ZUR ORALEN LITERATUR IM KÖNIGREICH RUANDA Von Stefan Seitz, Freiburg
Mit einer Vielfalt an Formen von Dichtung und Erzählung, wie sie wohl
kaum ein anderes Volk in Schwarzafrika kennt, haben die Banyaruanda ihrer
Geisteshaltung Ausdruck gegeben. In zwei Grundformen tritt uns diese soge¬
nannte orale Literatur im Königreich Ruanda entgegen: Am Hofe wurde von
professionellen Dichtern, Barden und Chronisten eine Dicht- und Erzähl¬
kunst gepflegt, die dem Milieu der herrschenden Schicht der Tutsi-Viehzüch¬
ter entstammte; aus dem Volke hingegen gingen spontan Mythen, Fabeln, Lie¬
der, Sprichwörter und Rätsel hervor.
Diese Zweiteilung der Oralliteratur korreliert mit der ethnischen Differen¬
zierung des Volkes: Der Inhalt der Dichtung und Erzählung, der sprachliche
Aufbau und der äußere Rahmen des Vortrags manifestieren den Gegensatz
von Viehzüchteraristokratie und untergeordnetem Bauerntum. Die Macht in
Ruanda lag bis 1961 in der Hand der zahlenmäßig recht kleinen Gruppe der
äthiopiden Tutsi-Viehzüchter. In ihrer Abhängigkeit standen die negriden
Hutu-Bauern, die Masse der Bevölkerung. An sozial unterster Stelle einge¬
stuft waren die pygmoiden Twa, die nur in geringer Zahl als Töpfer oder als
Wildbeuter im Lande verstreut leben. Diese drei Bevölkerungsteile unter¬
scheiden sich also deutlich in ihrer somatischen Erscheinung, in ihrer Wirt¬
schaftsweise und in ihrem sozialen Status.
Die höfische Oralliteratur wird allgemein als eine hervorragende Leistung
der Tutsi anerkannt. Man hat sich mit diesem Kulturgut schon seit mehr als
einem halben Jahrhundert befaßt, rechtzeitig genug, um die letzten noch le¬
benden Informanten zu erreichen. Seit etwa fünfzehn Jahren hat man die Be¬
schäftigung damit wesentlich intensiviert und eine Fülle an Material primär
nach ethnohistorischen Gesichtspunkten ausgewertet. Es seien nur die Na¬
men von Kagame, Vansina, d'Hertefelt, Coupez und Kamanzi genannt. Wenig
berücksichtigt blieb das populäre Erzählgut, wenn man von den Mythen ab¬
sieht.
Die Dichtung der Tutsi ist zunächst für uns eine wertvolle Geschichtsquelle,
da in ihr über Jahrhunderte hinweg die Machtpolitik der führenden Schicht do¬
kumentiert wird. Darüber hinaus aber erlaubt sie uns einen tieferen Einblick
in die Ideologie der politisch-religiösen Institution des sakralen Königtums.
Der Inhalt der höfischen Dichtkunst ist von diesem Herrschaftssystem geprägt:
Er versucht den Machtanspruch einer ethnischen Minderheit zu rechtfertigen
und die von dieser Gruppe aufgestellten Wertvorstellungen zu propagieren.
Die zentralen Themen in der Dicht- und Erzählkunst sind daher der sakrale
Herrscher, die Dynastie, das Kriegertum und das Rind.
Die verschiedenen Formen von höfischer Oralliteratur bringen diese Ziel¬
setzung zum Ausdruck:(l)
Die königlichen Rituale wurden in den ubwiru festgehalten. Sie stellen ge¬
wissermaßen die Verfassung des Königtums dar. Der Text blieb streng geheim
und war unveränderbar. Nur vier Würdenträger beherrschten ihn vollständig,
einige wenige andere kannten Teile davon (Der Text wurde vollständig publi¬
ziert bei d'Hertefelt und Coupez 1964, Teile davon bei Kagame 1947 und Cou¬
pez und Kamanzi 1970).
