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Deutschland ist eins: vieles

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Academic year: 2022

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Beziehungen und Nachhaltigkeit sowie Ostdeutschlandforschung.

Raj Kollmorgen ist Soziologe und Professor für Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Dr. phil., ist Historiker.

(4)

Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.)

Herausgegeben im Auftrag der Kommission

»30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«

Deutschland ist eins: vieles

Bilanz und Perspektiven

von Transformation und Vereinigung

Campus Verlag

Frankfurt/New York

(5)

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Der Text dieser Publikation wird unter der Lizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) veröffentlicht. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

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ISBN 978-3-593-51436-9 Print ISBN 978-3-593-44819-0 E-Book (PDF) DOI 10.12907/978-3-593-44819-0

Copyright © Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2021 / Erstveröffentlichung durch Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021 Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Satz: publish4you, Engelskirchen Gesetzt aus der Garamond

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Beltz Grafische Betriebe GmbH sind ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985-2104-1001).

Printed in Germany www.campus.de

und Deutsche Einheit« im Rahmen ihrer Tätigkeit erstellt und für diese Publikation überarbeitet wurden.

Gedruckt im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat

(6)

Vorwort . . . 13

Revolution, Vereinigung, Transformation – Wege ihrer Erforschung und Reflexion . . . 15

Judith C. Enders, Raj Kollmorgen und Ilko-Sascha Kowalczuk 1. Gesellschaftstransformation als sozialer Wandlungstyp, Postsozialismus und (ost-)deutscher Fall . . . 19

1.1 Gesellschaftstransformation als sozialer Wandlungstyp . . . 19

1.2 Postsozialistische Gesellschaftstransformationen . . . 22

1.3 DDR/Ostdeutschland . . . 24

2. Transformationsforschung als theoretisch-methodologische Herausforderung . . . 28

2.1 Gesellschaften im Fluss . . . 28

2.2 Organisierte Akteure und formale Institutionen im Umbruch . . . 29

2.3 Die komplexe Kontextualität und Dimensionalität holistischer Gesellschaftstransformationen . . . 30

2.4 Bedeutung und Gehalt von Transformationspfaden . . . 32

2.5 Interdisziplinäres, vergleichendes und rekombinierendes Theoriedesign . . . 33

3. Ostdeutschland- und Vereinigungsforschung zwischen 1989/90 und heute: Formierungen, Defizite und Reorientierungen . . . 34

3.1 Die ostdeutsche Transformation als bestuntersuchter Einzelgegenstand in der Geschichte der bundesdeutschen Sozialwissenschaft . . . 35

3.2 Der ostdeutsche Sonderfall und die Etablierung des westdeutschen Fluchtpunktes . . . 38

3.3 Die westdeutschen Eliten der Transformationsforschung und der Platz der Ostdeutschen . . . 39

3.4 Dominierende Großtheorien, polare Diskurs- und Erklärungsachsen sowie transformationstheoretische Defizite . . . 40

(7)

3.5 Delegitimierung und Marginalisierung der ostdeutschen

Transformationsforschung . . . 46

3.6 Eine neue Transformationsforschung? Zur Reproblematisierung und Retheoretisierung Ostdeutschlands nach 2015 . . . 46

4. Warum Transformation nicht gleich Transformation ist – eine soziokulturelle und psychosoziale Generationenperspektive . . . 51

4.1 Wahrnehmung von Transformationserfahrungen verschiedener ostdeutscher Alterskohorten . . . 52

4.2 Unterschiedlich und doch in einen Topf geworfen – und wie weiter? . . . 54

5. Qualmende Geschichte. Die deutsche Einheit und die zeithistorische Forschung . . . 56

6. Die Beiträge des Bandes: Entstehung und Themen . . . 61

7. Ideen zur Zukunft der Transformations- und Vereinigungsforschung . . . . 65

Literaturverzeichnis . . . 67

30 Jahre Transformation und Vereinigung – Forschungsstand, gesellschaftliche Problemlagen, Gestaltungsperspektiven . . . 77

Wolfgang Schroeder und Daniel Buhr 1. Einleitung . . . 77

2. Transition – Transformation – Posttransformation . . . 80

2.1 Die Wiedervereinigung und ihre Ursachen . . . 80

2.1.1 Politische Ursachen . . . 81

2.1.2 Ökonomische Ursachen . . . 83

2.1.3 Soziale und Psychologische Ursachen . . . 84

2.2 Phasen des Wandels und mögliche Alternativen . . . 86

2.2.1 Transition . . . 87

2.2.2 Transformation . . . 88

2.2.3 Posttransformation . . . 91

2.3 Folgen: Konvergenz und Disparität . . . 93

3. Vereinigung durch Institutionentransfer: Pfadabhängigkeit und Reformfähigkeit . . . 99

3.1 Westgesteuerter Transformationsprozess . . . 99

3.2 Institutionenvertrauen . . . 102

3.2.1 Was lässt sich daraus ableiten? . . . 110

3.3 Exemplarische Transformationsprozesse . . . 111

3.3.1 Tarifautonomie . . . 111

(8)

3.3.2 Gesundheitswesen . . . 122

4. Gegenwärtige Transformation . . . 131

4.1 Erfahrungen in Ost und West . . . 132

4.1.1 Braunkohlewirtschaft . . . 133

4.1.2 Solarindustrie . . . 138

4.1.3 »Subjektive« Umbrucherfahrungen . . . 139

4.2 Zukünftige Herausforderungen . . . 142

5. Fazit mit Handlungsempfehlungen . . . 145

5.1 Empfehlungen für Politik und Wissenschaft . . . 148

Literaturverzeichnis . . . 150

Integration und Identität – Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung . . . 159

Tom Thieme und Tom Mannewitz 1. Einführung . . . 159

1.1 Bevölkerungsentwicklung und Zusammengehörigkeitsgefühl . . . 159

1.2 Deutsch-deutsches Zusammenleben: Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl . . . 160

1.3 Ostdeutsche Repräsentation in den bundesdeutschen Eliten: Realität und Wahrnehmung . . . 160

1.4 Neue Herausforderungen – gefühlte Unsicherheiten? . . . 161

2. Bevölkerungsentwicklung und Zusammengehörigkeitsgefühl . . . 162

2.1 (Binnen-)Migration seit 1990 . . . 162

2.2 Konkurrierende Identitäten: Lokal, regional, national, global . . . 169

2.3 Bevölkerungsbewegungen und konkurrierende Identitäten: Ein Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? . . . 176

3. Deutsch-deutsches Zusammenleben: Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl . . . 181

3.1 Lebenswirklichkeit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft . . . 181

3.2 Lebensgefühl in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft . . . 192

3.3 Wie viel »innere Einheit« braucht es? . . . 205

4. Ostdeutsche Repräsentation in den bundesdeutschen Eliten: Realität und Wahrnehmung . . . 208

4.1 Repräsentation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft . . . 208

4.2 Einstellungen zur und Folgen der mangelnden Repräsentation von Ostdeutschen . . . 215

4.3 Eliten »zweiter Klasse«? . . . 219

(9)

5. Neue Herausforderungen – Gefühlte Unsicherheiten? . . . 222

5.1 Betroffenheit durch Globalisierung, Mobilität, Klimawandel und Individualisierung . . . 222

5.2 Einstellungen zu Globalisierung, Mobilität, Klimawandel und Individualisierung . . . 233

5.3 Vorreiter Osten? . . . 241

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . 244

Identitäten und Anerkennungen im Vereinigungsprozess . . . 253

Michael Lühmann 1. Vorwort . . . 253

2. Fragestellungen . . . 255

2.1 Dimensionen ostdeutscher Identitätskonstruktion . . . 255

2.2 Potenziale von und Gefährdungen durch ostdeutsche Identitätskonstruktion . . . 256

2.3 Regionale und generationelle Differenzen. . . 256

3. Der Blick auf Ostdeutschland – Zuschreibungen, Konjunkturen, Befunde . . . 257

3.1 Zuschreibungen . . . 257

3.2 Konjunkturen und Befunde der Forschung . . . 262

3.2.1 Die sozialwissenschaftliche Debatte . . . 263

3.2.2 Die zeithistorische Debatte . . . 265

4. Identitäten und Anerkennungen im Einigungsprozess . . . 268

4.1 Kollektive ostdeutsche Identität? . . . 270

4.2 Gefährdete Identität? . . . 277

4.3 Gefährdende Identität? . . . 281

4.4 Brüche und Brechungen ostdeutscher Identität . . . 285

4.4.1 Migration und Region . . . 285

4.4.2 Region und regionale politische Kultur . . . 288

4.4.3 Generation(en) . . . 290

4.4.4 Integration . . . 296

4.5 Vom Umgang mit gefährdeter und gefährdender Identität . . . 298

4.5.1 Opferstadt ohne erinnerte Täterbiografie: Dresden . . . 298

4.5.2 Auswege – Ein kurzer Blick in ostdeutsche Gegenwehr . . . 301

(10)

