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Hans Bergel. Blick auf Die Welt. Von Menschen, Masken und Mächten

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Hans Bergel

Blick auf Die

Welt

Von Menschen, Masken

und Mächten

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Hans Bergel Blick auf die Welt

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Hans Bergel

Blick auf die Welt

Von Menschen, Masken und Mächten

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ISBN 978-3-86813-053-9

© Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH Berlin 2017. Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung durch Edition Noack & Block, in der Frank & Timme GmbH,

Wittelsbacherstraße 27a, 10707 Berlin.

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

www.noack-block.de

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Für Helmut Beer, in Freundschaft und Dankbarkeit

„Der Blick auf die Welt ist umso ergiebiger, je mehr wir von der Welt wissen.“

Hans Bergel

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...9 Drei Sonnen. An Friedrich Nietzsches Grab ...11 Der „Weiße Mann“ und die Migration als Problem

seiner Zukunft. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Nordamerika – Europa ...13 Goethe und die Deutschen. „So achtbar im Einzelnen,

so miserabel im Ganzen“ ...25 Die Reflexion der Welt. Über das Leben und Sterben

der Kulturen ...33 Fünfzig Jahre im Fokus der Securitate. Von Verfolgungs- und Verhaftungsbefehlen, Denunzianten und Informanten, honorigen und weniger honorigen Persönlichkeiten ...45 Reiter durch die Jahrtausende. Diese Einzelgänger zu Pferde ...89

„Was soll denn noch mit diesen Menschen geschehen dürfen?“

Die Rede vor dem Kölner Dom 1982 ...101 Von der zärtlichen Macht des Todes. Gedanken über

eine Dichterin: Ana Blandiana ...113 Rot und Braun. Das Absurde als Normalität oder

Die heroische Mitte der Humanitas ...131

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„Der kristalline Mittelpunkt der abendländischen Tonwelt“.

Erich Bergel und die „Kunst der Fuge“ ...149

„Wahr allein ist das Geheimnis“. Alfred Margul-Sperber und die gefährlichen Begegnungen ...175 Helligkeiten und Dunkelheiten.

Hans Bergel über Hans Bergel ...193

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Vorwort

Die zwölf Texte dieses Bandes entstanden in den Jahrzehnten seit 1982 – eine vom Autor getroffene Auswahl von Essays, Studien und Abhandlungen, die einerseits thematisch weit auseinanderliegen, andererseits ihre Gegenwartsbezogenheit bewahrten.

So macht zunächst ihre Vielfalt neugierig. Sie ist Ausdruck der Hans Bergel nachgesagten „enzyklopädischen Sichtbreite“ (A. Con- nerth). Bei der Lektüre wird jedoch ihre Einheitlichkeit deutlich:

Die geistige Handschrift ihres Autors lässt sich nicht verkennen, Folge u. a. des unorthodoxen Blickwinkels. Das Anliegen – sei es philosophischer, politischer, künstlerischer oder gesellschaftlicher Natur – wird jedesmal ohne Rücksicht auf die Tagesmode oder den sanktionierten Kanon angesprochen. Klarheit, Gradlinigkeit der Aussage gelten seit jeher als Bergels Markenzeichen: Es sind sechzig Jahre, seit er in einem Bukarester Verlag die Erzählung „Fürst und Lautenschläger“, 1957, veröffentlichte – „ein Dokument des Wider- stands“ (P. Motzan), das „zur Legende wurde“ (N. May); die „ganze Erzählung ist ein Aufschrei in tyrannos“ (H. Mieskes). Sie machte den Namen des Autors schlagartig bekannt. Die kommunistische Justiz ahndete die Auflehnung mit der Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit.

Bergel blieb dieser frühen nonkonformistischen Haltung treu, auch als er in den Jahrzehnten 1969–1989 in der Bundesrepu blik Deutschland in der Öffentlichkeit offensiv auf die Missachtung der Menschenrechte in seinem Herkunftsland hinwies. Seit der Freigabe der Akten des kommunistischen Geheimdienstes Se- curitate wurde dessen Plan bekannt, den seit I968 in München lebenden Unbequemen zu entführen bzw. durch einen Freund nach Rumänien zu locken, um ihn festzunehmen. Der Buchautor,

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Journalist und ehemalige politische Häftling figuriert in den Ak- ten als „außerordentlich gefährlich für die Sicherheit des Staates“.