Die Genealogie des Herrscherhauses wurde in den ubucurabwenge tradiert,
einer Dichtung, die den rechtmäßigen Anspruch der herrschenden Dynastie
auf den Thron betont, den Herrscher als Nachkommen eines Dynastiegründers
von himmlischer Abstammung herausstellt und sein Ansehen fördert, indem
sie ihn zum Nachfahren einer langen Ahnenreihe macht, (s. Kagame 1943:
IV §§ 3-33; 1959: 15-17).
Preisgesänge zum Ruhme des Herrschers und der königlichen Familie wa¬
ren die ibisigo . Die für diese Propaganda-Dichtung zuständigen Hofbarden
traten zugleich als Repräsentanten einflußreicher'Tutsi-Familien auf. (s.
Kagame 1945, 1951, 1969:151-244, 1974; Coupez und Kamanzi 1970).
Die Chronik des Herrscherhauses war der Inhalt der ibitekerezo by'abami .
Die Hofchronisten stellten darin mit eigenen Worten die Geschichte der Könige
dar und schmückten sie mit neuen Ideen aus. (s. Coupez und Kamanzi 1962).
Die Kriegsdichtung, ibyivugo , kannte verschiedene Formen: kurze Oden,
inningwa . die in der Regel von den Kriegern selbst verfaßt wurden und in de¬
nen man sich seiner eigenen Heldentaten rühmte, dann längere Gesänge,
imyato . in denen berufsmäßige Dichter die Leistungen berühmter Krieger
mit dem ständig wiederkehrenden Motiv des Zweikampfes zwischen Bogen¬
schützen und Schildträger priesen, und ferner Kriegsberichte, ibitekerezo .
die von ausgewählten Herolden am Hofe vorgetragen und von den Hofdichtern
in freier Dichtung wiedergegeben wurden, (s. Kagame 1967, 1969: 15-88;
Coupez u. Kamanzi 1962, 1970: 96-117).
Die Hirtendichtung, amazina y'inka , besang die Rinder der königlichen
Herde. Jeweils einem Tier wurde eine Ekloge zugedacht, (s. Kagame 1947,
1961, 1963, 1969: 89-149; Coupez u. Kamanzi 1970: 119-157).
Damit war die am Hofe gepflegte Dicht- und Erzählkunst in ihrer Thema¬
tik fast ausschließlich auf die Belange der Viehzüchteraristokratie ausgerich¬
tet: die ubwiru. ubucurabwenge, ibitekerezo by'abami und die ibisigo hatten
den Herrschaftsanspruch des Königs zu legitimieren, die imyato und inningwa
die Tutsi als hervorragende Krieger zu rühmen und die amazina y ' inka das
Rind als Symbol von Macht, Reichtum und sozialem Prestige zu verherrlichen.
Die höfische Oralliteratur war somit auch ein Teil der Abgenzungspolitik der
Tutsi, die die soziale Distanz zwischen ihnen und der übrigen Bevölkerung
vertiefen sollte.
Denn die gesellschaftliche Stratifikation in Ruanda war durch eine Art von
Feudalsystem abgesichert, das den Tutsi mit dem Viehlehen ein Mittel in
die Hand gab, eine soziale Mobilität der Hutu nach oben zu verhindern. Die
Tutsi besaßen das Vieh und damit die Macht. Die Hutu waren in dieser Gesell¬
schaftsordnung gezwungen, sich unter das Patronat eines Tutsi zu stellen,
nicht nur um Nutznießungsrechte an Vieh zu erhalten, sondern vor allem,
um sich den Rechtsschutz zu sichern. Ein Hutu konnte in die Schicht der Tutsi
nur aufsteigen, wenn er die als Brautpreis für ein Tutsi-Mädchen geforderte
Anzahl an Rindern aufbringen konnte. Erst durch eine solche Ehe war er ei¬
nem Tutsi gleichgestellt. Doch derartige Mischehen blieben selten. Die Regel
war die Endogamie, die als soziale Schranke wirkte.