5. Identifikation von Blindstellen und Kritik . . . 304

5.1 Thematische Blindstellen . . . 305

5.1.1 Auf die Zivilgesellschaft schauen . . . 305

5.1.2 (Post-)Migrantische Perspektiven einbeziehen . . . 306

5.1.3 Frauen verändern die Republik (und die Sicht) . . . 307

5.1.4 Aufarbeitung, anders . . . 307

5.1.5 Der Westen und der Osten . . . 309

5.2 Theoretisch-konzeptuelle Erweiterungen . . . 310

5.2.1 Lokale und regionale politische Kultur vs. ostdeutscher Monolith . . . 310

5.2.2 Erinnerungskultur . . . 311

5.2.3 Transformationsgeschichte(n) und Meistererzählungen . . . 313

5.2.4 Ost und West (häufiger) transzendieren . . . 315

5.2.5 Den »Westen« wahrnehmbar machen . . . 316

5.2.6 Ostdeutsche Lösungen für ostdeutsche Probleme (erforschen) . . . 318

5.2.7 Den westlichen Export des Rechtsextremismus erforschen . . 319

5.2.8 Das lange Nachleben des »Antifaschismus« und des »Antikommunismus« . . . 319

5.2.9 Methodisches . . . 320

5.3 Diskurse . . . 321

5.3.1 Die Identitätskonstruktion dekonstruieren und rekonstruieren . . . 321

5.3.2 Der Ostdeutsche als »das Andere« . . . 324

5.3.3 Von der Spezifik und dem Wir . . . 325

5.3.4 Verantwortung statt Infantilisierung . . . 326

5.3.5 Von der Aufarbeitung zur Verarbeitung . . . 327

6. Vorschläge für die Zukunftsgestaltung . . . 328

6.1 Dialog, aber anders . . . 331

6.2 Strukturen . . . 332

6.3 Symbolische Korrekturen . . . 333

6.4 Ostdeutscher Erfahrungsraum statt ostdeutscher Identität . . . 334

7. Nachwort . . . 338

Literaturverzeichnis . . . 339

(11)

Die konstruierte Ost-West Spaltung – Akteure und Kulturen

der Gesellschaftsgestaltung . . . 361

Oliver Hidalgo und Alexander Yendell 1. Einleitung . . . 361

2. Theoretische Annahmen . . . 363

2.1 Die Social Identity Theory . . . 363

2.2 Relative Deprivation . . . 366

2.3 Autoritarismus . . . 371

2.4 Terror Management Theory . . . 373

2.5 Kontakthypothese . . . 374

2.6 »Anywheres« und »Somewheres« als Akteure der Transformation? . . 375

2.7 Demokratie, Revolution und Populismus als umstrittene Begriffe . . 376

3. Forschungshypothesen und Forschungsdesiderate . . . 379

4. Ergebnisse der empirischen Analyse . . . 383

4.1 Verbundenheit mit der DDR, Anerkennungsdefizite und Opferrolle . . . 384

4.2 Kollektive Gefühle der Deprivation . . . 396

4.3 Autoritarismus und Ungleichwertigkeitsvorstellungen . . . 400

4.4 Gründe für Ausländerfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit . . . 401

4.5 Rechtsextreme Einstellungen . . . 403

4.6 Divergierende Verständnisse von Demokratie, Revolution und Zivilgesellschaft . . . 404

4.7 Selffulfilling Prophecy und globaler Strukturwandel . . . 406

5. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . 408

6. Handlungsempfehlungen . . . 410

6.1 Mögliche Auswege aus einer Festschreibung der Ost-West-Spaltung . . . 410

6.2 Vermeidung einer (rechtspopulistischen) Identitätsfalle . . . 413

6.3 Prävention autoritärer Einstellungsmuster, Herstellung von (interpersonellem) Vertrauen und Empathie . . . 415

6.4 Schaffung einer alternativen, gesamtdeutschen Anerkennungskultur und Förderung von Kontakten und Gesprächsangeboten zwischen und jenseits der Ost-West-Identität . . . 416

6.5 Vertrauen in demokratische Diskussionsflächen und symbolische Gegensteuerung . . . 419

6.6 Appelle an Selbstreflexion und Selbstbewusstsein der Ostdeutschen sowie Selbsthilfe zum Ausstieg aus der Opferrolle . . . 424

6.7 Weitere Forschungsfelder . . . 426

(12)

7. Ausblick: Eine neue Situation durch die Corona-Krise? . . . 427

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . 429

Der Alltag des Systemwechsels vor, während und nach 1989 . . . 439

Kerstin Brückweh 1. Einleitung . . . 439

1.1 Ausgangslage . . . 439

1.2 Annahmen . . . 440

1.3 Anlage und Gliederung der Studie . . . 441

2. Zeitgeschichtlicher Forschungsstand . . . 446

2.1 Die Ereignisse begleitend: Sozialwissenschaftliche Forschung . . . 448

2.2 Rückblicke: Meistererzählungen und Identitätsdiskurse . . . 451

2.3 Transformationsgeschichten: Viele Erfahrungen, Perspektiven, Räume und Akteure . . . 455

2.4 Sonderfall (Ost-)Deutschland. . . 460

3. Ergebnisse zur langen Geschichte der »Wende« . . . 460

3.1 Vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart: Die lange Dauer von Mentalitäten im Wechselspiel mit politischen Systemen . . . 462

3.1.1 Allgemeines Ergebnis . . . 462

3.1.2 Beispiel: Wohnen und Eigentum in der DDR. . . 463

a) Ideen und Gesetze . . . 463

b) Praktiken und Mentalitäten . . . 466

c) Kontextualisierung: Andere Räume und Quantifizierungs- versuche . . . 472

3.1.3 Weitere Alltagsbereiche: Die lange Dauer von Mentalitäten, robuste Strukturen und Handlungsräume im Spätsozialismus . . . 475

3.2 1989/90. Die Wucht der Veränderungen in der Kernzeit des Umbruchs . . . 478

3.2.1 Allgemeines Ergebnis . . . 478

3.2.2 Beispiel: Wohnen und Eigentum 1989/90 . . . 478

a) Der Weg zum Vermögensgesetz (VermG) . . . 478

b) Praktiken und Medienberichte . . . 486

c) Kontextualisierung: Stadt, Land und die Praktik des Eingabenschreibens. . . 492

3.2.3 Weitere Alltagsbereiche: Erlebte vs. erinnerte Gemeinschaft . . . 493

(13)

3.3 Die 1990er Jahre gestalten und bewältigen: Strategien, Erfolge,

Verluste . . . 494

3.3.1 Allgemeines Ergebnis . . . 494

3.3.2 Beispiel: Wohnen und Eigentum ab 1990 . . . 495

a) Gesetze und Anpassungen . . . 495

b) Praktiken und neues Wissen . . . 497

c) Kontextualisierung: Statistiken und Ostmitteleuropa . . . 504

3.3.3 Weitere Alltagsbereiche: Flexibilität von Vorgaben in der Schule . . . 509

3.4 Die »Wende« erinnern: Das Zusammenspiel von Erwartungen und Erfahrungen . . . 510

3.4.1 Allgemeines Ergebnis . . . 510

3.4.2 Beispiel: Wohnen und Eigentum . . . 510

a) Wohnen und Eigentum im Rückblick: Öffentliches und privates Sprechen . . . 510

b) Zuerst Alltagsprobleme lösen . . . 513

c) Defizite benennen: Öffentliches Sprechen über Miss- stände und die Tradition der Eingabe aus der DDR . . . . 514

4. Ausblicke . . . 517

4.1 Vergleich zu anderen postsozialistischen Staaten . . . 517

4.2 Ein zweiter Blick auf lange andauernde Mentalitäten: Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus in der langen Geschichte der »Wende« . . . 519

4.3 Citizen Science . . . 529

5. Vorschläge für die Zukunft . . . 530

5.1 Wissen mehren – mehr Forschung . . . 531

5.2 Citizen Science – elaborierte, demokratische Formen von Wissensgenerierung und -vermittlung . . . 531

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . 532

Quellen . . . 532

1. Archivalien . . . 532

2. Studien für Zweitanalysen . . . 533

3. Oral-History-Interviews . . . 534

4. Periodika . . . 535

5. Rechtsquellen . . . 535

Gedruckte Quellen und Literatur . . . 536

Autorinnen und Autoren . . . 549

(14)

Seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs konnten wir in zahlreichen Staaten Eu- ropas sehr unterschiedliche Transformationspfade des politischen, gesellschaftli- chen und wirtschaftlichen Lebens beobachten. In den neuen Bundesländern voll- zog sich die Transformation vielfach in Form eines radikalen Umbruchs, der seine Spuren im Alltag jeder einzelnen Bürgerin und jedes einzelnen Bürgers hinterließ.

Inzwischen liegen die Ereignisse der Jahre 1989/1990 eine ganze Generation zurück. Viel hat sich seitdem für die Menschen in unserem Land zum Besseren entwickelt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Transfor- mation – und dies gilt für die ostdeutschen Bundesländer ähnlich wie für unsere Nachbarländer im östlichen Mitteleuropa – immer nachwirkt.

Die Transformation formeller demokratischer Institutionen kann vergleichs- weise zügig vonstattengehen; auf anderen Gebieten wird deutlich mehr Zeit ge- braucht: Gehen wir von einem umfassenden Verständnis von Transformation aus, welches auch die Empfindungen, Erfahrungen und politischen Einstellungen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger einschließt, müssen wir in Jahrzehnten den- ken. Dies gilt gewiss auch für die Angleichung ökonomischer Grundlagen. Trans- formationsprozesse müssen daher langfristig sowohl öffentlich debattiert als auch immer wieder neu justiert werden.