Die Ausführungen darüber („Fünfzig Jahre im Fokus der Securi- tate“) lesen sich nicht nur spannend wie ein Kriminalroman, sie sind auch ein Schriftstück bestürzender Entlarvung. Als spannend lassen sich auch die anderen Beiträge dieses Bandes bezeichnen, z. B. die kulturphilosophischen Gedanken zu Lebensdauer und Entwicklungsgesetzlichkeit des geistigen Europa („Die Reflexion der Welt“), Goethes Befindungen über die Deutschen („Goethe und die Deutschen“), die Beurteilungskriterien zur Frage der mächtigen Ideologien des 20. Jahrhunderts („Rot und Braun“), die Beobach- tungen über Gegenwart und Zukunft der weißen Rasse („Der

‚Weiße Mann‘ und die Migration als Problem seiner Zukunft“) oder die aufwühlende Rede 1982 vor dem Kölner Dom („Was soll denn noch mit diesen Menschen geschehen dürfen?“) etc.

Verständlich, dass einem Autor, der vor keinem inopportunen

„Zwischenruf“ (H. Böll) zurückschreckt, sobald er sich um der Sache willen herausgefordert weiß, neben Freunden und Bewunde- rern auch Gegner erwuchsen. Bergels stete und unbeirrbare Arbeit, doch ebenso die Tatsache, dass von ihm vorausgesagte Prozesse eintraten, bewirkten indessen das Ihre. Die hier veröffentlichten Arbeiten halten, nicht zuletzt, Situationen der Kultur- und Politik- geschichte unserer Epochen fest.

Der Verlag

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Drei Sonnen

An Friedrich Nietzsches Grab*

Drei Sonnen leuchteten am Himmel meiner Knaben- und Jugend- jahre. Sie erschienen am Horizont meines geistigen Erwachens in dieser Reihenfolge: Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich von Kleist, Friedrich Nietzsche.

Auf dreifach unterschiedliche Weise machten sie aus mir, dem Suchenden und Tastenden, einen Sehenden und Schauenden. Sie wiesen mir drei Fährten durch innere und äußere Lebenswirrnisse und -wildnisse, die ich mir nicht ausgesucht hatte, durch die hin- durchzugehen ich mich aber auf- und herausgefordert sah.

Die Strahlen der ersten Sonne beglückten mich früh mit der Er- leuchtung, dass alles Licht, das auf unser Tun und Lassen fällt, aus uns selbst kommen muss. Der Glutstrahl der zweiten Sonne traf mich im Innersten mit der Erkenntnis, dass erst die bis ins Letzte gebändigte Form unserem Anspruch Gesicht und Gewicht verleiht. Im Gewitter- licht der dritten Sonne schließlich begriff ich, dass wir unseren Weg täglich über unsere Grenzen hinaus gehen müssen, soll nicht bereits unsere Lebenszeit zu unserer Vergangenheit werden.

Im Laufe der Jahre verschmolzen die Strahlen der drei Sonnen trotz des Absolutums ihrer Gegensätzlichkeit zur Einheit. Sie blie-

* Ende Oktober 2016 trafen sich die Mitglieder des Exil P.E.N. Deutschsprachige Länder in Friedrich Nietzsches Geburtshaus in Röcken, Thüringen. Der Prä- sident des P.E.N.-Clubs, Wolfgang Schlott, hatte die Teilnehmer eingeladen, sich im Rahmen einer Gedenkveranstaltung an Nietzsches Grab im Garten des ehemaligen Pfarrhauses zu äußern. – In der kurz bemessenen Zeitspanne sprach Hans Bergel, seit vielen Jahren Club-Mitglied, über die „drei Sonnen“

am Himmel seiner Knaben- und Jugendjahre.

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ben es bis heute. Goethe – der Erwecker, Kleist – der Bändiger, Nietzsche – der Forderer. Gerüstet mit dieser Dreifaltigkeit, ent- sprach ich den wechselhaften Befindungen des Tages in der Regel nicht. Das stimmte mich gelegentlich über die Maßen nachdenk- lich. Doch dank ihrer lebte ich zunehmend in der Gewissheit, auf der richtigen Fährte zu sein. Ich verdanke ihnen, deren Botschaft mich auch in den unsäglichen Umdunkelungen der Zeiten erreich- te, das Überleben in dreifachem Sinne. Bis heute erhellt mir der Genius ihrer Leuchtkraft den Weg.