Dieser Gegensatz von über- und untergeordneten ethnischen Schichten be¬
stimmt also auch die höfische Dichtkunst. Bei der Interpretation der Texte
hat man aber, wenn sie überhaupt kulturelle Aspekte miteinbezog und sich
nicht nur auf die ethnohistorische Aussage beschränkte, allzu häufig über¬
sehen, daß trotz der starken Betonung des Trennenden auch ein Element auf¬
taucht, das die verschiedenen Ethnien miteinander verbindet. Im Folgenden
möchte ich diesen Gedanken weiter ausführen.
Diese Idee ist bereits in der Gesamtkultur der Banyaruanda vorhanden:
etwa in der Religion, wo alle gemeinsam einen Hochgott, Imana, anerkennen
und wo ohne Unterschied jedermann in die Kultgemeinschaft des Ryangombe
aufgenommen wird, oder in der Politik, wo auch Hutu und Twa zumindest zu
den unteren Ämtern in der Administration zugelassen waren und wo man ge¬
meinsam handelte, wenn es um die Verteidigung des Reiches ging.
Man beobachtet diesen Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls zu¬
nächst im populären Erzählgut, einmal in einem Teil der Mythen, die eine
ursprüngliche Gleichheit aller vorgeben und die sozialen Unterschiede auf
eigenes Verschulden zurückführen (s. d'Hertefelt 1964: 221-2), zum an¬
deren findet man ihn in den historischen Erzählungen, in denen z.B. die an¬
sonsten so verachteten Twa als engste Vertraute des Königs und als seine
ständigen Begleiter dargestellt werden (Pages 1933: 263-8; Coupez u Ka
manzi 1962: 219-221, 275-9).
Wenngleich nur in Ansätzen, so läßt sich dieser Gedanke auch in der höfi¬
schen Oralliteratur nachweisen, nämlich dort, wo im sakralen Königtum der
Herrscher als Herrscher aller, sowohl der Viehzüchter wie der Bauern an¬
gesprochen wird. Seine Verantwortung für das ganze Volk wird dadurch deut¬
lich, daß der Ritualtext sich nicht nur mit der Viehhaltung, sondern auch mit
dem Bodenbau und der Jagd beschäftigt. Umgekehrt hat das Volk zumindest
teilweise bestimmte höfische Dichtungsformen und dynastische Erzählungen
übernommen und auch auf diese Weise die Souveränität des Herrschers an¬
erkannt.
Jene mystische Identifikation des Regenten mit dem Reich, die Verantwort¬
lichkeit für das Wohl seiner Untertanen kommt in den ubwiru, den königlichen
Zeremonialtexten, zum Ausdruck, wo immerhin drei der achtzehn Teile des
geheimen Rituals auf den Anbau Bezug nehmen.
Es sind zunächst zwei rituelle Handlungen, die in Notsituationen, nämlich
bei Dürre ("La voie du temps poussiereux") und bei Überschwemmungsgefahr ("La voie de 1' inondation" ) abgehalten wurden (d'Hertefelt u. Coupez 1964:
20-31). In diesen beiden Texten bleiben aber die Hutu-Bauern unerwähnt und
an den Vorgängen unbeteiligt. Die Aktivitäten sind auf den König und hohe
Tutsi-Würdenträger beschränkt.
Anders bei dem jährlich abgehaltenen Fruchtbarkeitsritual für das Sorghum,
ein Ritual, das den Anbau von der Aussaat bis zur Ernte begleitet. Hier agie¬
ren nicht nur der König, die Königin und Tutsi-Funktionäre, sondern auch die
Hutu selbst. Sie werden durch Mitglieder einer bestimmten Hutu-Lineage ver¬
treten, die in königlichem Auftrag rituelle Aufgaben im Anbau zu erfüllen und
die Sorghum-Aussaat für die Erstlingsfrüchte auszuführen haben. Sogar das
profane Volk nimmt daran Anteil, nämlich mit seiner Anwesenheit bei der
Vorführung der königlichen Herde zum Abschluß des Rituals (dsgl. S. 93,
VIII, Vers 350-356). Eine solche Passage erscheint in den gesamten ubwiru -
Texten nur zweimal (dsgl. S. 7). Bemerkenswert bleibt auch, daß nur in diesem Ritual die Bezeichnung "Hutu" ausgesprochen wird (dsgl. S. 459).
