen Unterscheidung, der zwischen Be- deutung und gegenständlicher Beziehung des sprachlichen Aus- drucks, geht Jakobson gleichfalls von Busserl aus. Die Diffe- renz der beiden zeigt sich darin, daß zwei Ausdrücke verschie- dene Bedeutungen, aber denselben Gegenstand und umgekehrt dieselbe Bedeutung, aber verschiedene Gegenstände haben kön- 34

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nen. »Husserl untersucht im zweiten Bande der Logischen Un- tersuchungen [ibid. 48], deren Tragweite für die Sprachtheo- rie man nie genug betonen kann, derartige Satzpaare wie ,a ist größer als b, und ,b ist kleiner als a, und stellt fest, daß die Sätze zwar dieselbe Sachlage ausdrücken, aber nach ihrem Bedeutungsgehalt verschieden sind« (Jakobson, 1936 a: 34).

» Wenn wir einmal sagen Bucephalus ist ein Pferd und das andere Mal dieser Karrengaul ist ein Pferd, so ist, wie Husserl (o. c., 46 ff.) präzisiert, die Bedeutung des Ausdrucks ein Pferd zwar ungeändert geblieben, aber die gegenständliche Beziehung hat sich geändert« ( 1941: 3 54). Bereits in seinem programmatischen Vortrag von 1919 im Moskauer Linguistenkreis über Die neue- ste russische Poesie hatte Jakobson versucht, poetische und praktische Sprache durch ein Gegeneinanderausspielen von Be- deutung und gegenständlichem Bezug der Ausdrücke vonein- ander abzugrenzen. »Eine wichtige Möglichkeit des poetischen Neologismus ist die Gegenstandslosigkeit. Wohl wirkt das Ge-

setz der poetischen Etymologie, wohl wird die innere und äu- ßerte Wortform erlebt, aber es fehlt das, was Husserl den ding- lichen Bezug nennt« (1921 a: 92 f.: cf. 1934: 415).

Des weiteren greift Jakobson (1939 a: 292) zur Explikation der Eigenart der Phoneme, die darin besteht, daß dem bestimm- ten und konstanten lautlichen Unterschied zweier Phoneme ein bloß potentieller, keineswegs aber ein bestimmter und kon- stanter Bedeutungsunterschied entspricht, auf Husserls Unter- scheidung von bedeutungsverleihenden und bedeutungserfüllen- den Akten zurück. Eine »leere« Bedeutungsintention liegt nach Husserl vor, wenn ein Ausdruck als solcher erkannt wird, seine Bedeutung aber überhaupt unbekannt ist, wenn ich z.B. Wort- fetzen aus einer noch nie gehörten Sprache erhasche, oder zu- mindest nicht intuitiv gegeben ist, wenn ich z.B. mit einem mathematischen Lehrsatz richtig zu operieren verstehe, der Lehrsatz selber mir aber nicht oder nicht mehr einsichtig ist.

Zur Bedeutungserfüllung kommt es, wenn ich mir die Bedeutung eines Ausdrucks ,klarzumachen, vermag und von ihr ein intui- tives oder evidentes Verständnis gewinne. Jakobson überträgt diese Unterscheidung im Falle der Phoneme auf ein Phänomen, das Husserl selber unentdeckt blieb. Daß diese Appplikation jedoch in der Linie von Husserls eigenem Gebrauch liegt, zeigt 35

(38)

seme Anwendung der Unterscheidung auf die Synkategore- mata (1913 a: II/1, 314 ff.), die bis zu einem gewissen Grad mit den Phonemen verwandt sind. Wie diese, sind sie für sich allein bloß potentielle Bedeutungsträger. Zu einer intuitiven Bedeutung kommen sie nur im Zusammenhang eines umfassen- deren Bedeutungsganzen. Während diese Bedeutung für die Synkategoremata allerdings eine bestimmte und konstante ist, bleibt die der Phoneme eine beliebige.

Andere Bedeutungsprobleme, zu denen Jakobson auf Busserl verweist, sind die Eigenartigkeit des shifters (in der von Jes- persen eingeführten Terminologie der neueren Linguistik) bzw.

der okkasionellen Ausdrücke (in Busserls Sprache) und der Vergleich von vollständigen und unvollständigen Ausdrücken.

