© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 323
Die Konstruktionen von Zeit
Zum prekären Verhältnis von akademischer Theorie und lokaler Praxis
Heidrun Friese
Wilmersdorfer Str. 21, D-10585 Berlin
Z u sa m m e n fa ssu n g : Strategien im Umgang mit „Zeit“ haben sich als konstitutiv für den sozialwissenschaftli
chen Diskurs erwiesen. Besonders die Handlungstheorien von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens haben die Einbeziehung der zeitlichen Dimension in die theoretische Reflexion über Gesellschaft gefordert, die vielfältigen, widersprüchlichen sozialen Ordnungen von Zeit und ihre praktischen Logiken jedoch in der akademischen Kon
struktion einer linear-irreversibel gerichteten Weltzeit eingeschlossen und dieser untergeordnet. Der Beitrag ver
sucht zunächst, über die Darstellung der geschichtswissenschaftlichen und anthropologischen Entwürfe von Zeit die Verfahren der akademischen Konstruktion von Zeit zu skizzieren. In einem weiteren Schritt werden lokale Prak
tiken der Geschichtskonstruktion in einem sizilianischen Ort dargestellt werden, um erste Anhaltspunkte dafür zu entwickeln, wie die Pluralität sozialer Zeiten in Gesellschaftstheorie eingehen kann.
1. Die theoretischen Ordnungen der Zeit
„Hören Sie endlich auf mich mit ihrer verdamm
ten Zeit verrückt zu machen? Es ist unerhört!
Wann! Wann! Eines Tages, genügt Ihnen das nicht? Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir gebo
ren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht?“
(Beckett, Warten auf Godot)
Diskursive Konstruktionen von „Zeit“ haben sich als konstitutiv für die Gesellschaftswissenschaften und ihre Theoriebildung erwiesen.1 Im folgenden
1 Zur Problematisierung der zeitlichen Dimension in unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Diskur
sen, vgl. u.a. Bourdieu, 1972, 1980, 1992; Dürk
heim, 1981; Elias, 1984; Giddens, 1979, 1984; Luh- mann, 1976, 1979; Mead, 1973; Schütz, 1974; Soro- kin/Merton, 1937. Die „verstehende Soziologie“, wie etwa Schütz (1974) - der in Anlehnung an Berg
son und Husserl eine phänomenologische Fundie
rung sozialer Zeiten versucht, um sie zur Rekon
struktion des „subjektiven Sinnes“ (M. Weber) zu nutzen - oder Mead (1973) - der den Aufbau von Ich-Identitäten und gemeinsamer Zeitperspektive interaktionstheoretisch begründet - , haben die so
ziale Konstitution von Zeit zur Interpretation indivi
duellen Handelns und sozialer Praxis herangezogen.
Während die „klassischen“ Untersuchungen der So
ziologie um den Nachweis spezifischer sozialer Zei
ten sich bemühten, hat die „neuere“ soziologische Zeitforschung sich - oftmals rein quantitativ über Befragungen zur Zeitverwendung („time budgets“)
möchte ich versuchen, die Konstruktionslinien Objektivierung, Distanzierung, Subjektivierung und Pluralisierung, die sich in unterschiedlichen akademischen Traditionen des Denkens und sei
nen Konzeptionen von Zeit synchron wechselsei
tig durchkreuzen und berühren, um widersprüchli
che Konstellationen einzugehen, weiterzuziehen und einige ihrer Unzulänglichkeiten aufzuzeigen.
Die Soziologie/Anthropologie hat nach den zeit
theoretischen Grundlegungen durch Dürkheim (1981) und Mauss (1978) - die Zeit nicht im sub
jektiven Bewußtsein verankerten, sondern ihren gesellschaftlichen Konstitutionsgrund aufwiesen - die Variabilität sozialer Zeitkonzeptionen aufge
zeigt und in die unterschiedlichen Axiome des Strukturalismus/Funktionalismus und der inter- pretativ/semiotischen Ansätze eingetragen.
Während im funktionalistischen Theorierahmen
„Zeit“ objektiviert und der gesellschaftlichen Or
ganisation der Zeitsysteme die Funktion der Siche
rung von Kontinuität des gesellschaftlichen Sy
stems zugewiesen, „Zeit“ damit lediglich Vermitt
lungsfunktion im Hinblick auf sozialen Wandel zu
gesprochen wird, so hat der Strukturalismus (neo
platonisch) die „ewige“ Struktur vor den wandel-
- der Untersuchung der Beziehung zwischen Zeit
perspektive und sozialer Schichtung, Zeitperspekti
ve und sozialen Gruppen, Zeitperspektive und sozia
ler Planung gewidmet. Zusammenfassende Über
blicke zum Stand der soziologischen Zeitforschung finden sich u.a. bei Bergmann, 1983; Tismer, 1985;
Nowotny, 1992. Vgl. daneben auch die Beiträge in Fraser/Haber/Müller, 1972; Fraser/Lawrence 1975, 1978; Fraser/Lawrence/Park, 1981; Zoll, 1988.
324 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 baren Erscheinungen der Welt privilegiert. Hand
lungstheoretische Ansätze haben demgegenüber Zeit subjektiviert und im Raum zwischen dem ge
sellschaftlichen „Akteur“ und der gesellschaftli
chen Struktur eingeschrieben. Daneben ent
wickeln evolutionistische Modernisierungstheo
rien ihre besonderen Konstruktionen einer objek
tiven Weltzeit und ihrer unabweisbaren Entwick
lungsstufen. Indem dieser Diskurs die eigene Ge
sellschaft räumlich und zeitlich als „Hier und Jetzt“ definiert, weist er einigen Gesellschaften oder sozialen Gruppen ihren Platz im „Dort und Damals“ zu (vgl. Fabian 1983). Diesem dichotomi- schen Verfahren implizit ist die Leugnung der Gleichzeitigkeit, die zur Funktion der räumlichen wie zeitlichen Distanzierung des Fremden, des An
deren wird.2Zwischen diesen Polen, die durch die Objektivierung und die Subjektivierung gebildet werden, steht die Pluralisierung von Zeit, die, durch die Subjektivierung möglich geworden, auch und gerade von der Anthropologie deutlich gemacht wurde.3
2 Vgl. dazu auch Wolf (1982). Doch auch Wolfs Dar
stellung der europäischen Expansion seit dem 14.
Jht., der Geschichte der Beziehungen zwischen Zen
trum und Peripherie, basiert auf dem Postulat einer linear gerichteten Weltzeit und läßt regionale Onto- logien von Zeit nicht zu. Auch die Gewißheiten der marxistischen Geschichtsphilosophie konstruieren eine, zwar über gesellschaftliche Widersprüche ver
mittelte, dennoch linear verlaufende Weltzeit, die auf die Verwirklichung eines Telos zustrebt. Auch wenn - wie etwa bei Ernst Bloch (1970) - in diesem Denken durchaus unterschiedliche soziale Zeiten zu
gelassen werden (denn die Klassengesellschaft trennt die Geschichte der Herrschenden von denen der Be
herrschten, die in ihrem geschichtlichen Sein von der Geschichte zugleich ausgeschlossen sind und daher vor der Erschließung des Horizontes der Zeit und des Eintritts in die Geschichte stehen), holt der der
maßen bestimmte Begriff von Geschichte diese dann gleichsam wieder ein, um Geschichte in der vorgän
gig teleologisch bestimmten Zeit einzuschließen.
3 Die Anthropologie kann sich auf die kontinuierliche Beschäftigung mit gesellschaftlichen Konzeptionen von „Zeit“ stützen; vgl. besonders Dürkheim, 1981;
Mauss 1978; Hubert/Mauss, 1909. Vgl. weiter u.a.
Bohannan, 1953; Dumont, 1964; Evans-Pritchard, 1939, 1972; Fortes, 1970, Geertz, 1973; Hall 1984;
Leach, 1961; Levi-Strauss, 1968; im Überblick Fabi
an, 1983:41f.; Kramer, 1978. Dennoch sind in der Anthropologie Europas Versuche, ein umfassenderes Verständnis von sozialen Zeitkonzeptionen zu ge
winnen, eher rar geblieben. Vgl. u.a. Bernot/Blan- card, 1953; D e Pina-Cabral, 1987; Eickelmann, 1977; vgl. bes. Bourdieu, 1963, 1972; Zonabend, 1984.