Ich denke, er wird es bis ans Ende meiner Tage tun.

Friedrich Nietzsche. Gipsabruck nach Max Klinger (1857–1920), 1902.

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Der „Weiße Mann“ und die Migration als Problem seiner Zukunft

Gemeinsamkeiten und Unterschiede Nordamerika – Europa*

Als die Regierung Kanadas 1971 ihre Innenpolitik des nationalen oder ethnischen Nebeneinander zum Gesetz formulierte, war ein Schlagwort aus der Taufe gehoben, das seither in zuneh- mendem Maße über Kanada hinaus an Bedeutung gewann:

Multikulturalismus. Das Multicultural-Gesetz Ottawas versucht, der minderheitlichen Bevölkerungskonstellation des Riesenstaates Rechnung zu tragen. Bei insgesamt rund 26 Millionen Einwoh- nern leben zwischen Halifax im Osten und Vancouver im Westen, zwischen dem Polarmeer im Norden und dem Erie-See im Süden 40% Anglo- und 27% Frankokanadier, 5% Deutsche, 3% Italiener und 2% Ukrainer. Hinzu kommen über 400.000 Holländer, fast 300.000 Chinesen, etwa ebensoviele Skandinavier, etwas weniger Juden, rund 250.000 Polen, jeweils gut über 100.000 Portugiesen, Griechen, Ungarn und Lateinamerikaner. Japaner, Vietnamesen und Schweizer zählen je zwischen 30.000 und 50.000.

Die fast drei Millionen Deutschen, die in den zehn kanadischen Provinzen und zwei Territorien leben – seit 1969 sind hier aufgrund des Official Language Act Englisch und Französisch die Staatsspra-

* Als Ergebnis mehrerer Reisen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durch Nordamerika fasste Hans Bergel seine Beobachtungen hinsichtlich der Migra- tionsfrage vor rund einem Vierteljahrhundert unter dem Titel „Der Weiße Mann und das Problem seiner Zukunft“ zusammen – „summarisch“, wie er betont. – Die – vorausblickenden – Ausführungen erschienen in der Münch- ner „Zeitschrift für Literatur und Kunst, Geschichte und Zeitgeschichte“, Heft 3/1993, „Südostdeutsche Vierteljahresblätter“.

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chen –, stammen aus Deutschland, aber auch aus Russland, aus Ungarn, aus Siebenbürgen und aus dem Banat in Rumänien, aus Böhmen, Pommern, Schlesien. Sie bilden die – uneinheitliche – drittstärkste Volksgruppe Kanadas. Ihre Namen füllen in den Te- lefonbüchern z. B. Kitcheners in der Provinz Ontario viele Seiten; sie gelten als vorbildliche Farmer, Unternehmer, Techniker und Fach- arbeiter. Ihre Klubs und landsmannschaftlichen Verbände – diese ohne das belastende politische Odium derer in Deutschland – er- freuen sich ebenso der modernen Multikultur-Gesetzgebung Kanadas wie die der Ukrainer, Italiener, Polen. Im Windschatten der aus den jahrelangen, bis heute nicht abgeklungenen Auseinander- setzungen zwischen den englischen und französischen Kanadiern hervorgegangenen liberalen Minderheitengesetzgebung, der es um die Bewahrung und Sicherung des inneren Friedens, ja sogar um die Verhinderung der Abspaltung der frankokanadischen Provinz Quebec ging, sind sie, wie alle anderen, Nutznießer der zur Zeit vielleicht modernsten gesetzlichen Regelung, die es weltweit hin- sichtlich der Kulturautonomie von Volksgruppen gibt, sieht man von den Irritationen ab, denen sich kanadische Regierungen im Umgang mit Indianern fallweise ausgesetzt zeigen. Wenn auch eine stattliche Reihe von Deutschen gegründeter Städte im Ersten Weltkrieg unter dem Einfluss der gegen Deutschland gerichteten englischen Propaganda ihren Namen wechseln musste und seither nichts geschah, um den chauvinistischen, die Geschichte verhöh- nenden Akt zu korrigieren – damals wurde aus „Berlin“ in Ontario

„Kitchener“ –, so erhielten sich Ortsnamen wie Hannover, Dresden, Breslau und andere. Kanada nahm nach dem Krieg massenweise Zuwanderer auf, vorzugsweise Europäer, darunter viele Deutsche.