Außergewöhnlich sind auch die Handlungen des Königs: er nimmt die neuen
Hacken in die Hand und gibt sie mit dem Auftrag, die Felder zu bestellen,
weiter. Nie hätte ein Tutsi früher eine Hacke in die Hand genommen. König,
Königin und einer dieser Bauern bereiten von der ersten Sorghumernte einen
Brei und essen ihn. Auch Hirsebrei entspricht als Nahrung keineswegs dem
Viehzüchterideal .
Häufiger als die Hutu sind die pygmoiden Twa in die Rituale miteinbezogen.
Dies erstaunt umso mehr, als sie weitaus strengeren Meidungsgeboten unter¬
worfen sind, wie im Verkehr zwischen Tutsi und Hutu üblich. Ihr Auftreten in
diesen Texten ist jedoch anders motiviert als das der Hutu. In ihnen sieht
man die Repräsentanten der Erstbewohner des Landes, die durch ihre Prä¬
senz und ihr Mitwirken bei bestimmten Ritualen den Herrschaftsanspruch des
jeweiligen Königs bestätigen sollten, oder man schreibt ihnen besondere
fruchtbarkeitsfördernde Kräfte zu: Ein Twa, den man Sohn des Feuers nennt,
entzündet mit dem Feuerbohrer das heilige Feuer (dsgl. S. 125, IX Vers 582-
591; 265, XVII Vers 919-931), ein Twa führt bei der Inthronisationszeremonie
zu bestimmten Tageszeiten gewisse Ehrenbezeugungen gegenüber dem neuen
Herrscher aus (dsgl. S. 239, XVII, Vers 314-317, 323-326), Twa-Frauen
kündigen bei einem Fruchtbarkeitsritual das Schlafengehen des Königs durch
ihren Gesang an (dsgl. S. 69, 70, VII, Vers 21-29).
Damit kommt zumindest in Teilen dieser Ritualtexte neben dem stets do¬
minierenden Distanzierungseffekt, doch auch eine integrierende Wirkung
zum Tragen. Aber hicht nur von selten der Tutsi-Machthaber, die durch den
Inhalt der ubwiru ein Zusammengehörigkeitsgefühl andeuteten, sondern auch
von Seiten des Volkes wurde eine gewisse Gemeinsamkeit bezeugt, indem es
partiell bestimmte Formen höfischer Dichtung aufnahm: In der Kriegsdichtung
als Hinweis auf gemeinsames Handeln, in den Preisliedern und den königli¬
chen Genealogien als Anerkennung des Herrschers und in der Hirtendichtung
als Übernahme bestimmter Wertvorstellungen der Tutsi.
Am prägnantesten zeigt sich dies bei der Kriegsdichtung: Während die imyato -
Gedichte von Dichtern für berühmte Krieger verfaßt wurden, waren die inningwa
kurze, aus etwa 5 bis 20 Versen bestehende Oden, in denen sich einjeder seiner
Taten selbst rühmte. Aber auch diese Gedichte sind höfischen Ursprungs. Die
klassische Form, wie sie für feierliche Anlässe gebraucht wurde, erlernten
die Tutsi-Jünglinge während ihrer umfassenden Ausbildung am Hofe. Das Volk
hat diese Dichtungsform übernommen und in die Tanzkunst miteinbezogen. Der
Vortrag der Oden wechselt mit Tanz (Kagame 1967: 4).
Jeder Krieger in Rugjida beherrschte zumindest ein solches Kriegsgedicht.
Das galt nicht nur für die Tutsi, die mit den Twa die eigentliche Kampfgruppe
bildeten, sondern auch für die Hutu, die mehr mit sekundären Aufgaben im
Kriegsfalle betraut waren, aber dennoch ihre eigenen militärischen Abteilun¬
gen stellten. Mit den Gesängen suchte man natürlich primär sein eigenes
Prestige zu steigern, zugleich aber erkannte man damit auch die unter der
Führung der Tutsi-Oberschicht erfolgten Kriegsunternehmungen als ein gemein¬
sames Anliegen an.