Der sozialwissenschaftliche Diskurs und beson
ders die handlungstheoretische Rhetorik haben die Bedeutung der Dimensionen von Zeit für das soziale Leben (wieder)entdeckt und die Einbezie
hung der Zeit in die gesellschaftstheoretische Ana
lyse gefordert. Diese - insbesondere von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens - vorgetragene Forderung ist Resultat des komplementären Defi
zits der vom akademischen Diskurs eingesetzten Dichotomien von Struktur und Akteur/Mikro- ebene und Makroebene/Objektivierung und Sub
jektivierung, die durch ein revidiertes Verständnis der zeitlichen Dimension sozialen Handelns über
wunden werden sollen.
In Bourdieus Programm der Subjektivierung von Zeit, das die von Dürkheim bereits vorgeschlage
ne „Enttranszendentalisierung“ weiterführt und sich zugleich gegen solche Vorstellungen wendet, die menschliches Handeln aus einer überzeitlichen Vernunft ableiten, wird Zeit zum Produkt der so
zialen Praxis, die ihrerseits in der Zeit liegt: „. . . le temps est ce que l’activite pratique produit dans Facte meme par lequel eile se produit elle-meme“
(Bourdieu 1992: 112). Dieser Entwurf wirkt voll
endet. Doch obgleich mit dieser Subjektivierung der Begriff „Zeit“ der metaphysischen Repräsen
tation und der Objektivierung, die Zeit zum aprio- ri sozialer Praxis erklärt, entrissen wird (vgl. auch Elias 1984), so fällt die Forderung nach Einbezie
hung der zeitlichen Dimension in die Analyse des sozialen Lebens sich stets selbst zum Opfer. Denn die unterschiedlichen Zeitkonzeptionen, die die Akteure schaffen (vgl. Bourdieu 1963, 1972), fin
den überraschenderweise in Bourdieus Gesell
schaftsanalysen kaum je Eingang, und die empha
tische Forderung nach Integration der temporalen Dimension in die Sozialwissenschaften verliert sich im kritisierten Objektivismus einer diskursi
ven Zeit.
Auch in Giddens’ Denken steht die zeitliche (und räumliche) Konstitution von Gesellschaft, die Be
ziehung zwischen Struktur und „agency“ im Zen
trum der Gesellschaftstheorie. Die Axiomatik die
ses Diskurses gründet sich jedoch weniger in ge
nauer Analyse der Zeitkonzeptionen der Akteure in ihren besonderen raum-zeitlichen Konfiguratio
nen, sondern Giddens subjektlose Theorie des ge
sellschaftlichen Subjekts - in der der weder zeitlich noch räumlich lokalisierte „agent“ die gesell
schaftliche Bühne besetzt und als ahistorische Ka
tegorie agiert - operiert mit fragwürdigen ge
schichtsphilosophischen Annahmen, die unter
schiedliche Zeitkonzeptionen auf einer linearen Entwicklungsachse anordnen, um Distanz zu
Heidrun Friese: Die Konstruktionen von Zeit 325 schaffen: „»time« is not distinguished as a separate
»dimension« in traditional cultures in terms of time consciousness itself“, so bemerkt Giddens, sondern die Zeitlichkeit des sozialen Lebens wird in der Bestimmung der Gegenwart durch die Ver
gangenheit, die die Tradition leistet, durch den vorherrschenden „cyclical character of social acti
vity“ ausgedrückt. Erst wenn Zeit als eigenständi
ges und quantifizierbares Phänomen anerkannt ist, wird sie zur knappen und ausbeutbaren Res
source (Giddens 1979:201).
Die Theorie des Handelns dirigiert die Zeiten der Menschen, die so unerreichbar auf Distanz blei
ben. Die imaginäre Produktion von Realität und ihre theoretische Ordnung entwerfen sich einen temporalen Raum, in welchem eine traditionale Gesellschaft mit zyklischer Zeitauffassung dicho- tomisch einer fiktiven modernen Gesellschaft und ihrer linearen Zeitkonzeption gegenübersteht und Zeit damit im objektivistischen Begriff einge
schlossen wird (schon Aristoteles war Zeit gezähl
te Bewegung).4 Zugleich gehen Subjektivierung
4 Diese soziologische Dichotomisierung von Zeitkon
zeptionen (vgl. Bergmann, 1981; Luhmann, 1976, 1979; Nowotny, 1990) beruht auf einem ganzen Bün
del von Interpretationsvereinbarungen und katego- rialen Antinomien, sie hat ihre besondere Tradition in den „binären Oppositionen“, dem System negati
ver Ausschließungen zwischen Gemeinschaft/Gesell- schaft, traditional/modern, zyklisch/linear im sozial
wissenschaftlichen Diskurs. Die vorherrschenden zeitsoziologischen Theoriegebäude erklären - mehr oder minder empirisch oder theoretisch fundiert - die uns angeblich vor- und beherrschende Zeitkon
zeption aus der (industriell-kapitalistischen) Wirt
schaftsweise, sehen sie begründet in der gesellschaft
lichen Arbeitsteilung und den daraus resultierenden Koordinierungszwängen oder als Resultat der im Laufe gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend komplexer werdenden sozialen Systeme. Das Zeit
bewußtsein der Moderne soll dann aus dem Fehlen der orientierenden Maßstäbe der Vergangenheit, den handlungsleitenden Vorbildern der Tradition re
sultieren, „sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen“ (Habermas, 1985:16). Die nunmehr - angeblich - vorherrschen
de Zukunftsorientierung soll sich in dem Maße her
ausbilden, wie die gesellschaftliche Modernisierung den erwartungssteuernden Erfahrungsraum der bäu
erlich-handwerklichen Lebenswelten entwertet und an die Stelle von Tradition soll dann die Fortschritts
erfahrung treten, die dem bis dahin „fest in der Ver
gangenheit verankerten Erwartungshorizont“
(1985:22) eine neue Qualität verleiht. In der Moder
ne vergrößere sich die „Differenz zwischen Erfah
rung und Erwartung“ (Koselleck, 1979:359) und da-
und Objektivierung von Zeit in der Rede über Gesellschaft eine seltsame Verbindung ein: „all so
cial life occurs in, and is constituted by, intersec
tions of presence and absence in the »fading away«
of time and the »shading off« of space“ (Giddens 1984: 132, Hvhbg. HF). Zwar erscheint uns seit Platon Zeit - im Gegensatz zur Ewigkeit - in die Ordnung des Vergehens eingeschrieben, doch die
se Konzeption von Zeit kann nun nicht in der uni
versalistischen Prätention allen Gesellschaften, eben „all social life“ als objektive Weltstruktur konstitutiv vorgeschrieben werden. Der soziologi
sche Diskurs hat seine Annahmen als Merkmal der Welt aufgefaßt (vgl. Smith 1989: 373), er hat die Zeiten bestimmter sozialer Beziehungen, Institu
tionen und Produktionsverhältnisse, in denen über Macht und Einfluß verfügt wird, als die Zeit der Gesellschaft konzeptionalisiert, diese in einem ge
sellschaftlichen „Allgemeinen“ eingeschlossen und damit zugleich andere Zeiten ausgeschlossen und verloren. In diesem Diskurs erhält eine beson
dere Zeit ihren universellen Charakter und zeitli
che Kategorien gewinnen ihre Unabhängigkeit vor der unterschiedlichen Stellung der Menschen in der Welt. Wie jedoch verhält sich diese Gesell
schaftstheorie zu „Zeit“, wenn Zeit zur Oszillation zwischen Gegensätzen (Leach 1961), bei den Nuer zur konstanten Beziehung zwischen der ersten und letzten Person in der agnatischen Lineage wird (Evans-Pritchard 1972), wenn den Fo Geschichte zur Gegenwart wird, die nicht den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart postuliert, wenn in
dische Akteure „Geschichte“ als Koexistenz- und Reabsorbtionsprozeß (Dumont 1964) konstituie
ren?