Die global wachsende Menschenbewegung – die Vereinten Nationen sprechen derzeit von über 100 Millionen Flüchtlingen – veranlasste die kanadische Regierung vor einigen Jahren jedoch zu drastischer Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen:

Fachleute in Kanada gefragter Berufe, Unternehmensgründer, d. h.

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Arbeitsplatzbeschaffer, Heirat oder die Deponierung beträchtlicher Geldmittel – dies sind die Gruppen, denen sich das Land öffnet.

Die Bestimmungen sind auf eine durchdachte Selektionierung hin angelegt, das heißt, Kanada nimmt ausschließlich Menschen auf, die dem Land in der einen oder anderen Form nützlich, ihm also nicht zur Belastung werden. Sie richten sich aber auch gegen die immer drohendere Abhängigkeit vom mächtigen Nachbarn im Sü- den, USA, die sich zunächst finanz- und wirtschaftspolitisch äußert und ebenso kulturell als „US-amerikanischer Kulturimperialismus“

sichtbar wird, und sie richtet sich heute vor allem gegen den Import wachsender ethnischer Probleme aus den USA und dessen unab- sehbare gesellschaftliche Folgen. „Das europäisch geprägte Bild der USA zerfällt immer mehr“, ist dazu zu hören.

Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 42. Jahrgang, Folge 3, München1993.

Als Paradebeispiel wird von besorgten Kanadiern im Gespräch oft die Situation an der US-amerikanischen Westküste genannt, wo zwischen San Diego im Süden über Los Angeles bis Santa Clara, San Francisco und Berkeley im Norden, aber auch weit ostwärts ins Landesinnere hinein, die ostasiatischen Bevölkerungsgruppen nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Kulturanteile des US-ameri-

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kanischen Lebens bis in die Universitäten mitunter zu rund 60%

dominieren. Dass die USA nicht, wie lange angenommen, zum melting pot, zum Schmelztiegel der Nationen wurden, sondern im Gegenteil mit dem Anwachsen ihrer einzelnen Ethnien deren Eigenständigkeitsansprüche hinnehmen mussten, war eine Feststel- lung, die zuerst kanadische Kulturbeobachter machten. Im übrigen stünden melting-pot-Entwicklungen ja auch im genauen Gegensatz zur weltweiten regionalistischen Tendenz. Und dass prozentuale Bevölkerungsanteile nichts aussagen über die Sprengkraft kleiner, zunächst unbeachteter Ethnien – ist nicht gerade dies im heutigen Südosteuropa zum beunruhigenden Weltproblem angewachsen?

– veranschaulichen Kanadier derzeit gerne mit dem Hinweis auf die nur 50.000 Japanokanadier, die dennoch rund um die Uhr ein eigenes TV-Programm ausstrahlen, was weder die nach Millionen zählenden Deutsch-, noch die Italo- oder Ukrainokanadier für sich zu realisieren vermochten. Und vor kurzem machte ein US-ame- rikanischer Schriftsteller, Michael Crichton, mit einem Roman zur Frage der asiatischen, besonders der japanischen Zielstrebigkeit bei der Eroberung – das Wort gilt im eigentlichen Sinn – US-ameri- kanischer Wirtschafts- und Bildungsbereiche von sich reden: Das Buch „Nippon Connection“ wurde weitgehend wegen der Einar- beitung belegbarer Fakten zum Bestseller und verursachte bei nicht wenigen Amerikanern einen Schock, weil es die gesellschaftliche Sprengwirkung aufzeigt, die von einer eingewanderten und ihre Spezifika nicht preisgebenden Minderheitengruppe im Staatsgebilde ausgehen kann (deutsch 1992 bei Dromer-Knaur). Sind Crichtons Erkenntisse, mutatis mutandis, auf Europa übertragbar? Wie sehen die derzeitigen blutigen Ereignisse in Südosteuropa in ihrem Licht aus?