Anlässlich des Jubiläums von 30 Jahren Friedlicher Revolution in der DDR und der darauffolgenden Einheit Deutschlands berief die Bundesregierung im Frühjahr 2019 eine Kommission mit 22 Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Deren Aufgabe bestand darin, auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse die politischen, sozialen und gesellschaft- lichen Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre zu bewerten und konkrete Hand- lungsempfehlungen für die Zukunft zu formulieren. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hat die Kommission fünf Studien in Auftrag gegeben, die sich unter- schiedlichen Fragen der Transformationsforschung widmen. Diese Studien wer- den im vorliegenden Sammelband von den drei Kommissionsmitgliedern Judith Enders, Raj Kollmorgen und Ilko-Sascha Kowalczuk vorgestellt.

Mit dieser Veröffentlichung wollen wir die gesamtgesellschaftliche Debatte zum Stand und zu den Perspektiven der Deutschen Einheit befördern. Der Sam-

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melband erscheint nicht nur in gedruckter Form, sondern auch als Open-Ac- cess-Publikation, weil wir möglichst vielen Menschen Lust auf diese Debatte ma- chen wollen.

In den Studien kommen Forschende unterschiedlicher Fachdisziplinen zu Wort, die jeweils ihre individuellen Schwerpunkte setzten. Damit ergibt sich für Sie als Leserinnen und Leser ein sehr umfassendes Bild dessen, was Trans- formation alles ausmacht: So liefern die Studien einerseits interessante Daten in Schaubildern und Statistiken  – etwa zu ökonomischen Rahmenbedingungen, Einstellungen und der Repräsentation Ostdeutscher in den Institutionen der Bun- desrepublik Deutschland. Daneben werden auch Fragen von Identität und gegen- seitiger Anerkennung aufgeworfen, Ursachen und Wirkungen von Klischees und Vorurteilen hinterfragt und sozialpsychologische Erklärungsansätze für die Dyna- miken gesellschaftlicher Prozesse vorgestellt. Es geht in diesem Band sowohl um die Adaption von Institutionen und Regelwerken, aber auch um die politischer Kultur, persönliche Erfahrungshorizonte und den Appell zu mehr Oral History, um hier nur einige Aspekte zu nennen. Was wir besonders wichtig finden: Wir brauchen mehr Diskussion aus verschiedenen Blickwinkeln – das sollte zur Maxi- me der Transformationsforschung in den vor uns liegenden Jahrzehnten werden.

Die Kommission hat deshalb der Bundesregierung ein »Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit« vorgeschlagen. Das Zu- kunftszentrum soll Knotenpunkt einer Transformationsforschung sein, an dem Argumente interdisziplinär diskutiert und weiterentwickelt werden. Es soll gleichzeitig eine Institution sein, in der die Erfahrungen und Lebensleistungen der Ostdeutschen gewürdigt und genutzt werden. Dabei sollen im intensiven in- ternationalen Austausch Strategien für die Transformationsprozesse der kommen- den Jahre entwickelt und debattiert werden.

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und hoffen auf spannende Diskussionen.

Matthias Platzeck

Ministerpräsident a.D. und Vorsitzender der Kommission

»30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«

Marco Wanderwitz MdB

Parlamentarischer Staatssekretär und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer Stellvertretender Vorsitzender der Kommission

»30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«

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Wege ihrer Erforschung und Reflexion

Judith C. Enders, Raj Kollmorgen und Ilko-Sascha Kowalczuk

Kaum etwas versinnbildlicht die List der Geschichte mehr als die deutsche Ein- heit. Im Sommer 1989 war sie praktisch kein Thema. Es ging in den kommu- nistischen Staaten, so auch in der DDR, um Flucht oder Reform, die von der Mehrheit als reale gesellschaftliche Änderungsvorstellungen verfochtenen Mög- lichkeiten. Der bevorstehende unmittelbare Zusammenbruch der Jalta-Nach- kriegsordnung schien selbst den kühnsten Optimisten kein realistisches Thema am Ausgang des Jahrhunderts zu sein. Gerade weil mit Michael S. Gorbatschow in Moskau ein Reformkommunist die Zügel in den Händen hielt, wenn auch nicht fest, schien Evolution statt Revolution auf der Tagesordnung zu stehen.

Und selbst einen radikalen politischen Systemsturz brachte niemand mit dem rapiden Zusammenbruch des Warschauer Paktes und des RGW-Systems unmit- telbar in einen zwingenden Zusammenhang. Beides schien kaum vorstellbar und schon gar nicht innerhalb weniger Monate. Tatsächlich lösten sich nicht nur diese östlichen Militär- und Wirtschaftsbündnisse fast geräuschlos auf, sogar die Sow- jetunion, die die Kommunisten immer als Keimform eines globalen Sowjetstaates angesehen hatten, war zum 26. Dezember 1991 zur Geschichte geworden.

Ab Frühjahr 1990 bereits schien vielen der Zusammenbruch des Kommunismus und die bevorstehende deutsche Einheit als vollkommen logisch – binnen weni- ger Monate hatte sich die öffentliche Meinung radikal verändert, ja teilweise in ihr Gegenteil gekehrt. Und umso größer der Abstand zu den Ereignissen 1989/90 wurde, je mehr Menschen behaupteten nun, alles vorausgesehen zu haben; auch wuchs seit 1990 von Jahr zu Jahr die Gruppe derjenigen an, die gegen die sozia- listische Diktatur im Widerstand gestanden hatten. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung gewöhnte sich sehr schnell an eine alternativlose Geschichtserzäh- lung, kontrafaktische Einwürfe genossen in Deutschland kein hohes Ansehen.

Aber nicht nur die angebliche Alternativlosigkeit der staatlichen historischen Ent- wicklung geriet zur erzählerischen Zwangsläufigkeit, schnell erschien auch die deutsche Einheit als kaum getrübte Erfolgsgeschichte, auf die alle Bundesbür- ger*innen mit allergrößtem Stolz blicken können und die auch vom Ausland mit allertiefster Bewunderung betrachtet würde. So jedenfalls das herrschende Erzähl- muster im politischen Berlin und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

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Der 30. Jahrestag der ostdeutschen Revolution 2019 und der deutschen Ein- heit 2020 sollten entsprechend glanzvoll gefeiert werden.

Schon bei den zentralen Einheitsfeierlichkeiten des Jahres 2016 in Dresden erlebten Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel jedoch hautnah, dass im Osten offenbar nicht alle die deutsche Einheit als Er- folgsgeschichte verstehen und erzählen wollten. Das blieb nicht ihre einzige Kon- frontation mit einer Gegenerzählung zur deutschen Einheit, die im offiziellen Berlin kaum präsent war. Vor diesem Hintergrund begannen auch die Medien verstärkt zu fragen, was im Osten eigentlich schiefgelaufen und warum die Stim- mung im Osten weitaus schlechter als die sozioökonomische Lage sei. Immer stärker schälte sich heraus, dass die Jubiläumseinheitsfeier 2020 nicht allein eine Erfolgsgeschichte würde präsentieren können, wollte sie glaubhaft sein und grö- ßere Teile der Gesellschaft erreichen.

Vor diesem Hintergrund berief die Bundesregierung im April 2019 die Kom- mission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit« (Kommission 2020: 106–109). Das 22-köpfige Gremium, bestehend aus Politiker*innen und Sachverständigen,1 bekam den Auftrag, in kritischer Reflexion und Bewertung des bisherigen Transformations- und Vereinigungsprozesses Handlungsempfeh- lungen zur weiteren Gestaltung der deutschen Einheit, insbesondere unter der Prämisse der Schaffung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« (Art. 72 Grundge- setz), zu erarbeiten. Darüber hinaus sollten Vorschläge vorgelegt werden, wie nicht nur die beiden 30., sondern auch die künftigen Jahrestage angemessen begangen werden können. Die Kommissionsmitglieder sollten sich in die Um- setzung dieser Ideen in den Jahren 2019/2020 auch persönlich einbringen. Das Ziel bestand darin, verschiedene Veranstaltungs- und Dialogformate zu erpro- ben und dann zu entscheiden, ob von diesen einige als dauerhafte Institutionen etabliert werden sollen. Die Kommission war weder gesellschaftlich repräsentativ zusammengesetzt noch spiegelte sich in ihr das Parteienspektrum des Deutschen Bundestages. Das war bei einer Regierungskommission auch nicht zu erwarten, gleichwohl bildete sich in ihr eine Meinungsvielfalt ab, die doch beträchtlich über das parteipolitische Spektrum der großen Koalition hinausreichte. Dafür sorgte die Berufungspolitik des Kabinetts, die gerade bei den Sachverständigen

1 Die Kommission stand unter Leitung von Matthias Platzeck (Vorsitzender) und Christian Hirte bzw. seinem Nachfolger Marco Wanderwitz als Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer (stellvertretende Vorsitzende). Zu den weiteren Mitgliedern zählten:

Katrin Budde, Thomas de Maizière, Judith Enders, Reiner Haseloff, Hans Walter Hütter, Frank Junge, Iris Kloppich, Raj Kollmorgen, Ilko-Sascha Kowalczuk, Christine Lieberknecht, Jan Josef Liefers, Anna Maria Mühe, Maria Nooke, Dieter Pfortner, Jana Schimke, Christian Schmidt, Manuela Schwesig, Annette Simon, Marcel Thum und Elke Witt; Kurzbiografien in: Kommission 2020: 110–117.

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nicht nach einem Parteibuch, sondern nach deren Expertise fragte und eine ge- wisse gesellschaftliche Breite, was die Tätigkeitsprofile der Mitglieder anbelang- te, erreichte.