Die skizzierten Konstellationen machen deutlich, daß das (zeit)theoretische Defizit also nicht in der Problematisierung des Zeitbegriffs durch die Theorie, sondern in der Einbeziehung der Plurali
täten der sozial hergestellten Zeiten in die Theorie zu verorten ist. Der Diskurs autorisiert ein han
delndes Subjekt, macht sein Handeln sichtbar, nur um jenes sogleich wieder zum Verschwinden zu bringen, denn die im Handeln geschaffenen Zei
ten werden in der undurchdringlichen Homogeni
tät seiner Theoretisierung nicht zugelassen. Fast scheint es, daß etwas sichtbar gemacht werden
mit werde der Horizont der Zukunft geöffnet. Zeit wird in dieser Perspektive zum Ordnungsmittel, das das Auseinandertreten von „Lebenszeit und Welt
zeit“, das in der Moderne entstehende Mißverhältnis zwischen endlicher Lebenszeit und unendlichen Möglichkeiten ausdrücken soll (Blumenberg, 1986).
326 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 soll, um es nur um so gründlicher unsichtbar zu
machen und durch die ausschließenden Operatio
nen aus dem Diskurs zu verbannen. Denn die un
terschiedlichen gesellschaftlichen Zeitkonzeptio
nen gehen - trotz aller Forderungen und Ankündi
gungen - in die Theorie sozialen Handelns nicht ein. Ich bin versucht zu sagen, sie können nicht eingehen, da die theoretischen Konstruktionen nur unter der Prämisse einer Weltzeit - die sie den vielfältigen lokalen Konzeptionen aufzwingen und die für alle gleichermaßen Gültigkeit haben muß - Bestand haben können, ohne sich selbst preiszuge
ben, und weil zum anderen die immanente Dis
kursanalyse, deren Szene vornehmlich ihre eigene Diskursivität ist und die sich deshalb stets selbst er
zeugt, indem sie die Widersprüche und Antino
mien aufzulösen sucht, die sie durch die Abkoppe
lung von „Theorie“ und „Empirie“ beständig her
vorgebracht hat, sich kaum dem Leben, dem kon
kreten und widersprüchlichen Handeln der „Ak
teure“ stellt.5 * (Nicht nur) Giddens
„ . . . left the empirical to others. . . Therefore, perhaps, the most important means of going beyond Giddens is that of proceeding beyond the theoretization of practice to the practice of theory, to theory informed empirical research, to theorized historical geographies of the soci
al, to the interpretation of concrete circumstances, actu
al agents, real situations“ (Pred 1990: 30, Hvhbg. HF.).
Die Einbeziehung der zeitlichen Dimension, die den sozialen Raum erfüllt, zersetzt die machtvol
len Beziehungen, die einige Modelle von Gesell
schaft installiert haben. In dieser Perspektive wird jedoch auch der Diskurs über Gesellschaft von den unterschiedlichen Zeitkonzeptionen der Gesell
schaft betroffen. Denn der Begriff von Zeit, den der akademische Diskurs schafft und ausdrückt, kann nicht fraglos in „den Gegenstand“ einge
schrieben werden. Die (zeitlichen) Beziehungen, die die Menschen zwischen den Dingen, Vor
kommnissen, Ereignissen etc. hersteilen, lassen sich nicht reduzieren auf das irreversibel gerichtete Gleichmaß linearer Dauer oder zyklischer Wieder
kehr.
5 - und, nebenbei, diejenigen, die die beruhigende und bequeme Nähe der „wissenschaftlichen G e
meinde“ verlassen, um sich den Subjekten ihrer B e
schäftigung auszusetzen, zu „Sammlern“ von empiri
schem Material degradiert, welche dann - „early and present-day anthropology has much material to of
fer“ (Nowotny 1992:505, Hvhbg. HF.) - im gesell
schaftsfernen, aber prestige trächtigen Tun der „con
stitution of theory“ Verwendung finden können, wenn sie der taxonomischen Stringenz der jeweiligen Theorie nicht gerade zu widersprechen drohen.
Wie jedoch läßt sich dann die Forderung der Ein
beziehung von Zeit in die Theorie mit den unend
lich vielfältigen, widersprüchlichen gesellschaft
lich hergestellten Zeiten in Beziehung setzen?
Welche Zeit muß in die Theorie eingehen? Die un
terschiedlichen Zeiten, die die (lokalen) Akteure hersteilen und hergestellt haben, die Zeiten des gelehrten Diskurses? Und - wesentlich beunruhi
gender - wie ist „Theorie“ im universalistischen Anspruch noch denkbar, wenn eines ihrer konsti
tutiven Elemente, „die Zeit“, weder universali- sierbar noch reduzibel ist?
Diesen Fragen möchte ich im folgenden in mehre
ren Argumentationslinien nachgehen. In einem er
sten Schritt werde ich versuchen, über die Darstel
lung der geschichtswissenschaftlichen und anthro
pologischen Entwürfe von Zeit die - synchronen wie diachronen - Verfahren der akademischen Konstruktion von Zeit zu skizzieren. Diese Per
spektiven sollen durch das Beispiel lokaler zeit
konstituierender Praktiken in einem sizilianischen Ort erweitert werden. Ich werde also versuchen, unterschiedliche Beziehungen zwischen der aka
demischen Praxis und den praktischen lokalen Konstruktionen von Zeit herzustellen, diese Be
ziehungsebenen und -logiken zu definieren und provisorisch die Grenzen der einzelnen Felder ab
zustecken. Durch die Veränderung der Perspekti
ve und die Zusammenschau vielfältiger zeitkonsti
tuierender Praktiken, „diskursiver Formationen und Strategien“ (Foucault 1990: 48ff und 94ff.), sollen erste Ansatzpunkte dafür entwickelt wer
den, wie unterschiedliche soziale Zeiten in „Ge
sellschaftstheorie“ eingehen können.
2. Die akademischen Verfahren der Geschichtskonstitution
Zeit existiert nicht unabhängig von den Menschen und den Beziehungen, die sie alltäglich schaffen und in die sie eingebunden sind, sie gewinnt keine
„objektive“ Eigenständigkeit vor der unterschied
lichen Stellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft und dem sozialen Raum, in dem sie entworfen wird. Der Begriff „Zeit“ bezeichnet (wie der der „Geschichte“) vielmehr eine prakti
sche Synthese. Er bildet die gesellschaftliche Pra
xis, die Formation und Konstruktion von Wirklich
keit ab, durch die soziales Geschehen Bedeutung erhält, in Beziehung zueinander gesetzt, geordnet und repräsentiert wird (vgl. Elias 1984). Die histo
risch unterschiedlichen Begriffe von Zeit sind Zei
chen für das dialektische Beziehungsgeflecht, das
Heidrun Friese: Die Konstruktionen von Zeit 327 in seiner Totalität die Ränder der sozialen Ontolo
gie von „Zeit“ und das In-der-Zeit-Sein der Ge
sellschaft markiert.
Der Begriff „Zeit“ faßt also die Beziehungen, die zwischen sozial bedeutungsvollen Phänomenen hergestellt werden, zusammen. Die Konstruktion von Zeit und Geschichte ist damit zugleich die Herstellung, Selektion und Organisation von posi
tiven wie negativen Bedeutungen (vgl. Barthes 1984: 164; de Certeau 1988: 42; Sahlins 1981: 8).
Die Konstitution von gesellschaftlichen Sphären, die Ordnung gesellschaftlichen Lebens in klassifi- katorische Rubriken wie Ökonomie, Politik, Reli
gion, Alltag und die Verteilung von Bedeutungs
hierarchien im wissenschaftlichen Diskurs (die die Struktur von dem Ereignis, die Wiederholung von dem Einmaligen, die Reproduktion von der Ver
änderung, die Kontinuität von der Diskontinuität, die Dauer von dem Bruch, die Ökonomie und Politik von dem Alltag, männliches Handeln von weiblichem trennen und privilegieren), die Selek
tion der für den Geschichtsverlauf bedeutungsvol
len „Fakten“,6 die von Serien und Chronologien schließlich, sind bestimmt durch den Blickwinkel auf den Gegenstand der Untersuchung und den gegenwärtigen sozialen Ort, in dem die historio- graphische Operation sich vollzieht. Diese Selek
tion von Geschehen, die Wiedererarbeitung von Bedeutungen und Beziehungen vollzieht so zu
gleich eine doppelte und epistemologisch parado
xe Bewegung in der Zeit. Denn zum einen dient die Gegenwart der Interpretation der Vergangen
heit als Vorbild (d. h. die sozialen Bedingungen des Gegenwärtigen gehen in die Fragestellung, die Be
stimmung von Bedeutung, die Selektion der Fak
ten und die Interpretation der Vergangenheit ein), zum anderen soll die dermaßen in der Gegenwart rekonstruierte Vergangenheit dann die Gegenwart erklären.