Zumindest Ansätze zur Übernahme durch das Volk lassen sich bei den Preis¬
lieder, der königlichen Genealogie und der Hirtendichtung feststellen. Die
ibisigo , die den König und das Herrscherhaus verherrlichten, waren von Hof-
dichtem verfaßt, die sich - im Gegensatz zu den anderen am Hofe tätigen Poe¬
ten und Chronisten - ausschließlich dieser als besonders ehrenvoll geltenden
Aufgabe zu widmen hatten. Das Dichtgut wurde jeweils innerhalb der Familie
des Betreffenden weitergegeben und vermehrt. Da dies das Prestige der Fa¬
milie förderte, lag es in deren Interesse, die Dichtung bekannt werden zu las¬
sen, zunächst unter den Repräsentanten der verschiedenen Tutsi-Familien in
der Residenz, dann über Höflinge im Lande unter den Provinzhäuptlingen (Ka¬
game 1969: 153). Von hier aus kamen sie, wenn auch nur beschränkt, unter
das Volk. Diesem Umstand ist es übrigens zu verdanken, daß der größte Teil
dieser 218 Dichtungen vollständig oder zumindest fragmentarisch erhalten
blieb. I
Analoge Erscheinungen zeigen sich in der Verbreitung der Hirtendichtung. ^
Die amazina y'inka wurden von Dichtern verfaßt, die direkt dem König unter¬
standen. In diesen Eklogen, in denen man die Kühe mit Amazonen verglich
und ihre Hörner als Speere deutete und in denen man die Rinder miteinander
um die Schönheit wetteifern ließ, wurden nur Tiere einer bestimmten Rasse
besungen. Diese zeichneten sich durch extrem lange Hörner aus. Für die ge¬
wöhnlichen Tiere erdichtete man ähnliche Gesänge, die jeder Tutsi-Hirte selbst
verfaßte (Kagame 1969: 89). Uber das Viehlehen ging diese Dichtung an die
Hutu weiter.
Gleichfalls über das Patronat gelangten auch Texte der Genealogie und der
Geschichte des Herrscherhauses unter das Volk. Die Tutsi fanden großen Ge¬
fallen an diesen Vorträgen und suchten auch ihre Klienten dafür zu begeistern.
Sie forderten sie auf, diese Erzählungen zu erlernen (Vansina 1965: 167).
Es mag nun der Eindruck entstehen, daß die Hutu zu einer solchen durch
Inhalt, Sprachstil und Form sich vor der populären Erzählung auszeichnen¬
den, gehobenen Oralliteratur unfähig gewesen wären. Dies trifft nicht zu. Zu¬
mindest in einem Falle schufen auch sie durchaus Gleichwertiges: Familien¬
chroniken, ibitekerezo by ' imilvango . kannten nicht nur der Tutsi-Adel, son¬
dern auch einzelne Hutu-Familien. So hatten die Hinza, jene sakralen Häupt¬
linge, die die Hutu-Kleinfürstentümer regierten, bevor die Tutsi ihre Macht
in ganz Ruanda etablierten, ihre eigenen Familiengeschichten tradiert (Pa¬
ges 1933; s.a. Heremans 1974, 7).
Hier sei auch der Hinweis angebracht, daß nicht nur die Hutu von den Tutsi,
sondern umgekehrt auch die Tutsi von den Hutu Gedankengut in der oralen Li¬
teratur übernommen haben. In einem Ritual des ubwiru ("La voie de gicuraasi")
weisen Fruchtbarkeitscharakter und lunare Bezüge eindeutig auf Riten, die in
den wenigen noch bis in unser Jahrhundert verbliebenen Hutu-Kleinkönigtümer
praktiziert wurden ( s. d'Hertefelt 1964: 50).