In die Kommission wurden mehrere Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Professionen berufen. Neben den Herausgeber*innen (Politikwissenschaftlerin, Soziologe, Historiker) gehörten als aktive Wissenschaftler*innen auch ein weite- rer Historiker, eine Psychologin sowie ein Wirtschaftswissenschaftler dazu. Die Kommission wies eine Besonderheit auf, die immer wieder betont wurde, was zeigt, dass auch im 30. Jahr der Einheit etwas nicht stimmt: In der Kommis- sion dominierten Ostdeutsche – von den 22 Mitgliedern wiesen nur vier eine Sozialisation auf, die sie als ›Westdeutsche‹ oder ›Alt-Bundesdeutsche‹, jeden- falls nicht als ›Ostdeutsche‹ markierten. Diese Randnotiz ist interessant und be- stimmte durchaus einige Debatten auch in der Kommission: Wer ist eigentlich im 30.  Jahr der deutschen Einheit Ostdeutscher? Einigkeit herrschte darüber, dass dies nicht allein an einen Geburtsort bis 1989/90 gebunden werden kann.

Vielmehr geht es um Erfahrungen, um einen Erfahrungsraum, der auch nach 1990 bestand, wenn auch unter anderen Vorzeichen, um kollektive Erfahrungen, die mittlerweile durch die DDR-Geschichte und die Geschichte von Vereinigung und Transformation nach 1990 gleichermaßen, wenn auch sozial und individuell in differenter Weise, geprägt wurden. Ein um das Jahr 2000 Geborener im Osten mit ›Osteltern‹ kann solche Erfahrungen im Gepäck haben, während ein seit 1990 im Osten Lebender, aber aus dem Westen Stammender in diesen Erfahrungsraum nicht hineinkommt. Ob diese Exklusion selbst nach 20 Jahren des Lebens in den östlichen Bundesländern aber zwingend ist oder nicht vielfach überwunden wur- de, blieb strittig. Es wird noch komplizierter: Menschen, die nach vielen Jahren oder Jahrzehnten irgendwann vor 1989 in die Bundesrepublik ausgereist oder ge- flüchtet waren, blieben dieser Auffassung nach weiterhin Ostdeutsche – aber wie lange? Wie alt durfte jemand sein, um weiter Ostdeutsche oder Ostdeutscher zu bleiben oder umgekehrt, sich zum Westdeutschen zu entwickeln? Was ist mit Kindern aus ost-west-deutschen Partnerschaften? Und was mit jenen, die im al- ten oder neuen Osten aufwuchsen und wachsen, deren Eltern aber ursprünglich nicht deutscher Herkunft sind?

An diesem Definitionsproblem zeigt sich bereits die Komplexität und Schwierigkeit, wenn es heute um ›Ostdeutsche‹ und ›Ostdeutschland‹ geht.

Denn beide Begriffe lassen sich als soziale Konstruktion einer homogenen ge- sellschaftlichen Gruppe und eines homogenen sozialgeografischen Raumes ver- stehen, obwohl es weder das eine noch das andere vor oder nach 1989 gegeben hat. Vielmehr waren Bevölkerung und Sozialraum von der prinzipiell gleichen Heterogenität charakterisiert wie in anderen modernen Gesellschaften auch.

Dass es gleichwohl in der politischen und massenmedialen Öffentlichkeit eine

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begriffliche Homogenisierung gab, die sich als gleichsam notwendige Beglei- terscheinung des Transformations- und Vereinigungsprozesses entpuppte, ver- dankte sich einer bestimmten politischen Kommunikations- und Handlungs- logik. Ein bereits erprobtes und funktionstüchtiges Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sollte so rasch und geräuschlos wie möglich auf ein dele- gitimiertes und in Auflösung befindliches Staatsgebilde ausgedehnt werden. Es ging darum, Othering herzustellen, damit Macht- und Herrschaftsverhältnis- se übertragen und gleichzeitig legitimiert werden konnten. Diese Übertragung war wiederum möglich, weil die postkommunistischen Gesellschaften mehr- heitlich eine Übernahme erstrebten. Es ging nicht um Innovation, sondern um die Nachahmung bereits bestehender Institutionenordnungen (siehe Ab- schnitt 1). Die Bevölkerungen des postkommunistischen Raumes wollten nicht länger auf eine seit Ewigkeiten versprochene bessere Zukunft warten, sondern endlich und sofort in der Gegenwart des Westens ankommen und zu einem an- erkannten Teil dieses Westens werden.

Über die Ereignisfolgen und Prozessdynamiken von Revolution und Einheit wurde und wird intensiv gestritten. In den letzten Jahren war zu beobachten, dass auch in der politischen Debatte das Erzählparadigma, die Ostdeutschen hät- ten das doch alles genau so »herbeigewählt«, zunehmend an Strahlkraft einbüßt.

Denn hatten sie wirklich am 18. März (Volkskammerwahlen) und am 6. Mai 1990 (Landtagswahlen) die ersehnte Einheit als »Beitritt« mit all ihren Folgen ge- wählt, wie es immer behauptet wird? Wollte die deutliche Mehrheit diesen Weg?

Waren die Folgen überhaupt ernsthaft abschätzbar?

Aber nicht nur diese Erzählung verlor an Glanz, ebenso schien die jahrelan- ge Beschwörung der Milliarden und Abermilliarden Euro, die in den Osten ge- flossen waren und weiter fließen, immer weniger erklären zu können, warum die Stimmung im Osten weitaus schlechter ist als die sozioökonomische Lage. Of- fenbar braucht es mehr als den »Aufbau Ost« und steigende Einkommen, um zu verhindern, dass sich nach wie vor deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in Ostdeutschland als »Bürger*innen zweiter Klasse« begreifen. Das ist nicht nur ein integrations-, sondern auch demokratiebedrohender Wert.

In der Kommission war sich eine Mehrheit rasch einig, dass es für diskussions- würdige Befunde unabkömmlich sei, externen Sachverstand einzubeziehen. An- gesichts der in drei Jahrzehnten kaum noch überschaubaren Produkte einer hoch- gradig elaborierten und spezialisierten internationalen Transformationsforschung war auch das ein Problem: Wer sollte nach welchen Kriterien was wie zusammen- fassen? Die Kommission entschied sich, fünf Studien zu komplexen Themen in Auftrag zu geben, deren Ziel darin bestehen sollte, den Forschungsstand zusam- menzufassen, ohne ihn ausufernd nachzuerzählen, und diesen zugleich mit aktu- ellen Befunden aus eigenen Forschungen zusammenzubringen.

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Um diesem Vorhaben einen Rahmen zu geben, war es nötig zu bestimmen, was überhaupt verhandelt werden soll. Die Transformation in Ostdeutschland zwischen 1990 und 2020 stand im Zentrum. Aber was ist eigentlich unter Trans- formation zu verstehen?

Das den Band einleitende Kapitel beginnt daher mit einer metatheoretischen Erkundung dieses sozialen Wandlungstyps, seines postsozialistischen Subtyps und den Besonderheiten in (Ost-)Deutschland (Abschnitt 1), was zur Formulierung wichtiger theoretisch-konzeptueller Herausforderungen überleitet (Abschnitt 2).

Im Anschluss wird eine daran orientierte kritische Revision der nach 1989 re- alisierten sozialwissenschaftlichen Transformations- und Vereinigungsforschung zum (ost-)deutschen Fall vorgenommen (Abschnitt 3). Es folgen (Abschnitt 4) einige Überlegungen zur Transformation und Vereinigung aus generationentheo- retischer und soziokultureller Perspektive sowie eine Problematisierung der zeit- geschichtlichen Annäherungen und Forschungsansätze (Abschnitt 5). Das Kapi- tel endet mit einer zusammenfassenden Skizze der folgenden Studien (Kapitel) im Band (Abschnitt 6) sowie einer Vorstellung der wissenschaftsbezogenen Emp- fehlungen der Kommission mit einem Ausblick auf die Zukunft der Transforma- tions- und Vereinigungsforschung (Abschnitt 7).

1. Gesellschaftstransformation als sozialer Wandlungstyp, Postsozialismus und (ost-)deutscher Fall

Gerade weil heute Transformation ein weitverbreiteter Begriff zur Kennzeich- nung sozialer Wandlungsprozesse ist (etwa Brand 2018; Kollmorgen 2006; Mer- kel 2010; Merkel/Kollmorgen/Wagener 2019; Reißig 2009; Sanderson 1999;

Thomas/Busch 2015), scheint es zunächst notwendig, seine analytischen Gehalte präziser herauszuarbeiten.

1.1 Gesellschaftstransformation als sozialer Wandlungstyp

Wir verstehen unter Gesellschaftstransformation einen spezifischen sozialen Wand- lungstyp, der sich mindestens in sechs Dimensionen gegenüber anderen Typen auszeichnet und in sich differenzieren lässt (detaillierter: Kollmorgen 2006, 2010).

1) Gesellschaftstransformationen sind Wandlungsprozesse auf gesamtgesellschaft- licher Ebene. Während Transformationen sans phrase auch Teilbereiche, Sek- toren oder einzelne Ebenen sozialer Praxis ergreifen und verändern können, betreffen Gesellschaftstransformationen gesellschaftliche Ganzheiten (Systeme,

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Totalitäten, Einheiten). Dabei differiert ihr konkreter räumlicher, sozialkom- munikativer und institutioneller Zuschnitt hochgradig. Er kann von eher lose verbundenen Gemeinschaften über Nationalstaaten bis zu geografisch weitge- spannten Imperien reichen.