Diese historiographisch-geschichtswissenschaftli- chen Verfahren, die spezifischen Regel folgend Bedeutung organisieren, beschreiben und (rek o n struieren historische Zusammenhänge, eine be
sondere Form von (diskursiver) Zeit. In dieser Ordnung werden die disparaten Ereignisse der Vergangenheit retrospektiv umgruppiert und zeit-
6 Zum Problem der Selektion der für den Geschichts
verlauf bedeutungsvollen Fakten, den Auffassungen über Nicht-Ereignisse, vgl. u.a. auch Veyne 1984:
18f.; Levi-Strauss 1968: 257. Zu den Modi der Ge
schichtskonstruktion vgl. allgemein White 1985.
liehe Linearität geschaffen.7 Die Logik temporaler Sukzession, in der ein Faktum nur in einer zeitli
chen Serie Bedeutung erhält -„an event is meaning
less exept in a series“ (Veyne 1984: 26) -, das Sy
stem linearer Diachronie also wird zum Garanten von „Erklärung“ und (diskursiver) Kohärenz, wäh
rend das System der Synchronie, die Gleichzeitig
keit, (gesellschaftliche) Kohärenz und Integration bezeugen soll. Die disparaten Elemente, die der (akademische) Diskurs zusammenfügt und durch Figuren der Ausgrenzung oder der Affinität in Sze
ne setzt, werden in ein System vektorialer Chrono
logie gezwungen und damit zugleich die zeitliche Homogenität der Fakten geschaffen.8 Diese diskur
sive Zeit organisiert die Kohäsion der mit Bedeu
tung versehenen Fakten, gibt ihnen ihre Einheit und erlaubt dann die Kompatibilität von Opposi
tionen. Diese zeitliche Ordnung der Welt negiert solche Ausschnitte der Vergangenheit, die sich nicht in das Bild des kohärenten und sinnvollen Ge
schichtsverlaufes fügen, und verbannt sie aus der (vergangenen und gegenwärtigen) „Wirklichkeit“.9
7 Foucault (1990:203) hat auf das Problem der Präzes
sion aufmerksam gemacht und festgestellt, daß das Auffinden des Vorhergehenden in einer Serie, „in der jede Formulierung einen festen Zeitpunkt auf
grund homogener, chronologischer Merkpunkte“
hat, und die Konstruktion einer Hierarchie von Vor
zeitigkeiten zur Analyse von Diskursen kaum geeig
net scheinen.
8 Zum Problem chronologischer Klassifikationen, vgl.
schon Bloch, M., 1953:181ff. Mit dieser Schematisie
rung sollen die differenzierten Zeitkonzeptionen der Geschichtswissenschaft - die Darstellung unter
schiedlicher Zeitläufe und -dauern, die Problemati- sierung historischer Schwellen und Umbrüche, der
„Zonen des Übergangs“ (Blumenberg 1958: 94), in denen der Geschichtsverlauf sich in einem Moment zu kristallisieren oder sich aufzulösen scheint und die das leere Kontinuum der quantifizierten Zeit spren
gen - jedoch keinesfalls negiert werden. Besonders die Arbeiten der „neuen Geschichtsschreibung“ ha
ben zur Erosion monolithischer Entwürfe von sozia
len Zeiten beigetragen. Mit der Einbeziehung unter
schiedlicher Zeitkonzeptionen wird das historische Universum so zu einem „dreidimensionalen, lücken
haften Mosaik“ (Raulff 1986:12), das sich - trotz sei
ner Komplexität - nicht zu einer einheitlichen G e
schichte zusammenfügt. Vgl. den Überblick über diese Forschungen, in: Annales, 1983:1264-1303; Le Goff/Chartier/Revel (Hrsg.) 1978; vgl. weiter u.a.
Aries 1986; Chartier 1988; Farge/Foucault 1982; Far
ge 1986; Ginzburg 1966, 1976, 1989; Le Roy Ladurie 1975; Medick/Sabean 1984; Sabean 1990.
9 Das Gesetz der Kohäsion ist, Foucault (1990:213) hat darauf hingewiesen, „eine heuristische Regel, eine Verpflichtung im Vorgehen, fast ein moralischer
328 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 Dieses historiographische Verfahren wählt in der
Vergangenheit:
„zwischen dem, was »verstanden« werden kann, und dem, was vergessen werden muß, aus, um die Darstel
lung einer gegenwärtigen Intelligibilität zu erreichen.
Was immer dieses neue Verständnis der Vergangenheit für irrelevant hält - ein durch Materialauswahl geschaf
fener Abfall, von einer Erklärung vernachlässigter Rest - , kehrt trotz allem an den Rändern des Diskurses oder in seinen Brüchen wieder zurück; »Widerstände«,
»Überbleibsel« oder Verzögerungen stören unauffällig die schöne Ordnung eines »Fortschritts« oder eines In
terpretationssystems. Es sind Fehler in der vom Gesetz eines Ortes konstruierten Syntax. Sie symbolisieren dort die Wiederkehr des Verdrängten, das heißt, die Rückkehr dessen, was in einem bestimmten Augenblick undenkbar geworden ist, damit eine neue Identität denkbar wird“ (de Certeau 1991: 14).
Die Verbindung der historischen Fakten zu einem kohärenten Geschichtsverlauf ist - implizit oder explizit - nicht selten in ein Modell eingebunden, das von der Erreichung der Ziele und Aspirationen eines (rational) handelnden Subjektes ausgeht.
Das mechanische Modell der „rational choice“
und ein Vorgehen, welches das historische Ergeb
nis für die verwirklichten Intentionen der handeln
den Menschen hält, gehen hier eine enge Verbin
dung ein.
Die gesellschaftliche Praxis und ihre Geschichte transzendieren jedoch sowohl das Bestreben des Einzelnen als auch den dermaßen konstruierten Geschichtsverlauf, der retrospektiv das „Ergebnis“
mit der Intention ineinandersetzt und damit die ver
gangene, im Hinblick auf die Folgen des Tuns unsi
chere Gegenwart des Handelnden negiert. Hand
lungen und Akte lassen sich nicht vorhersehen oder auf einer linearen Zeitachse anordnen. Es gibt die überraschende Wendung des Geschicks, das Un
vorhergesehene und Unvermutete, das aus dem unvorhersehbaren Zusammenwirken der Hand-
Zwang der Forschung: nicht unnütz die Widersprü
che zu vermehren; sich nicht bei den kleinen Unter
schieden aufzuhalten... “ Vgl. in diesem Kontext auch Kracauer (1969:167f.), der feststellt: „The gen
re can materialize only if the historian manages to di
spose of the obstacles which spell doom to his pro
ject. Of course, it is not given him to bridge, let alone eliminate, the existing temporal chasm s... All that he is able to do about these permanent disturbances is to play them down as best he can. To achieve his ends, the general historian must refuge in manipula
tive expedients and devices, permitting him to advan
ce his narrative with a somnambulist’s assurance.
They are to make us (and him) forget that the high
way of chronological time is in truth uneven and bumpy.“
lungen, den wechselseitigen Abhängigkeiten der Menschen resultiert.10 Diese Verfahren sind das Er
gebnis der logischen Verknüpfungen, des „schola
stischen Standpunktes“ (Bourdieu 1990), in dem das historische Material aus der Totalität des Ge
schehens ausgewählt, erstellt und bearbeitet wird.