Wer Kanadas multikulturelle (-ethnische) Gesellschaft mit der Europas vergleicht, wird in den Statistiken demographischer Nach- zeichnungen beider lediglich unerhebliche Unterschiede feststellen und im übrigen nur noch einmal die Tatsache bestätigt finden,

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dass die globale Menschenbewegung das Bild des ausgehenden Jahrtausends bestimmt, wobei die Industrieländer der nördlichen Hemisphäre östlich wie westlich des Atlantik die Magneträume der Zuwanderung sind. Außer statistisch in Zahlen ausgedrückten Nuancen gibt es hier, so scheint es, keine Unterschiede zwischen den Industrieländern bzw. -kontinenten. Ob die hispanischen Mittelamerikaner, die in die USA drängen, dazu die Koreaner, die Japaner und die Chinesen, die es hierher und ebenso nach Kanada zieht wie die Europäer von Irland über Norwegen und Hessen bis Apulien, die sich in British-Columbia, Alberta und Ontario nieder- lassen, ob sich Schweden mit seinen fast 200.000 Finnen, mit den Balten, Deutschen, Polen und der Drittelmillion Südosteuropäer arrangieren, sich Frankreich auf die Marokkaner, Schwarzafrikaner, Südosteuropäer, Deutschland auf die Türken, Roma und Sinti oder all die anderen Zuwanderer einstellen muss: im Grunde weist dies alles im Bild der Statistik immer wieder allein auf das Migrations- phänomen unserer Tage hin und nicht mehr. Es lässt schon deshalb keine Differenzierungsinterpretation zu, weil es sich in jedem Fall um Menschen handelt, die aus dieser oder jener Notlage heraus zu Wanderern wurden.

Wie wenig Statistiken taugen, sobald sie über das Abstraktum der Zahl hinaus Auskunft geben sollen, ist eine Binsenweisheit.

Sie wird auch an der hier behandelten Frage deutlich. Denn die Verschärfung des Einwanderungsgesetzes in einem minderheiten- liberalen Land wie Kanada deutet – wenn auch verdeckt – auf die Tatsache dennoch bestehender Unterschiede in der Abwägung der Einwandererqualität hin. Was sich nämlich hinter Umschreibungen wie „Unternehmensgründung nebst Arbeitsplatzbeschaffung“ oder hinter der Präzisierung „Fachleute in Kanada gefragter, aus kana- dischen Ressourcen aber nicht besetzbarer Berufe“ abzeichnet, ist der Anspruch auf den aus geordneten Ausbildungs- und Berufs-, das heißt zwangsläufig in der Regel auch aus entsprechenden ge- sellschaftlichen Verhältnissen kommenden Einwanderer. Allein ihn

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ist Kanada bereit aufzunehmen. Es handelt sich somit um die Frage des cultural level, des Kulturniveaus, auf dessen den kanadischen Verhältnissen angemessenen Stand die Einwanderungsbehörde in Ottawa Gewicht legt. Und es ist unübersehbar, dass damit zugleich unter anderem auch die Frage der nationenübergreifenden Kul- turaffinität und des gemeinsamen geistigen Erbes angesprochen ist, die als eine Voraussetzung für die problemlose Integration des Eingewanderten ins kanadische Gesellschaftsgefüge erkannt wer- den. „In den USA besteht heute die Gefahr der Balkanisierung: des Auseinanderbrechens in Ethnien“, sagte ein kanadischer Diplomat in einem Gespräch in Ottawa, „dieser Gefahr werden wir in Kanada auf allen Ebenen entgegenwirken“.