2) Gesellschaftstransformationen sind insofern radikal, als es sich um prozes- sierende Formwechsel wesentlicher Sozialverhältnisse mindestens in den Di- mensionen: legitime Ordnung (autoritative bzw. politische Macht), materielle Ressourcenproduktion und -verteilung (materielle oder ökonomische Macht) sowie Welterkenntnis und Weltdeutung (kulturelle oder symbolische Macht) handelt.

3) Gesellschaftstransformationen repräsentieren (relativ) konturierte und gerich- tete soziale Wandlungsprozesse raumzeitlich bestimmbarer gesellschaftlicher Ganz- heiten, für die Ausgangs- und Zielkorridore bestimmt werden können. Das unterscheidet sie idealtypisch sowohl von fluktuativen oder repetitiven (etwa Konjunkturzyklen) als auch von diffusen oder langfristig offenen bzw. po- tenziell reversiblen sozialen Strukturveränderungen (z. B. Säkularisierung oder Globalisierung).

4) Obwohl auch Gesellschaftstransformationen der Tendenz sozialer Beschleuni- gung unterliegen (Rosa 2005), sind (erfolgreiche) Gesellschaftstransformatio- nen nicht kurzfristig zu bewältigen, weil die formelle Institutionalisierung wie die Habitualisierung oder Kulturalisierung neuer Ordnungen auch unter (re- volutionär-)disruptiven Bedingungen (siehe 6) mindestens zwei Generations- wechsel, also 40 bis 60 Jahre dauert. Andere Subtypen benötigen selbst in der Neuzeit deutlich mehr Dekaden oder sogar Jahrhunderte.

5) Innerhalb des Typs Gesellschaftstransformation müssen zunächst unterschied- liche Ausprägungen der Wandlungstiefe und weltgeschichtlichen Bedeutung dif- ferenziert werden. Gesellschaftstransformationen, die sich auf Wechsel inner- halb epochaler Entwicklungs- oder Gesellschaftsformen beschränken, z. B. im Rahmen der »organisierten Moderne« von demokratischen zu totalitären Herr- schaftssystemen, wie es nach 1933 in Deutschland der Fall war, sind von Wech- seln der Gesellschaftsform, etwa in der Moderneformation von der »restringiert liberalen« zur »organisierten Moderne« zwischen 1870/80 und 1920/30, zu un- terscheiden (zum Moderneproblem: Wagner 1995). In systematischer Perspek- tive erscheint ein dreigliedriges Differenzierungsschema sinnvoll:

Systemwechsel als Übergänge zwischen (kontemporär) alternativen, z. T.

antagonistischen Gesellschaftssystemen im Rahmen bestimmter Gesell- schaftsformen (klassisch: Kapitalismus zu Sozialismus und vice versa), – Übergänge von epochalen Gesellschaftsformen im Rahmen bestimmter Ge-

sellschaftsformationen (z. B. innerhalb der Moderneformation von der »re- stringiert liberalen« zur »organisierten Moderne«) sowie

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gattungsgeschichtliche Gesellschaftstransformationen im theoretisch-konzep- tuellen Anschluss an Marx, etwa der Übergang von der »feudalen« zur

»modernen (bürgerlichen) Gesellschaft«.2

6) Aber auch modal, d. h. hinsichtlich der Prozesseigenschaften, erscheinen Gesell- schaftstransformationen höchst heterogen. Vier dimensionale Achsen mit ih- ren polaren Bestimmungen sind für eine Differenzierung und Bestimmung konkreter Subtypen und Einzelfälle von besonderer Relevanz (siehe Über- sicht 1):

a) Während einige Transformationen partial beginnen (etwa im politischen oder ökonomischen Sektor) und sich dann – oft längerfristig – gesamtge- sellschaftlich ›ausbreiten‹ (wie die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft veranschaulicht), starten andere von vornherein als holisti- sche Projekte (wie etwa die bolschewistische Revolution im Herbst 1917 in Russland).

b) Diese beiden Beispiele stehen zugleich für die Differenz von kumulativen Transformationen (etwa der Kapitalismusgenese) gegenüber einem dis- ruptiven Modus sozialer Revolution (wie 1917).

c) Beide Umwälzungen stimmen aber in ihrem Merkmal eines innovativen Umbruchs überein – es gab vorher weder bürgerliche Gesellschaften noch staatssozialistische. Demgegenüber zeigen etwa die Meiji-Restauration in Japan (ab 1867) oder die postsozialistischen Transformationen in Ostmit- teleuropa (nach 1988/89) deutlich imitative Züge. In beiden Fällen sollten westliche Institutionenordnungen imitiert werden, um das Modernitätsni- veau dieser Gesellschaften zu erreichen (und wenn möglich zu überflügeln).

d) Die zuletzt genannten Wandlungsprozesse stehen darüber hinaus für den Subtyp gesteuerter Transformationen, bei denen neue Eliten rasch das Heft des Handelns übernehmen und der Umbau institutionell kontrol- liert wird (oder doch werden soll). Das war weder bei der neolithischen noch in der europäischen feudalen Transformation der Fall.

Die Beispiele unterstreichen zugleich, dass sich alle Gesellschaftstransformatio- nen in diesem relationalen Eigenschaftsraum bewegen und nie in den je polaren Bestimmtheiten aufgehen. Selbst die scheinbar innovativsten Umbrüche, wie die Französische oder die Russische Revolution (1917–1921), referieren auf Vorgän- germodelle, historisch gewachsene Vorstellungen und erschöpfen ihre transfor- matorische Kraft nicht in den engeren politischen Transitionen. Vielmehr struk- turieren sie die neuen Ordnungen über mehrere Jahrzehnte. Umgekehrt zeigen

2 Die angestrebte sozialökologische Umwälzung wird z. T. als weitere »Große Transformation«

thematisiert, die über die industrielle Moderne hinausführen soll, wobei umstritten ist, ob wir es hier mit einem gattungsgeschichtlichen Formationswechsel zu tun haben werden (zur Dis- kussion: Brand 2018; Reißig 2009; WBGU 2011).

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selbst die zunächst imitativsten Projekte relativ rasch Eigenheiten und generieren oft Erneuerungen der importierten Institutionen, sodass sie sich nie auf ein Nach- ahmen beschränken (können).

Übersicht 1: Vierdimensionaler Eigenschaftsraum von Gesellschaftstransformationen

Innovativ Imitativ

Partial beginnend Spontan (von unten)

Holistisch ab ovo Gesteuert (von oben)

Disruptiv

(revolutionär) Kumulativ (evolutionär) Quelle: Eigene Darstellung unter Bezug auf Kollmorgen 2006

Nimmt man die bisherigen Überlegungen ernst, stellen Gesellschaftstransforma- tionen eine welthistorisch weit verbreitete Klasse von sozialem Wandel dar, ohne begrifflich mit Gesellschaftswandel (im Allgemeinen) zu konvergieren. Diese Ver- breitung von Gesellschaftstransformationen erheischt komplexe analytische Dif- ferenzierungen dieses Wandlungstyps (Tiefe, Bedeutung, Prozessmodi, inhaltli- che Orientierungen der unterschiedlichen Akteure usw.), um die Spezifika der Fallgruppen und einzelnen Fälle gehaltvoll erschließen und miteinander verglei- chen zu können.

1.2 Postsozialistische Gesellschaftstransformationen

Die postsozialistischen Umwälzungen in Ostmittel- und Teilen Osteuropas erschei- nen vor diesem Hintergrund als markante Fallgruppe und (gemischter) Subtyp von Gesellschaftstransformationen. Dessen (idealtypischer) Kern beinhaltete den Herr- schaftssystemwechsel von autoritären staatssozialistischen zu demokratisch-wohl- fahrtskapitalistischen Regimen, der mit dem Übergang von der »organisierten« zur

»erweitert liberalen Moderne« (Wagner 1995) oder »Neomoderne« verschränkt war (Kollmorgen 2004, 2006, 2019). Die Interferenz dieser beiden Übergänge bedingte die besondere Gestalt und Radikalität des postsozialistischen Subtyps.

Im ostmitteleuropäischen Dreieck zwischen Tschechien, Estland und Slowe- nien zeichneten sich die Gesellschaftstransformationen inhaltlich und prozedural durch ihren holistischen, imitativen, disruptiven und gesteuerten Charakter aus.3 Die

3 Demgegenüber waren in Teilen Südosteuropas (wie Albanien) und mehr noch im osteuropä- ischen und zentralasiatischen postsowjetischen Raum (z. B. Kasachstan oder Aserbaidschan)

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neuen Eliten erstrebten, getragen von pluralen Bürgerbewegungen und gestützt auf bürokratische Steuerungsinstitutionen, die Etablierung von klar an westlichen Modellen orientierten parlamentarisch-demokratischen, kapitalistisch-markt- wirtschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen. Soziokulturell wurden die Umbrüche von den Eliten durch die viel beschworene »Rückkehr nach Euro- pa« bei gleichzeitiger Stärkung nationalstaatlicher Selbstbestimmung, Identitäten und Solidaritätsmuster eingebettet (Kollmorgen 2019a; Merkel 2010).