Die Zeit der logisch-operationalen Verknüpfungen dieses akademischen Diskurses unterscheidet sich jedoch von der historischen Praxis.11 12 *
Der anthropologische Diskurs über Zeit und Ge
schichte ist durch einen besonderen Dualismus ge
kennzeichnet. Während struktural-funktionale Untersuchungen diachrone Analysen weitgehend ablehnten und damit fremde Gesellschaften in ei
ner zeitlosen Ewigkeit einschlossen oder - wie neoevolutionistische Ansätze und Entwicklungs
theorien, in denen die Gegenwart nicht-europäi
scher Gesellschaften die eigene ferne Vergangen
heit repräsentieren sollte - ihre Gleichzeitigkeit leugneten (Fabian 1983), so haben diachrone An
sätze der Anthropologie die Geschichtlichkeit an
derer Gesellschaften zwar keinesfalls negiert,^die
se im Umkehrschluß jedoch ebenfalls ihren Ge
schichtsphilosophien und Zeitkonzeptionen, in de
nen Zeit zum Äquivalent von linearen Prozessen und irreversibler Veränderung wird, eingeschrie
ben. Die akademische Historiographie und ihre implizite Geschichtsphilosophie expandieren auf diese Weise in den Raum und in die Vergangenheit anderer Gesellschaften. Ihre Diskurse, in denen
„Geschichte“ zum (mythischen) Äquivalent für
„Sinn“ geworden ist, negieren die Geschichtsauf
fassungen anderer Gesellschaften und ordnen de
ren Geschichte(n) implizit oder explizit ihrer Chronologie und einer linear-irreversibel geordne
ten „Weltzeit“ unter.
10 Was dann „Geschichte“ ausmacht, sind also eher die nichtintendierten Folgen von Handlungen, denn zwi
schen Intention, Handlung und ihren Folgen liegt ein Intervall, erstrecken sich die Dimensionen von Zeit (vgl. Veyne 1984: 171; Bourdieu 1980: 167ff.).
11 Bourdieu (1972, 1980) hat auf die unterschiedliche Bedeutung, die „die Zeit“ in der gesellschaftlichen Praxis und im objektivistischen Modell gewinnt, hin
gewiesen. Vgl. auch de Certeau 1988: 91; Veyne 1984: 4.
12 Diachrone Ansätze in der Anthropologie wurden be
reits von Evans-Pritchard (1961) gefordert. Zu histo
rischen Perspektiven in der Anthropologie, vgl. im Überblick, Blök 1992; siehe u.a. auch die Arbeiten von Goody 1985; Kertzer 1984; Mintz 1986; Rosaldo 1980; Sahlins 1981, 1983, 1987; Wolf 1982; für die Anthropologie des Mittelmeerraumes, vgl. den Überblick bei Davis 1977; vgl. bes. Blök 1974; Davis 1973; Schneider/Schneider 1976,1983a, 1983b.
Heidrun Friese: Die Konstruktionen von Zeit 329 Der anthropologische Diskurs über die Geschich
te ist damit in ein besonderes hermeneutisches Dilemma geraten, wenn er einerseits die Plurali
tät sozialer Geschichtskonzeptionen aufgewiesen hat, um diese andererseits in die akademische Geschichtskonstruktion einzuschließen oder sie ihr dichotomisch gegenüberzustellen. Obgleich die Anthropologie zwar die Unterschiedlichkeit sozialer Zeitkonzeptionen deutlich machen konnte, hat sie sich dennoch, so scheint es, vor ihren Ergebnissen gefürchtet, denn bislang sind solche diachronen Arbeiten, die versuchen, die Geschichtsentwürfe der untersuchten Gesell
schaften oder gesellschaftlicher Gruppen selbst zur Darstellung ihrer Geschichte zu nutzen, doch selten geblieben.13 Dieses unverständliche Ver
fahren versucht die Entschlüsselung von Vorstel
lungen, um diese dann in eine Ordnung einzutra
gen, in dem eine objektivierte Vorstellung alle anderen in sich enthält. Man wird den Verdacht nicht los, daß es offenbar eine (zeitliche) Wahr
heit geben muß, um vor der gesellschaftlichen Vielfalt die (eigene theoretische) Ordnung nicht preiszugeben.
3. D ie (zeitlichen) Logiken der Praxis und die lokale Rede
Die praktischen Konstruktionen von Zeit in einem sizilianischen Ort gewinnen ihren Rahmen aus der Geschichte des Ortes, den gegenwärtigen Erinne
rungsbildern des kollektiven Gedächtnis (Halb
wachs 1985a, 1985b; Davis/Starn 1989), der Struk
turierung und Rhythmisierung des Lebenslaufes, der Strukturierung des Alltags, seiner sozialen Be
ziehungen und der wechselseitigen Abhän-
13 V gl. dagegen Sahlins 1981, 1987; Vgl. auch Boon 1982. Die Verbindung historischer und anthropolo
gischer Perspektiven kann sich auf zahlreiche Arbei
ten stützen, siehe zusammenfassend u.a. Adams 1981: 253-267; Berdahl/Lüdtke et al. 1982; Chartier 1988: 19ff. and 95ff.; Cohn 1980, 1981: 227-253;
D avis, N. 1981: 267-275; Lüdtke 1989; Medick 1987: 76-98, Wehler 1979: bes. 743-745; zur Bezie
hung zwischen der Geschichtswissenschaft und „den anderen Humanwissenschaften“, vgl. Braudel 1980:
25-165; Stone 1981: 3-44; vgl. weiter, Levi-Strauss 1983. Zur Entwicklung interdisziplinärer Ansätze in d en Annales, vgl. u .a., Burke 1972; Duby/Lardreau 1982; Honegger 1977. Zur „Mentalitätengeschich
t e “ , vgl. die Beiträge in Raulff 1989.
gigkeiten der Menschen in den Netzwerken (Frie
se 1991).14
In den Erinnerungen und Erzählungen setzt sich die vergegenwärtigte Vergangenheit so zusammen aus der Geschichte des Landes, des Ortes, den Fa
miliengeschichten, den Lebensgeschichten und seinen Wendepunkten, den Gesten des Alltags, seiner jähen und atemberaubenden Ereignisse.
Vergangene und gegenwärtige, öffentliche und pri
vate, erzählte, dargestellte und erlebte Wirklich
keit wechseln ständig, sie verfließen ineinander und erzeugen unterschiedlich gefärbte Perspekti
ven auf die vergangene Zeit. Aus den Gesprächen und Erzählungen, den unzähligen Momenten „ne- bensächlicher“Bemerkungen, den (ununterbro
chenen Zwiegesprächen, den bedeutungsvollen Andeutungen der maliziösen Rede entwickelt sich aus dem Besonderen und dem Einmaligen der Ver
gangenheit ein bewegtes Kaleidoskop aus (Le
bens) Ausschnitten, Fragmenten der Erinnerung, die sich mit der Zeit und dem Raum verbinden.
Die entstehenden Rhythmen und Bilder der bio
graphischen Erinnerung, geschichtlicher Episo
den, der aus ihrem Zusammenhang gerissenenen Zitationen des vergangenen und gegenwärtigen
14 Die - im folgenden sehr stark verkürzte - Darstel
lung geht zurück auf meine Feldforschung und Ar
chivarbeit, die Beobachtungen und die unzähligen Dialoge, die ich in den Jahren 1986/87 und 1989 mit Bewohnern des sizilianischen Ortes Racalmuto ge
führt habe, um die „Ordnungen der Zeit“, ihre un
terschiedlichen Praktiken, die alltäglich Zeit schaf
fen und repräsentieren, kennenzulernen. Die Be
deutung der Begriffes „Zeit“ ist kommunizierbar, doch kaum in einer neutralen Form positiver Objek
tivität: „Zeit“ ist kein Untersuchungsobjekt. Ich hat
te keine Fragebögen, kein Frageschema, denn das Fragen danach, was Zeit sei, ist sinnlos. D iese Dar
stellung, die hier auf die diachrone Interpretation der heterogenen „Zeiten des Alltags“, der Aus
tauschsysteme der Minen-, Agrar-, und Hauswirt
schaft, der Verwandtschafts-, Freundschafts-, und der klientelären Beziehungen, der Rhythmisierun
gen des Alltags, der generationalen Beziehungen, sowie auf die Zeiten des Lebenslaufes verzichten und sich auf die Erinnerungen an die lokale Vergan
genheit beschränken muß, ist Teil meiner Untersu
chung über „Ordnungen der Zeit - Zur sozialen Konstitution von Temporalstrukturen in einem sizi
lianischen Ort“ (Friese 1991). Ermöglicht wurde die Arbeit - ich habe sie als Leidenschaft und unendli
ches Privileg erfahren - durch Stipendien der KLS- Stiftung, der Wenner-Gren Foundation for Anthropo
logical Research und des Berliner Programms zur Frauenforschung.