Letztlich aber erscheint die höfische Oralliteratur in Ruanda gleichsam als
Spiegelbild der Gesamtkultur der Banyaruanda. Sie verdeutlicht durch ihre
enge Bindung an das Milieu der Tutsi die extreme soziale Distanz zwischen
den Ethnien und ist damit zugleich politisches Mittel, die Überlegenheit der
Tutsi vor den Hutu zu demonstrieren. Andererseits aber läßt sie, wenn auch
nur in Andeutungen, erkennen, daß bei Tutsi, Hutu und Twa stets auch das Be¬
wußtsein gegeben ist, zusammenzugehören und ein Volk zu sein.
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Anmerkung
Typologische Aufgliederungen der verschiedenen Formen finden sich bei
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Heremans (1974: 7-ll).
DER KOHORTATIV "DUAL" UND PLURAL IN DEN BANTUSPRACHEN
Von Thilo C. Schadeberg, Leiden
Dieser Artikel entstand im Zusammenhang mit einer vergleichenden Studie
über die Imperative in den Bantusprachen (in Vorbereitung). Er steht im Rah¬
men des Programms LOLEMI, das in der sprachwissenschaftlichen Abteilung
des Königlichen Museums für Zentral-Afrika in Tervuren durchgeführt wird
und die Unterstützung der belgischen Nationalen Stiftung für Kollektive Wissen¬
schaftliche Grundlagenforschung genießt.
Die Aussagen dieses Artikels beruhen auf der Durchsicht von ca. 340 Publi¬
kationen und Manuskripten über ca. 210 Bantusprachen. Bibliographische Grund¬
lage war die Kartei der Mitarbeiter am Programm LOLEMI. Da diese Kartei
hoffentlich demnächst publiziert wird, wurde hier von Literaturangaben abgese¬
hen.
Die Anregungen zur Mitarbeit am LOLEMI-Projekt unter dem Oberthema
"Imperativ" verdanke ich Herrn Professor A.E. Meeussen, dem ich gern auch
für viele anregenden Hinweise danke.
Im allgemeinen kennen die Bantusprachen keine deutliche Morphologisierung
der semantischen Kategorien des Numerus. Zwar kann eine syntaktisch-sem an¬
tische Beschreibung einer Bantusprache nicht ohne den Unterschied Singular-
Plural auskommen; morphologisch wird dieser Gegensatz jedoch fast immer
durch das System der Nominalklassen überdeckt. Eine durchgehende Morpho¬
logisierung der Kategorie Dual ist den Bantusprachen (wie dem Niger-Kongo
überhaupt) ganz allgemein fremd. (Die Verbindung des Klassenpaares 5/6 mit
paarweise vorkommenden Körperteilen ist zu vage, um hierin eine Dual-Mor-
phologisierung zu sehen. )
Traditionell wird auch bei Partizipanten (l) zwischen Singular und Plural
unterschieden. Dies ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Immerhin besteht ein "wir" nicht aus "ich und ich (und ich etc. )", wie etwa "Häuser" aus "ein Haus und noch ein Haus (etc. )" besteht.
Die Möglichkeiten, ein "wir" aus anderen Personen zusammengefügt zu denken,
sind mannigfaltig. Ähnlich liegt die Sache mit "ihr". All diese Unterschiede werden im Bantu im allgemeinen nicht morphologisiert.
Eine bemerkenswerte Ausnahme wird wiederholt bei der Beschreibung des
Kohortativs berichtet. Unter 'Kohortativ' verstehe ich hier eine Aufforderung
('Hortativ' ), die den Sprecher mit einschließt. Im Deutschen wird dies ent¬
weder durch Inversion ausgedrückt ( gehen wir! ) oder - formeller - durch
laß(t) uns ... ! (Letztere Form ist doppeldeutig. Nicht gemeint ist hier die
Bitte um Zustimmung oder Erlaubnis. )
Formal sind im Bantu die Formen des Kohortativs meist mit denen des Sub-
junktivs identisch, i.e. Formen der Struktur SK = B - e (2). Besonders im
Süden des Bantugebietes gibt es jedoch auch spezielle, meist jedoch vom Sub¬
junktiv abgeleitete, hortative Konjugationsformen.