» The comparison of incomplete and explicit messages, the fascinating problem of fragmentary propositions, challengingly outlined in Charles Peirce's perusal of ,blanks, and in the semiotic studies of Frege and Busserl, strange as ist may seem, have found no response among linguists« (1963 a: 282; cf.

1913 a: II/r, 308 ff.).

Bezüglich der shifters, wie es z.B. die Personalpronomina sind, wendet sich Jakobson (1957: 132) gegen die verbreitete Ansicht, daß ihnen eine konstante und allgemeine Bedeutung abgehen soll. Für diese Ansicht zitiert er auch Busserl (1913 a:

II/1, 82): »Das Wort ich nennt von Fall zu Fall eine andere Person, und es tut dies mittels immer neuer Bedeutung«. Das ist das einzige Mal, daß sich Jakobson von Busserl ausdrück- lich distanziert. Dazu ist zu sagen, daß Busserl selber in seinem Vorwort zur zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen (1913 a: 1, XIV), die Ar,t, wie die okkasionellen Ausdrücke in der 1. Untersuchung zur Darstellung gelangen, als einen

»Gewaltstreich« qualifiziert. Er rechtfertigt sich damit, daß die- se einleitende Untersuchung nur die Aufgabe hat, den Blick des phänomenologischen Anfängers auf erste und bereits sehr schwierige Probleme des Bedeutungsbewußtseins zu lenken, »ohne ihnen aber schon voll gerecht zu werden«. In der Tat revidiert Busserl seine unnuancierte Einführung des Problems der okka- sionellen Ausdrücke zum Teil noch im Verlauf desselben Para- graphen und dann vollends im 5. Paragraphen der VI. Unter- suchung. Danach sind auch nach ihm bei den shifters zwei

(39)

Bedeutungen, eme okkasionelle oder individuelle und eme allgemeine in einem allerdings eigentümlichen und nicht leicht auftrennbaren Verhältnis aufeinandergebaut.

2.4. Die intersubjektive Konstitution der Sprache18

Busserl wandte sich in den Logischen Untersuchungen gegen die kurzsichtige Auflösung der logischen Gegenstände in die ihnen korrelativen Bewußtseinsakte und bemühte sich um die korrekte Explikation dieses Korrelationsverhältnisses von sub- jektivem Bewußtsein und objektiven Gegenständen. Aber erst Jahre nach den Logischen Untersuchungen gerät ihm die Korre- lation von Objektivität und lntersubjektivität in den Blick.

Einen Gegenstand, so lautet die Grundeinsicht der transzenden- talen Phänomenologie, gibt es immer nur korrelativ zu Be- wußtsein. Ein Gegenstand ist entsprechend erst dann zu einer philosophisch befriedigenden Evidenz gebracht, wenn nicht nur sein Kontext, das System, in das er eingebettet ist, sondern auch das Subjekt, in dem sich beide konstituieren, in die Aufklärung miteinbezogen ist, ein Raumding z. B., wenn der Leib, der als Wahrnehmungsorgan bei der Erfahrung eines Dinges »mit dabei ist«, mitberücksichtigt wird. Die gestalttheoretische Dualität von Figur und Hintergrund und die strukturalistische von -em (Phonem, Morphem usw.) und Kontext ist nach phäno- menologischer Auffassung durch einen dritten Pol, das konsti- tuierende Subjekt, zu einer Triade zu erweitern.

Eine weitergetriebene Analyse führt in der Folge zur Differen- zierung bzw. zur Multiplikation des dritten Poles. Zur Wahr- nehmung eines Dinges gehört nicht nur die horizonthafte Miterscheinung meines Leibes als des Trägers, des Subjekts der Wahrnehmung, sondern ebenfalls die Miterscheinung von anderen Menschen, von denen es wie von mir wahrgenommen wird oder zumindest prinzipiell wahrgenommen werden kann.

In diesem intersubjektiven Horizont der Dinge gründet ihre Eignung als Zeichen, als Mittel der Kommunikation.

Durch den Gebrauch als Zeichen kommt eine zweite Schicht von intersubjektiven Verweisen in die Dinge hinein, die sich wesentlich von der ersten Verweisung unterscheidet. Die erste Verweisung geht auf potentielle andere Subjekte, auf die ich 37

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