330 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 Lebens, die sich mit dem Weltgeschehen ver
knüpfen und durch den Ort und die Rede selbst zusammengehalten werden, erscheinen dann ebenso zufällig wie zwangsläufig. Sie bezeugen die Singularität der Geschichten ebenso wie ihre Wiederholung, das Irreguläre und das Partikulare ebenso wie das Kollektive, das Öffentliche wie das Private.
„Ja, als die vorbeikamen, aber die kommandierten hier nicht, die, die Deutschen, es kommmandierten die an
deren, die anderen, die Amerikaner. . . es kamen die aus England, na, die siegreiche Mannschaft eben, die mar
schierten, was weiß ich und dann kam die Unterstüt
zung . . . in den Schulen, und die mit den Pensionen, also ich kam dann an mit meinen drei Kindern, jeden Tag, je
den Tag machten die Suppe, Bohnen und zarche. Die Amerikaner, das haben die Amerikaner gebracht. Da
mit wir nicht rebellieren, sagen die, die Unterstützung.
Allen, deren Männer in Gefangenschaft waren, und der Hunger h ie r ... und sie verteilten jeden Tag, jeden Tag, Suppe, Suppe, ein halbes Kilo Brot und was weiß ich noch, ein halbes Kilo Brot gaben sie pro Kopf, ich hatte drei Kinder, und sie gaben 120 Gramm B rot. . . Was für Zeiten! Was für Hundszeiten!“
Mit der Erinnerung an die tägliche Organisation des Überlebens wird die Landung der Alliierten in Sizilien im Jahre 1943 rekonstruiert, mit der Ein
richtung des Alltags, seinen Zwischenfällen und seinen Gewohnheiten, seinen Personen, seinen außergewöhnlichen oder prekären Augenblicken macht man die Rechnung der Geschichte.
Die Menschen erinnern nicht die Geschichte, son
dern die besonderen oder gewöhnlichen Ereignis
se des Alltags, in denen sich beständig das private und das öffentliche Schicksal, die eigene Biogra
phie mit dem historischen Ereignis kreuzen, sie zi
tieren winzige Ausschnitte des Geschehens, die jäh auftauchen und verschwinden. Diese Geschichten lassen die Räume des Ortes real werden, sie ma
chen seine Geschichte aus. Verschrobene Käuze, politische Hasardeure, Kokotten, jeder taucht in den winzigen Bruchstücken auf und verschwindet wieder. Die Anekdoten führen durch das Univer
sum menschlicher Rollen, in dem menschliche Tu
genden und Laster, die ewigen Figuren - der Gei
zige, der Tor, der Frauenheld, der Bigotte, der Mächtige - und ihre Bestimmung vorgeführt wer
den. Zum Symbol für eine Haltung, der es ratsam scheint, immer mit der Mehrheit zu gehen, ist die Figur des Gemeinderats geworden, der in den Ratsversammlungen immer nur halb saß und bei Abstimmungen gefragt werden mußte, ob er nun sitzt oder steht. „Du stellst dich gegen mich?“, so wird der Sekretär der Kommunistischen Partei zi
tiert, als einer seiner Pächter auf der gesetzmäßi
gen Verteilungsquote der Ernte beharrte, und man macht damit deutlich, daß schöne abstrakte politi
sche Ideen dort an ihre Grenzen stoßen, wo eigene konkrete Interessen zu wahren sind.
„ . . . Die Handelsbeziehungen haben sich, verglichen mit der jüngeren Vergangenheit, seit den alten Zeiten unglaublich verändert. Früher lebten die Leute nur vom Land, weil es keine anderen Aktivitäten gab;. . . Früher gab es wenige Produkte, soviele Sachen wie heute brauchte man n ich t... Es gab keine mortadelle, Schin
ken, Salami so wie heute, aber dafür gab es Käse, und aus Schafsmilch machte man ricotta. .. Früher gab es viele Bettler, so um die dreißig, die Ärmsten waren das, die um Almosen baten, um zu überleben, denn es gab noch keine Pensionen vom Staat. . . Fleute ist das nicht mehr so, denn auch wenn die Leute nicht arbeiten, sorgt der Staat für sie mit Alterspensionen oder Pensionen wegen Arbeitsunfähigkeit oder Krankheit. In den Nach
kriegszeiten lebte man in unserem Ort auch dank der Minen, die vielen Leuten Beschäftigung gab en ... Frü
her in der Nachkriegszeit waren die Beziehungen ohne Zweifel besser. . . heute hingegen regiert ein bißchen das Unverständnis und einer ist gegen den anderen. . . die Leute wollen sofort bedient werden, weil sie immer in Eile sind. . . Früher gingen die Leute immer in ein G e
schäft, denn es gab mehr Treue. . . “
Der Wandel der ökonomischen Sphären des Ortes, von der Produktion zum tertiären Sektor, zum wohlfahrtsstaatlichen „Assistenzialismus“, in des
sen Austauschsystemen staatliche Transferleistun
gen klientelär vermittelt werden, die Krise der Salz- und Schwefelminen seit den 50/60er Jahren dieses Jahrhunderts und die veränderte Struktur der Landwirtschaft - der Getreideanbau wurde in den 70er Jahren durch die Kultivierung von Wein
trauben weitgehend verdrängt - wird von dem Le
bensmittelhändler über die Konfrontation der (Verbrauchs) Gewohnheiten der Menschen zwi
schen früher und jetzt deutlich gemacht.
Die Vergegenwärtigung der vergangenen Ge
schichte wird zur Rede über die radikale Verände
rung:
„ . . . also die da, die Herren beispielsweise nutzten den Arbeiter aus, er brachte ihnen keine Brotzeit, nur ein bißchen Zwiebel, oder Oliven, die so scheußlich waren, daß sie sie nicht mal den . . . die sie hätten wegschmei
ßen müssen, und das ist doch eine Art, den Arbeiter zu mißachten, dem Arbeiter gings immer schlecht, heute hingegen bittet der Herr den Arbeiter, das Land zu bear
beiten. Heute sagt der Arbeiter: »wenn du kommst und mich mit dem Auto hinfährst, mir die Brotzeit bringst, den Wein«, na gut behandelst, dann komme ic h ... der Herr muß das machen, weil die Zeiten sich geändert ha
ben, er muß einwilligen, warum? Um das Land nicht un
bebaut zu lassen, so haben sich die Dinge zur anderen Seite gewendet. “
Heidrun Friese: Die Konstruktionen von Zeit 331 Die Gegenwart wird der Witwe eines Hirten zur
vollständigen Inversion der Vergangenheit, die Herrschaftsverhältnisse haben sich (in diesem Cli
che) verkehrt, denn der Herr bittet den Bauern, die Felder zu bestellen, die Kinder sind einem Landarbeiter zu „feinen Herren“ geworden.
„Sogar ein Vater mit viel Land läßt es unbebaut, weil der Sohn nicht auf dem Land arbeiten will, sie sind nicht daran gewöhnt, sie wollen diese Gewohnheit nicht, sie scheint ihnen zu schwer, sie wollen saubere Arbeit, sie wollen über die piazza schlendern, schreiben, kurz und gut, saubere Arbeit, sich einrichten wie die Herren.“
Im Vergleich und in ihrer dichotomischen Bezie
hung gewinnen Gegenwart und Vergangenheit ihre Qualität.
„Die Zeit, die man verlobt war, früher war sie kurz. Ein, zwei M on ate... eine so lange Heirat wie heute, nein.
Eine so lange Verlobungszeit wie heute, nein. Das machte man nicht, man war eifersüchtiger, hat mehr aufgepaßt auf die Mädchen, damit sie nicht rausgingen.