Aber so nachdrücklich beachtliche Teile der Bevölkerungen und wichtige Fraktionen der neuen Eliten diese Ziele auch artikulierten, die komplexen und widersprüchlichen Eigenschaften der Transformationsprojekte wie der globalen Kontextbedingungen ließen weder eine schnelle noch eine ungebrochene Rea- lisierung zu (siehe die Beiträge in Merkel/Kollmorgen/Wagener 2019). Schon früh wurde nicht nur auf die triple transition (C. Offe), d. h. die gleichzeitige und sich partiell auch wechselseitige behindernde Transformationsnotwendigkeit des staatlichen Territoriums, des politischen Systems und der Wirtschaft hinge- wiesen (»Dilemmata der Gleichzeitigkeit«), sondern auch auf die ambivalenten Erbschaften des alten Regimes (etwa hohes Bildungsniveau vs. traditionelles Na- tionenverständnis oder schwache Zivilgesellschaften trotz initiierender Bürgerbe- wegungen) und die zwiespältigen Politiken der Europäischen Union, u. a. zwi- schen Solidaritäts- und neoliberaler Konkurrenzorientierung (z. B. Dahrendorf 1990; Offe 1994). Mehr noch, einige Forscher*innen thematisierten bereits An- fang der 1990er Jahren, dass eben wegen dieser Eigenschaften und Bedingungen der Transformationsprozesse nicht nur mit Transformationskrisen und dramati- schen Erwartungsenttäuschungen gerechnet werden müsse. Vielmehr seien – ge- messen an den hohen Zielerwartungen – selbst mittel- und langfristig die Erfolge der Transformationsprojekte nicht verbürgt. Neben »Stop-and-go«-Politiken (A.

Przeworski) und strategischen Sackgassen wäre mit der Ausbildung und mögli- cherweise sogar mit der (mittelfristigen) Verfestigung »defektiver Demokratien«

(W. Merkel) oder »politischer Kapitalismen« (J. Staniszkis) zu rechnen. Gene- rell wiesen einige Forscher*innen darauf hin, dass es sich bei diesen Gesellschaft- stransformationen keineswegs um kurzfristige Umbrüche handelt, die nach we- nigen Jahren erfolgreich abgeschlossen werden können, sondern um langfristige Umwälzungen, die von ökonomischen Infrastrukturen über staatliche Instituti- onenkomplexe bis zu den Soziokulturen der Gesellschaften reichen und sich da- her nach Jahrzehnten bemessen (etwa Dahrendorf 1990, Kollmorgen 1994; Offe

Umwälzungen mit partiellem und verschlepptem Institutionenwandel unter anokratischen oder autokratischen Vorzeichen wahrscheinlich. Insofern handelte es sich mit Blick auf Ost- mitteleuropa gerade im postsowjetischen Raum keineswegs um (postsozialistische) Gesell- schaftstransformationen des gleichen Subtyps – weder in inhaltlicher noch in prozeduraler Hinsicht (Kollmorgen 2019a; vgl. Lane 2014; Magyar/Madlovics 2020; Merkel 2010).

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1994; Sztompka 1992). Ein damals verbreitetes Verlaufsschema umfasst – nach einer möglichen Liberalisierungsphase am Ende des alten Herrschaftsregimes – die engere Transitionsphase (des Machtwechsels und der Institutionalisierung der neuen Ordnung) sowie eine ausgedehnte Konsolidierungsperiode, die auch De- konsolidierungsmomente einschließen kann (ebd.; Merkel 2010).4

Diese Annahmen eines keineswegs einfach und kurzfristig erreichbaren sowie sicheren Transformationserfolges auch in Ostmitteleuropa haben sich bestätigt; in Teilen wurden die Thesen hinsichtlich Komplexität, Widersprüchlichkeit sowie Formierung eigentümlicher Ordnungen und Kulturen jenseits bloßer Defektivi- tät gegenüber den westlichen Vorbildern sogar übertroffen. Das stellen nicht nur die osteuropäischen, sondern auch die ostmitteleuropäischen Fälle – wie exempla- risch Polen und Ungarn mit ihren nationalistischen und rechtspopulistischen Re- gierungsparteien sowie Beschneidungen des liberalen Rechtsstaates – unter Beweis, bei denen es keineswegs allein um die Macht vor- und realsozialistischer Geschich- te oder darauf gründende Fehlentscheidungen der neuen Eliten im Umbaupro- zess geht. Ebenso wichtig sind die sich verändernden Kontextbedingungen nach 1990 und die spezifischen Wahrnehmungen und Antworten auf die – verkürzt for- muliert – Herausforderungen wesentlich neoliberal bestimmter Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse. Die Antworten demonstrieren insofern den radikali- siert ko-transformativen Charakter der östlichen und westlichen Umwälzungen seit 1989/90. Durch den Fall des Eisernen Vorhangs wuchsen nicht nur rasant die de- mografischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Interdependenzen zwi- schen Ost und West, in denen um je eigene Gestaltungschancen, Vorteile und Hegemonien gerungen wurde. Vielmehr amalgamierten sich im Osten Europas postsozialistische, post- und neomoderne Herausforderungen und Erfahrungsräume in spezifischer und teils innovativer Weise (Kollmorgen 2005, 2019a; Ther 2016).

1.3 DDR/Ostdeutschland

Die revolutionären Auf- und Umbrüche in der DDR, die postsozialistischen Transformationen in den östlichen Bundesländern sowie der deutsche Vereini-

4 Angesichts der Erfahrungen der Transformationsprozesse empfiehlt sich ein Phasenschema, das eher eine Niedergangsperiode des alten Regimes, eine engere Transitionsphase sowie eine ausgedehnte Strukturierungsperiode (mit einer Dauer von ca. 35 bis 55 Jahren) unterschei- det (Kollmorgen 2006, 2019a). Der Begriff der Strukturierungsperiode vermeidet – anders als der der »Konsolidierungsphase« – die (teleologische) Unterstellung einer richtungskonstanten Stabilisierung (siehe die folgende Argumentation). Eine seit etwa 2005 vorgeschlagene weite- re Periode der »Posttransformation« (etwa Holtmann 2009; Rose 2009) trifft zwar einerseits wichtige Dimensionen (neben-)folgenreicher Aufschichtungs- und dann auch neuer Öffnungs- prozesse in der späten Strukturierungsperiode, bleibt aber bereits semantisch problematisch.

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gungsprozess seit 1989/90 erscheinen vor diesem Hintergrund einerseits weniger exzeptionell, als es nach 1990 vielfach in Politik, Wissenschaft und Journalismus unterstellt wurde. Das betrifft die staatssozialistische Herrschaftsgeschichte, die Dynamiken des Niedergangs in den 1980er Jahren und des revolutionären Um- bruchs im Herbst 1989, aber auch den radikalen Umbau der Basisinstitutionen in Politik und Recht, Wirtschaft und öffentlicher Wohlfahrt, Wissenschaft und Kunst zwischen 1989 und 1993/94. Insofern gehören die Umwälzungen in der DDR und dann in den neuen Bundesländern zum gleichen transformatorischen Subtyp und zur ostmitteleuropäischen Fallgruppe spät- und postsozialistischer Entwicklungen (Ash 1990; Kollmorgen 2009a; Kowalczuk 2009, 2019; Merkel 2010; Segert 2013). Das wird auch an den Erwartungsüberschüssen im »Herbst des Volkes«, der rasch beobachtbaren »postrevolutionären Malaise« (P. Sztompka) sowie der ökonomischen, sozialen und kulturellen Transformationskrise Anfang der 1990er Jahre deutlich. Selbst längerfristig betrachtet, zeigt sich eine offen- kundige Nähe zwischen Ostmitteleuropa und Ostdeutschland im Transforma- tionsverlauf, den Strukturierungsresultaten und den aufgeschichteten Transfor- mationserfahrungen sowie den Formierungslogiken politischer Kulturen. Nur exemplarisch sei auf die massive Abwanderung gerade junger qualifizierter Men- schen in den Westen, sozialstrukturelle Mobilitäten und Klassenumbildungen, auf den langfristigen Charakter der einheimischen Industrien als »verlängerte Werkbänke« des Westens und die Eigentumsübernahme durch westliche Akteu- re oder auf die Stärke rechtsextremistischer und rechtspopulistischer Strömun- gen und politischer Parteien im Osten verwiesen (ebd.; Adamski/Machonin/Zapf 2002; Merkel/Kollmorgen/Wagener 2019; Ther 2016).

Andererseits zeichnet sich der ostdeutsche Fall gegenüber den anderen ostmit- teleuropäischen Umbruchprozessen durch eine Reihe von Besonderheiten aus.

Diese werden in den folgenden Beiträgen des Bandes breiter und aus verschiede- nen Perspektiven verhandelt. Insofern reicht an dieser Stelle eine Konzentration auf die fundamentalen Differenzen:

1) Im ostdeutschen Fall fand der postkommunistische Umbruch bereits ab Frühjahr 1990 unter der Prämisse des deutsch-deutschen Vereinigungsprozes- ses und dann unter dem Dach der Bundesrepublik statt. Die Transformation wurde also unter Bedingungen staatlicher und gesellschaftlicher »Inkorporati- on« (K. U. Mayer) realisiert.5 Nach der Vereinigung stellten die Ostdeutschen

5 Gegenüber den in ganz Ostmittel- und Osteuropa auftretenden staatlichen Sezessionen im Kontext der Transformation – von der Tschechoslowakei über Jugoslawien bis zur Sowjetuni- on – handelt es sich hier also um den einzigen Fall einer Vereinigung. Dass zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR bereits vor 1990 besondere Beziehungen bestanden, die für die DDR auch privilegierte Zugänge zum westeuropäischen Wirtschaftsraum beinhalteten (siehe Abschnitt 3), sollte erwähnt, muss hier aber nicht vertieft werden.