Heute nicht mehr, heute gibt es mehr Freiheit. Wie es heute jeden Sommer zugeht, diese Freiheiten. Die Tochter geht immer raus. Aufmerksam muß man sein, auf sie aufpassen, aber nicht so wie früher. Eine Tochter durfte in Begleitung der Mutter, des Bruders, der Schwester, aber nicht allein, aber eine signorina, nein.
Vater und Mutter suchten die Frau, die Verlobte, den Verlobten aus, die sagten, »ein anständiger Junge«...
Heute hingegen sind die Frauen anders, heute spazieren sie mit den Männern herum. Vater und Mutter haben nichts mehr zu sagen. Früher hingegen, noch vor eini
gen Jahren. . . Die Eltern sagten, was gemacht wird, frü
her, ja. Heute ist die signorina frei, sie spaziert mit ihrem Verlobten herum. . . “
In ihrer dichotomischen Beziehung gewinnen Ge
genwart und Vergangenheit ihre Qualität, und in dieser Gegenwart beklagen Vater und Mutter hier den Machtverlust des Alters. Nichts, so scheint es, ist seit den „alten Zeiten“ unverändert geblieben, alle Gewohnheiten haben sich seither gewandelt.
Dann bereitete man den Boden vor, den Boden, dann die Bohnen, Weizen, mit den Händen, früher mit der Si
chel, du weißt schon, die Sichel. Heute macht man das hier nicht mehr, weil es die Dreschmaschine gibt, wäh
rend man früher alles mit der Hand machte, mit der Hand, mit der Sichel. . . “
Nichts hält dem Vergleich stand. Die Gesten und Techniken des Alltags, die Moral, die Gebräuche und Gewohnheiten, alles hat sich seit „damals“,
„jenen Zeiten“, den „Zeiten der Alten“ gewan
delt: „das macht man hier nicht mehr.“
In dem Gegensatzpaar „früher“ und „heute“ ist die Zwischenzeit verschwunden, sie erscheint un
wichtig und hat sich verflüchtigt. Die Erinnerung sucht nicht nach den Abfolgen der verursachenden
Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Ge
genwart, der Beziehung zwischen „früher“ und
„später“, von dem, „was man früher machte“, zu dem, was „heute üblich ist“, die Menschen zitieren Geschichte(n), einzelne Bilder, Bräuche und Ge
wohnheiten, Personen und Ereignisse, die, aus dem historischen Zusammenhang gerissen, die Vergangenheit mit der Gegenwart vergleichen.
Die Vergangenheit repräsentiert Abwesenheiten, eine Differenz, nämlich das, was gegenwärtig fehlt, und erst durch den Vergleich und die Op
position zur Vergangenheit wird die Gegenwart zur Gegenwart. Zeit zerfällt in gegensätzliche, iso
lierte, sich selbst genügende Zeitabschnitte, sie zerbricht und „schlägt um“. In der Disjunktion, der „Diskontinuität wiederkehrender Gegensät
ze“, wird Zeit als Folge „von Alternationen und Wendepunkten“ (Leach 1961: 404) entworfen.
Während die Erinnerungen auf der einen Seite
„Zeit“ zur Beziehung zwischen Veränderungen machen, so betont die komplementäre Rede die Nicht-Veränderung in der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die kontinuierli
che Wiederkehr des Ewig-Gleichen oder die be
ständige Dauer einiger Prinzipien des Zusammen
lebens und vernichtet damit die Differenz zwi
schen gestern und heute.
„ ... und wenn einer keine Unterstützung hat, ich habe einen Antrag gestellt und man hat mich abgewiesen.
Was soll man machen. Du mußt wissen, daß Fisch stinkt, das sind alles Geschäftemacher und wenn einer keine Unterstützung hat, das ist die Mafia und das ist so und wird so bleiben. . . “
Dieser Rede hat das gegenwärtige Geschehen, Er
eignis, Vorkommnis offenbar immer schon ein Vor
bild, es wiederholt eine exemplarische Geste, ei
nen Akt oder eine Handlung und läßt die Vergan
genheit, die Gegenwart, die Zukunft ununter
scheidbar werden (vgl. Eliade 1986; Behrend 1987: 137). Mit der Wiederholung, wird die Wirk
lichkeit wirklich und in ihrer „Verdoppelung“ deut
lich und erkennbar. Der gegenwärtige Brauch, in dem die Menschen sich wiedererkennen, das, was man gewöhnlich macht, wird niemals erklärt. Die gewohnte Routine und alltägliche Praxis verwei
sen auf sich selbst und dienen als vorrangige Erklä
rung des Handelns. Mit dem Verweis „das hat man hier immer schon so gemacht“ wird die Gegenwart legitimiert und deutlich, indem ihr zeitliche Tiefe verliehen und dem Handeln und seinen Prinzipien Dauer zugesprochen wird.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden ineinandergesetzt, sie spiegeln sich und restituie
332 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 5, Oktober 1993, S. 323-337 ren dann die zerbrochenen und voneinander ge
trennten Momente der Zeit. In diesem Verfahren synthetisieren die Menschen vergangenes Gesche
hen nach Kategorien, die - wie die Anekdoten - das Paradigmatische, das Exemplarische festhal- ten, um ihnen im Angesicht beständiger Verände
rungen andauernde Bedeutung für das soziale Le
ben einzuräumen.
„Kurz und gut, vor allem halfen sich die Verwandten, man verschaffte dem Sohn, dem Bruder einen P o sten ... was willst du, diejenigen, die Verwandte in den Minen hatten, haben versucht, ihnen zu helfen, sie zu beschützen. So ist die Welt, wenn man sich unter Ver
wandten nicht hilft. . . ! “
Die Verpflichtungen des gegenseitigen Aus- tauschs, die die Menschen durch die Beziehung von Leistung und Gegenleistung (zeitlich) verbin
den, die verwandtschaftlichen Obligationen sind, wie die Asymmetrie in sozialen Beziehungen, von andauernder Bedeutung, sie sind die ewigen Kon
stanten der Geschichte.
Die in der gegenwärtigen Realität gespiegelte Ver
gangenheit bindet die Zurückweisung von gesell
schaftlichen Veränderungen in einen ontologi
schen Diskurs ein, der ebendiese bestreitet, indem er Dauer zugleich in stets wiederkehrenden Ge
gensätzen entwirft: das Gegeneinander von Arm und Reich, Herr und Knecht, die antagonistischen Beziehungen zwischen den Familien und den Frak
tionen, die sie bilden, Aufstieg und Niedergang, Blüte und Verfall. Die Veränderungen werden ver
nichtet, indem man in der Dauer der Zeit die ewig gültige Moral der Geschichte, die „ewige“ conditio humana erkennt: „so ist die Welt und so wird sie bleiben.“15
Die soziale Organisation des historischen Wissens, die Erinnerungen an vergangene Zeiten sind poli
tisch. Die Politik der Erinnerung ist Teil gesell
schaftlicher Hierarchien und der Positionen der Einzelnen in den Netzwerken, und die bedeu-
15 Ldvi-Strauss hat eine Unterscheidung zwischen „hei
ßen“ und „kalten“ Gesellschaften getroffen und be
merkt, daß Gesellschaften offenbar unterschiedlich auf die allgemeine Bedingung ihrer Geschichtlich
keit reagieren. Während einige Gesellschaften diese akzeptieren und ihr eine fundamentale Bedeutung zumessen, verweigern sich andere ihr mit großer Hartnäckigkeit und versuchen, Gegebenheiten ihrer Gesellschaft, die sie für fundamental halten, so dau
erhaft wie möglich zu machen (Levi-Strauss 1968:
234). Bereits Nietzsche hat „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1980: 209-287) gegeneinan
der abgewogen und festgestellt, daß ein „Übermaß der Historie dem Lebendigen schade“ (1980: 219).
tungsvollen Zitationen der Vergangenheit werden gebraucht, sie beanspruchen für die Gegenwart normative und legitimatorische Kraft, sie verfol
gen einen praktischen Zweck.16 Den organisierten Spezialisten der Erinnerung (lokale Gelehrte, Folkloregruppen) kommt dabei eine besondere Funktion zu, diese kulturellen Unternehmer ver
mitteln ökonomische Ressourcen und gesellschaft
liche Diskurse.
„ . . . Den Konvent hat man restauriert und machte das Rathaus daraus. Neben dem Rathaus entstand auch die Polizeikaserne, das Polizeirevier. Die Grundschule, der Friedhof, das T heater... “.
Die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, „die Zei
ten der Matrona“ sind in der Erinnerung der Nachkommen der einstigen Elite zu den goldenen Jahren Racalmutos geworden, und der Protagonist dieser heroischen Blütezeit - gegen die man den gegenwärtigen Verfall des Ortes stellt -, der Bür
germeister Matrona, wird in den Erinnerungen zum uneigennützigen Promotor der „zivilisatori
schen“ Errungenschaften. Obgleich Matrona dem Ort nur einige Jahre Vorstand, ist sein Name mit der Konsolidierung des „imprenditorialen“ Bür
gertums, der expansiven Phase der Ökonomie des Ortes und wirtschaftlicher Prosperität durch die Schwefelausbeute verbunden. Die Zugehörigkeit zur Elite des Ortes bestimmte sich durch den Zu
gang zur wichtigsten ökonomischen Ressource, durch den Besitz und die Kontrolle von Grund und Boden, von dem der Großteil der Bevölkerung ausgeschlossen war. Diejenigen, die in dieser Ver
gangenheit gelitten haben, finden selten Grund, sich ihrer schwärmerisch zu erinnern: „Wir haben gelebt wie die Tiere“.
Es gibt unterschiedliche historische Wahrheiten, die durch die unterschiedliche Verteilung des Wis
sens bedingt sind. Die Hierarchisierung der sozia
len Beziehungen spiegelt sich in der Stratifikation des historischen Wissens wider, die einigen das öf
fentliche Wort erteilt und andere ausschließt, die einigen die Teilhabe an der lokalen Geschichte ge
16 Die Politik der Erinnerung schafft die mächtigen Be
ziehungen zur Vergangenheit : Während das weite ge
nealogische Gedächtnis der Elite die entfernte Ver
gangenheit erinnert, um die Stellung ihrer Familien in der Tiefe der Zeit zu verankern und gegenwärtige Stellung zu legitimieren, so haben diejenigen, die dieser Schicht nicht angehören, im allgemeinen eine geschichtliche Erinnerung, die über die zweite as- zendierende Generation, also die Generation der Großeltern, nicht hinausreicht.
Heidrun Friese: Die Konstruktionen von Zeit 333 stattet und anderen verweigert. Eingebunden in
unterschiedliche Formen von Macht entwickeln die Menschen verschiedene Wahrheiten, die sich in ihrem Gegenstand voneinander abheben, in de
nen die nebeneinander existierenden Geschichten sich aber auch durchdringen und der Modus der Erinnerung und das „System“, das die Verteilung der historischen Aussagen bestimmt, gemeinsame Berührungspunkte schaffen. Diese entspringen den praktischen Logiken, die jedoch keinesfalls neutral sind, sondern durch ihren ständigen Ge
brauch ihre eigene Bestimmung haben.
In den lokalen Konstruktionen stehen sich daher ganz unterschiedliche und sich widersprechende Entwürfe von Zeit gegenüber, die unterschiedli
che Geschichten, Fragmente, Anekdoten, Namen, Räume, Genealogien zitieren und Geschichte als ein Sammelsurium kaleidoskopischer Veränderun
gen erscheinen lassen. 17Die aus ihrem Kontext ge
rissenen historischen Zitationen können, aber müssen sich nicht zu einem kohärenten linearen System finden. Durch die Koexistenz von ver
streuten, heterogenen und unvereinbaren Aussa
gen werden Zeit und Geschichte dann nicht ledig
lich als homogenes und qualitätsloses Kontinuum, als linearer, kohärenter Prozeß geschichtlicher In
terdependenzen (der in der Gegenwart sein vor
läufiges Ende findet) begriffen, sondern durch ein vielfältiges System von statischen Augenblicken, dem Anfang und dem Ende, dem „Einst“ und dem „Jetzt“, durch den Rhythmus von Lücken und Augenblicken hergestellt (vgl. Bachelard 1989a: IX; 1989b) und als diskontinuierlich, oszil
lierend und alternierend verstanden. Geschichte wird zur diskontinuierlichen - nicht immer kausa
len - Abfolge von Situationen und Zeiträumen, die unterschiedliche oder gleichbleibende Formen annehmen. In diesen (quasi-„historizistischen“) Bildern ist jede Situation eine Wesenheit mit eige
nem Anspruch, die nicht zwangsläufig aus der vor
hergehenden abzuleiten ist, und im Gegensatz zwischen „früher“ und „heute“ ist ein Sprung er
forderlich, um den Abgrund zwischen den Zeiten zu überwinden.
Die Zeiten entfalten sich in der Verkettung der un
zähligen Zitationen, die unterschiedliche Ge
schichten entstehen läßt. Es entwickelt sich ein Denken, das parallel zur wissenschaftlichen Ver
nunft sich vollzieht und seine Themen entfaltet, Antworten auf andere Fragen sucht. Und: Die Menschen am Ort finden unterschiedliche Wahr
17 Benjamin (1983) hat das „Passagen-Werk“ nach die
sen Prinzipien organisiert.
heiten für sich, für ihre Gegenwart, um sie an ihre Vergangenheit und Zukunft zurückzugeben.
4. Ausblick: Die Ordnung der Zeiten In den lokalen Zeitkonstruktionen haben wir es mit Praktiken zu tun, die in ihrer Struktur und den Benutzungsregeln von der akademischen Rede ab
weichen und die (theoretischen) Kohärenzen zer
fasern, wenn sie historische Geschichtsbilder ent
werfen und Fragmente zitieren, die sich gegensei
tig fremd sind oder sich ausschließen und die nicht in die Einheitlichkeit einer logischen Struktur li
nearer Zeit und kontinuierlicher historischer Ent
wicklung eintreten können. Im widersprüchlichen Beziehungsgeflecht der lokalen Zeiten und ihrer Repräsentationen gehen die Konzeptionen von Geschichte, die alltägliche Praxis der sozialen Be
ziehungen, die Strukturierung des Lebenslaufes historisch unterschiedliche Konstellationen ein.
Diese Zeiten sind, wie das gesellschaftliche Leben selbst, widersprüchlich, sie entfalten sich aus un
terschiedlichen Logiken, sie verändern sich. Sie bestehen nebeneinander, sie durchdringen sich oder stehen sich antagonistisch gegenüber und las
sen Vorstellungen einer vorherrschenden Zeit zur Illusion werden.
Die Bindung des Begriffes von „Zeit“ an die Viel
falt historischer Praxis erlaubt über die vorherr
schenden Zeittheorien, die unterschiedliche ge
sellschaftliche Zeitkonzeptionen objektivieren und distanzierend in entwicklungstheoretische Klassifikationsschemata (linear, zyklisch, modern oder traditional) einschließen, hinauszugehen und ein differenzierteres Bild der sozialen Konstitution von Zeit und ihrer politischen Ökonomie zu ge
winnen, in der gleichzeitig Kontinuität und Verän
derung, Dauer und Bruch, Zyklizität und Lineari
tät, die gegenwärtigen Horizonte von Vergangen
heit und Zukunft miteinander verbunden oder in ihrer Beziehungslosigkeit belassen werden. Diese Pluralisierung und Subjektivierung von Zeit - die dem historisch/sozialwissenschaftlichen Diskurs zunächst ungewöhnlich und fremd erscheinen mag - löst die Vertrautheit einer „objektiven“, einheit
lichen Zeit auf und versucht die Einbettung unter
schiedlicher Zeiten in unterschiedliche Gesamt
heiten, die Beschreibung lückenhafter Folgen, he
terogener Geschichten, die sich nicht immer ver
binden lassen und in einer homogenen, kohären
ten Form zusammenfinden oder „durch die Zeit“
hindurch eine Art großen ununterbrochenen Text simulieren können (vgl. Foucault 1990: 57). Durch