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in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Minderheit dar und wurden daher – freilich im Rahmen der föderalen und demokratischen Grundord- nung – in ihrem autonomen Transformationshandeln deutlich eingeschränkt.

Darüber hinaus musste die Konstellation einer inkorporierten postsozialisti- schen Minderheit und Teilgesellschaft massive materielle Umverteilungspro- bleme, Kämpfe um Repräsentation und Führungspositionen sowie um sym- bolische Anerkennung und soziale Integration generieren (Kollmorgen 2005;

Kowalczuk 2019; Mau 2019; Wiesenthal 1996, 1999).

2) Mit dem Vereinigungsprozess verband sich ein Institutionen-, Akteur-, Eliten- und Finanztransfer von West nach Ost, der sich in Charakter, Umfang und Geschwindigkeit drastisch von allen anderen postsozialistischen Fällen un- terscheidet (ebd.), für die besser von »Institutionenleihe« (Lehmbruch 1996) denn von Transfer gesprochen werden sollte. Der basisinstitutionelle Transfer wurde am 1. Juli 1990 mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion be- gonnen und bereits am 3. Oktober 1990 mit dem »Beitritt« der neuen Länder und Ostberlins zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland – von wenigen Ausnahme- und Übergangsbestimmungen abge- sehen – vollendet. Allein zwischen 1991 und 2005 flossen etwa 1,2 Billionen Euro als Nettotransfer in die neuen Länder (Busch 2015). Das war weit mehr, als alle ostmitteleuropäischen Länder zusammen im gleichen Zeitraum durch die Unterstützungsprogramme der EU erhielten.

3) Die »Rückkehr nach Europa« sowohl im Sinne einer kulturellen Reorien- tierung nach Westen als auch einer Einbindung in kollektive Sicherheits-, Wirtschafts- und Politikbündnisse bzw. Integrationsordnungen (namentlich NATO und EU) vollzog sich im ostdeutschen Fall parallel zur deutschen Ver- einigung und war bereits am 3. Oktober 1990 vollendet, wohingegen der Pro- zess in Ostmitteleuropa 10 bis 15 Jahre dauerte und mit intensiven Verhand- lungen sowie erheblichen Beitrittsauflagen verbunden war (Bönker/Wielgohs 2008).

Spannenderweise öffnen sich damit nicht nur allgemein vielfältige Vergleichs- und Analyseperspektiven für die postsozialistischen Gesellschaftstransformatio- nen. Vielmehr lässt sich – auch mit Blick auf die heutigen Lagen und Entwick- lungsperspektiven – fragen, ob diese besonderen Bestimmtheiten die ostdeutsche Transformation eher zu einem Extrem-, Ideal- oder Unfall postsozialistischer Um- wälzungen nach 1989 werden ließen. Die dazu geführte Debatte (Best/Holtmann 2012; Kollmorgen 2005, 2009; Pickel/Wiesenthal 1997; Thomas 1998; Wiesent- hal 1996, 1999) kann hier weder nachgezeichnet noch in ihren Schlüssen ange- messen beurteilt werden.

Schon nach dem eben Skizzierten ist aber evident, dass praktisch für alle relevanten Dimensionen ambivalente, teils widersprüchliche Urteile formu-

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liert werden müssen. So barg der große Vorteil eines radikalen und punktzeitli- chen Institutionenumbaus qua Transfer – einschließlich »ready made actors« (R.

Rose) – nicht nur das Risiko einer mangelnden Funktionalität gegenüber den spe- zifischen Transformationsproblemen sowie einer Schockerfahrung der Ostdeut- schen, die Verunsicherung, Frustration, Verlust- und Minderwertigkeitsgefühle wahrscheinlich werden ließen. Vielmehr blieben damit die Chancen autonomer Lern- und innovativer Entwicklungsprozesse auf vielen Handlungsebenen deut- lich beschränkt. Freilich bedeutete diese Beschneidung des experimentellen Cha- rakters des ostdeutschen Postsozialismus zugleich eine grundsätzliche Funktions- fähigkeit und Sicherheit der neuen Institutionen- und Akteurordnungen, die sich die übergroße Mehrheit der Ostmitteleuropäer*innen nach 1990 ebenso tausend- fach gewünscht haben wie die materiellen Wohlstandsgewinne der (allermeisten) Ostdeutschen mit und nach dem Beitritt.

Diese Überlegungen schließen die Erkenntnis ein, dass jede Bewertung des Modus und der Ergebnisse der ostdeutschen Transformation im ostmitteleuro- päischen Vergleich immer von den jeweiligen Praxisfeldern, Sachproblemen und dem Zeitpunkt (bzw. Zeitraum) sowie den konkreten Herkünften, sozialen Lagen und Interessen, Zielvorstellungen und Erwartungen der Urteilenden wie der Be- urteilten abhängt. Was für die eine soziale Gruppe den ostdeutschen Umbau im Rahmen der deutschen Vereinigung etwa zu Prozessbeginn zum Idealfall machte, erscheint den anderen, langfristig betrachtet, als größtmöglicher Unfall und gran- dioser Misserfolg. Hier wie anderswo in den gesellschaftspolitischen Auseinander- setzungen der Gegenwart braucht es ein hinreichendes Differenzierungsvermö- gen und die Anerkennung multidimensionaler Heterogenität in den ›objektiven‹

Sozialverhältnissen wie den ›(inter-)subjektiven‹ Perspektiven auf sie (zur Debat- te: Kollmorgen 2005).

Das verweist abschließend auf ein wichtiges Praxis- und Wissenschaftspro- blem: Wenn über soziale Ungleichheit, regionale Disparitäten und individuelle Entwicklungschancen in der Bundesrepublik nach 1990 gesprochen wird, muss der alleinige Fokus auf Ostdeutschland und die Ostdeutschen ebenso verkürzen wie die ausschließliche oder doch dominante Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschland. Demgegenüber ist einerseits zu betonen, dass es ein homoge- nes Ostdeutschland so wenig gab und gibt wie einen einheitlichen westdeutschen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturraum. In bestimmten Dimensionen sind die Un- terschiede in den beiden Teilen größer als zwischen ihnen, sodass es keineswegs weniger legitim ist, die regionalen Unterschiede entlang einer Nordost-Südwest- oder Stadt-Land-Achse zu problematisieren als im ost-west-deutschen Verhält- nis. Andererseits dürfen die vielfältigen weiteren Ungleichheitsdimensionen, die unsere Gesellschaften durchziehen, nicht vergessen oder marginalisiert werden.

Vielmehr ist zu fragen und auch analytisch zu problematisieren, welche auf Alter,

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Erwerbsstatus, soziale Schicht- und Geschlechterzugehörigkeit oder auf ethnische und migrantische Herkunft basierenden sozialen Ungleichheiten für die indivi- duellen Entwicklungschancen wie wirkmächtig sind und sich wie mit der Posi- tionierung und dem Lebensverlauf als Ost- oder Westdeutsche/-r (intersektoral) verknüpfen. Auch zu diesem Problemkreis finden sich Untersuchungen und Aus- sagen in den Beiträgen des vorliegenden Bandes.

2. Transformationsforschung als theoretisch-methodologische Herausforderung

Wodurch sollte sich – in Reflexion dieser Konzeptualisierungen und Begriffsfas- sungen von (postsozialistischer) Gesellschaftstransformation und deutsch-deut- schem Vereinigungsprozess  – sozialwissenschaftliche Transformationsforschung theoretisch und methodologisch auszeichnen? Was müssten oder sollten zumin- dest ihre wesentlichen analytischen Perspektiven, ihre »focal points«, ihre zentra- len methodischen Orientierungen und relevanten theoretischen Erklärungsan- sätze sein?6 Fünf Merkmale bzw. Orientierungen sollen hervorgehoben werden (ausführlicher Kollmorgen 1994, 2018).

2.1 Gesellschaften im Fluss

Transformation bedeutet intensive Umwälzung und damit Verflüssigung des So- zialen. Das muss theoretisch-methodologisch eingeholt werden. Weder rein his- torische oder aktuelle Zustandsbeschreibungen der Gesellschaft, das bloße An- einanderreihen von Messpunkten in Erhebungen oder das routinierte Schließen von Strukturen und (formellen) Institutionen auf korrespondierende Einstellun- gen oder Handlungspraktiken (oder umgekehrt) wird dieser Lage gerecht. Es er- scheint wenig plausibel, dass in den turbulenten Höhepunkten transformativer Umbrüche alte Verbotsregeln (etwa des Demonstrationsrechts) oder institutio-

6 Dieser Versuch, ein angemessenes theoretisch-methodologisches Gerüst für sozialwissen- schaftliche Transformationsforschung zu skizzieren, folgt dem eben vorgestellten Verständ- nis von Gesellschaftstransformation und beansprucht daher auch nur in diesem Kontext Gel- tung (vgl. für gegenständlich wie konzeptuell alternative Vorschläge etwa Brand 2018; Reißig 2009). Darüber hinaus ist evident, dass Forschungen zum Postkommunismus oder zur deut- schen Vereinigung, die sich diesem Gerüst nicht zuordnen lassen, nicht schon allein deshalb irrelevant werden. Das Gegenteil kann der Fall sein. Dennoch erscheint dieses normative Mo- dell wichtig, um zu erklären, was es braucht, um diesen spezifischen Typ von sozialen Wand- lungsprozessen aufzuschließen und zu verstehen.

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nelle Anreize (z. B. Gewinnerwartungen) wie vordem ihre handlungsorientie- rende Kraft entfalten. Auch lassen sich in radikalen Aufbrüchen (wie im Herbst 1989) schwerlich Transformationsprognosen im Sinne einer Trendextrapolati- on vornehmen. Ebensowenig gehaltvoll muten Aussagen über Institutionenver- ständnisse und Handlungsmuster an, die durch Einstellungsmessungen anhand bekannter Frageformulierungen in Bevölkerungssurveys gewonnen wurden, wie es z. B. bezüglich des Items »Demokratie als Staatsform« Anfang 1990 für die neuen Bundesländer und den Vergleich mit Westdeutschland geschah. Ganz of- fenkundig verbanden angesichts gänzlich unterschiedlicher Erfahrungshorizon- te und Erwartungshaltungen Ostdeutsche damals (evtl. auch heute noch) mit dem Begriff einer idealen oder realen »Demokratie« etwas anderes als die meis- ten Westdeutschen.

Es braucht daher – positiv formuliert – in Transformationszeiten Ansätze und Methoden, welche die gehaltvolle Analyse (alternativer) Prozessdynamiken erlau- ben, ja fokussieren, etwa das keineswegs zwangsläufige Verfallen alter Sozialgebil- de und Handlungsorientierungen, die widersprüchliche und situationsabhängi- ge Generierung radikal neuer Institutionenordnungen, aber auch das wiederum offene und kontextabhängige Aushärten spezifischer sozialer Strukturen oder Kulturen. Insofern ist, wie O’Donnell und Schmitter (1986) schon vor über 30 Jahren formulierten, ein Versagen der normal methods der Sozialwissenschaften in Übergangsgesellschaften und insbesondere in den engeren Umbruchphasen wahrscheinlich. Im Vergleich zu diesen Standardverfahren empfehlen sich offe- ne, interpretativ grundierte und komplexe Methoden wie die Grounded Theory (Strauss/Corbin 1998; Hildenbrand 2019) sowie als übergreifende Forschungs- designs historische Fallstudien (Kowalczuk 2009, Brückweh 2019), Ereignis- datenanalysen zu Lebensverläufen (Mayer 1990), biografische (Thomas 1998) oder ethnografische Methodenansätze (Hann 2002; Thelen 2019) sowie generell Longitudinaldesigns.

2.2 Organisierte Akteure und formale Institutionen im Umbruch

Angesichts des hochgradig politischen und holistischen Charakters der postsozialis- tischen Umwälzungen muss nicht nur die Analyse des politisch-administrativen Systems und staatlicher Akteure mit im Zentrum stehen. Vielmehr bedarf es der Erforschung des Transformationshandelns aller relevanten organisierten Makro- und Meso-Akteure im Umbau der formalen Akteur-Institutionen-Komplexe durch Anleihen bei hegemonialen »Modell«-Gesellschaften sowie deren Rekombinati- on mit Trümmerstücken der alten Ordnung. Bei diesen Untersuchungen sind die jeweils konkreten historischen, strukturellen, soziokulturellen sowie weltgesell-

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schaftlichen und regionalen Kontexte und (Neben-)Folgen der Formierungs- und Steuerungsprozesse einzubeziehen. Aus theoretisch-methodologischer Perspektive erfordert dieser Kern der Transformationsforschung:

– Eine Handlungs-, Akteur- und Agency-Theorie, die offen ist für sich verändern- de Relationen aller Elemente innerhalb der »Logiken des (sozialen und kol- lektiven) Handelns«, und die ausdrücklich die Aspekte von »Widersprüchen«

des Handelns, »sozialem Werden« und »kreativem Handeln« zentriert (sie- he etwa die Grundlagenarbeiten von Elster 2007; Giddens 1988; Joas 1992;

Sztompka 1991).

– Einen besonderen Fokus auf Akteur-Institutionen-Beziehungen, radikalen Insti- tutionenwandel und auf Prozesse institutioneller Steuerung unter Akzentuierung von sozialen Mechanismen der Institutionenleihe, des policy transfers, der po- licy diffusion und des lesson drawing – oder breiter formuliert: von Phänome- nen des individuellen und kollektiven sozialen Lernens – sowie der (Neben-) Folgendynamiken (als Überblicke für akteur-, institutionen- und steuerungs- theoretische Ansätze etwa: Beyer 2019; Elster u. a. 1998; Lehmbruch 1996;

Stark/Bruszt 1998; Stefes 2019; Wiesenthal 2001). Für den ostdeutschen Fall sind hier einige – auch theoretisch-methodisch relevante – Besonderheiten zu beachten, die sich dem »Beitritts«-Modell verdanken (Lehmbruch 1996, Wie- senthal 1996, 1999; Kollmorgen 2005, 2011).

– Ein spezifisches Interesse an und analytische Perspektive auf die alten und neuen Eliten in allen Sektoren der Gesellschaft, einschließlich der Dimension

»transnationaler Führung«, d. h. der Relevanz auswärtiger Berater, der Eliten- leihe sowie transnationaler Führungsgruppen v. a. im Gefolge der EU-Beitrit- te (siehe Eyal/Szelényi/Townsley 2000; Grancelli 2002; Kubik 2003; speziell zum deutschen Fall: Kollmorgen 2017).

– Eine Fokussierung der hoch dynamischen sozialen Macht- und Herrschaftsver- hältnisse in ihren materiellen und symbolischen bzw. diskursiven Dimensionen innerhalb aller zuvor genannten Prozesse und Beziehungen (dazu etwa Bön- ker/Müller/Pickel 2002a; Kennedy 2002; Kollmorgen 2015; Kubik 2003).

2.3 Die komplexe Kontextualität und Dimensionalität holistischer Gesellschaftstransformationen

Analysen von Gesellschaftstransformationen, die einen disruptiven und holis- tischen Gestaltungsanspruch formulieren, sind in besonderer Weise herausge- fordert, diese Dimensionen empirisch und erklärungslogisch einzuholen. Wie oben diskutiert, schließt das die Langzeitigkeit der gesellschaftlichen Umwälzun- gen ebenso ein wie die Komplexität der zu berücksichtigenden Kontexte. Selbst-

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verständlich bedeutet der metatheoretische Imperativ von Ganzheitlichkeit und Langfristigkeit nicht, dass jede einzelne Erhebung oder Studie gezwungen wäre, auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu forschen oder mindestens 30 Jahre zu laufen. Es bedeutet aber, die Dimensionalitäten von Gesellschaftstransfor- mationen des postsozialistischen Typs als Kontextbedingung sowie als einbet- tende Struktur- und Prozessbestimmtheit anzuerkennen und theoretisch-metho- disch zu berücksichtigen. Daher sind nicht nur einfache Ausdehnungen von im Westen entwickelten Bevölkerungsumfragen und deren Semantiken auf den ost- europäischen Raum problematisch, insbesondere dann, wenn sie als alleiniges Erhebungsinstrument eingesetzt werden. Auch die Vernachlässigung des ›neo- liberalen Geistes‹ der Wirtschaftstransformationen der 1990er Jahre, der nicht nur eine Folge seiner Hegemonie im Westen und in den transnationalen Orga- nisationen (von IMF bis EU) war, sondern sich auch den staatskritischen Men- talitäten eines Großteils der neuen ostmitteleuropäischen Eliten z. B. in Polen, Ungarn oder dem Baltikum verdankte, plausibilisiert die Notwendigkeit, über die jeweiligen binnengesellschaftlichen Kontexte hinauszublicken. Die erst eine, teils sogar erst zwei Dekaden später wirklich erkennbaren (Neben-)Folgen der so grundierten ›Wirtschaftsreformen‹ etwa für die Verteilung des Produktivver- mögens, die Abwanderung junger qualifizierter Arbeitskräfte nach Westeuropa oder die Vulnerabilität gegenüber globalen Finanzmarktkrisen (2008/2009ff.) verdeutlichen darüber hinaus das Gebot einer langfristigen Beobachtung und Analyseperspektive.

Abstrakter und idealtypisch formuliert, fordern Gesellschaftstransformatio- nen ein Analyseraster ein, das einerseits unterschiedliche Zeit- und Raumebenen differenziert und zusammenbindet, die von der situativen und interaktiven Ebe- ne bis zur longue durée und dem Weltsystem reicht. Andererseits braucht es die analytische Integration differenter Dimensionen, Logiken und Folgedynamiken von (sozialem) Handeln und Struktur(um)bildungen, welche die materiellen und symbolischen Erbschaften der (vor- und staatssozialistischen) Vergangenheit und die Bedeutung von turbulenten politischen Akteurformierungen und -konflikten in der Transitionsphase für den Umbau der Basisinstitutionen ebenso in den Blick nimmt wie die Raumstrukturen und Sozialgeografien in ihren Wirkungen auf die Chancen und Ausmaße west-östlicher Transfer- und Austauschprozesse oder die klassen- und generationsspezifischen Erfahrungsaufschichtungen mit ihren Fol- gen für die Entfaltung gesellschaftlicher Transformationspfade (siehe etwa Ek- iert/Hanson 2003a; Elster u. a. 1998; Kollmorgen 2018; Magyar/Madlovics 2020;

Merkel 2010; Ther 2016).

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