Wie sehr die „nationenübergreifende Kulturaffinität“ in der Praxis ins Gewicht fallen kann, ist an den deutschkanadischen Gruppen der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen besonders leicht veranschaulicht. Wer Menschen dieser Kreise beobachtet, macht bald die aufschlussreiche Feststellung: Kultur- historische Prägung, europäisches Werteerbe wie Aufbau- und Organisationswille dieser Ethnien, die gesellschaftsstabilisierende Tendenz ihres Verhaltensverständnisses, das Pragmatische ihrer Le- bens- und Weitsicht machen sie dem angelsächsischen Kanadier von ihrer Anlage her in einem solchen Maße kulturell „verwandt“, dass ihre Eingliederung in das Gesellschaftsbild Kanadas bruchlos für beide Teile gelingt. Denn außer dem Sprachenwechsel stellen sich der Integration keine primären Schwierigkeiten entgegen, da es weder eine spezifische Differenz des Kulturbegriffs noch ein Kulturgefälle gibt. Geradezu auffallend fügen sich dabei vor allem die zum Teil in der dritten, vierten Generation dort lebenden Sie- benbürger Sachsen stilverwandt ins anglokanadische Umfeld ein – angefangen von ihrer dem Englischen oft sehr nahen Mundart bis hin zur Nüchternheit ihrer Lebenshaltung –, so dass sich sogar die Feststellung aufdrängt: Eher als in die oft von nervöser Dynamik und Ungeduld bestimmte Welt der Deutschen „passen“ sie in den

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von einer traditionell angelsächsischen Philosophie des Gleichmuts beherrschten kanadischen Lebensbereich. Doch generell gelten Feststellungen dieser Art für alle aus Europa stammenden Min- derheitengruppen in Kanada – die im Grundlegenden verbindende Kulturverwandtschaft europäischer Prägung ist unübersehbar. Was die aus ostasiatischen Kulturkreisen kommenden leistungspoten- ten Bevölkerungsgruppen angeht, gelingt, so ist von Kanadiern zu hören, deren Integration dank wirtschaftlicher Emsigkeit, An- passungsgeschicklichkeit, Genügsamkeit und, last, not least, dank religiös motivierter Inaggressivität fast bestürzend schnell – bestür- zend, weil dabei eine kulturell indifferente Wirtschaftspotenz am Werk ist, die auf jederlei moralische Hinterfragung verzichtet.

Europa hat es durch die aus den arabischen, afrikanischen Län- dern, die aus der islamischen Religionswelt Einwandernden, die aus dem indischen Kulturbereich stammenden Roma und Sinti hier mit einer wesentlich anders gelagerten Thematik zu tun, so dass die Frage der Einwanderung jenseits der Zahl eine Qualität erhält, die Einwanderung nicht gleich Einwanderung erscheinen lässt, ja, die jede Zahlenstatistik als unerheblich entlarvt. Das heißt, die Migration von Europäern innerhalb europäischer Länder stellt nur ein sekundäres Problem dar. Denn der europäische Kulturkon- nex umfasst Italiener, Briten, Deutsche, Franzosen, Skandinavier, Spanier, Polen etc. gleicherweise. Er bildet eine Klammer der Ge- meinsamkeit, die über die nationale Schattierung hinweg Bindekraft besitzt. Zum Problem kommt es in Europa somit weniger infolge der Migration europäischer Volksteile untereinander, als zunächst vielmehr infolge der kulturenüberschreitenden Migrationsbewegung.

Da Kulturzugehörigkeit unverzichtbarer erscheint als Nationszu- gehörigkeit, liegt in ihrem Fall die Ghetto-Bildung der Emigranten nahe. Die beiden nordamerikanischen Länder, sofern sie Europäer aufnehmen – was sie vorzugsweise tun –, haben dies Problem nicht, weil die kulturelle Umbettung des Europäers nach Nordamerika die Substanz seines Kulturverständnisses unberührt lässt, stößt er

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doch in Nordamerika auf eine in den Grundlagen immer noch eu- ropäisch geformte Gesellschaft. Bereits1935 schrieb Hemmingway allerdings: „Unsere Vorfahren sind nach Amerika gegangen … Ich würde jetzt woandershin gehen … Sollen die anderen ruhig nach Amerika kommen, die nicht wissen, dass sie zu spät kommen.“

Unterschiede zwischen der europäischen und nordamerikani- schen Einwanderungsfrage werden aber auch auf anderen Ebenen sichtbar. Sie liegen nicht zuletzt im Sozialen. Während Kanada den Einwanderungsengpass zum Filter für ausgewählte Menschen- gruppen macht – Berufsfachkräfte, Vermögende, etc. –, drängen in die mittel-, west- und nordeuropäischen Länder die Ärmsten der Armen aus den Zonen wirtschaftlicher Not, ja wirtschaftlichen Missstands, nicht selten auch die sozial Gescheiterten. Ihnen man- gelt es zur Existenzbehauptung im Heimatgebiet in der Regel an der Schul- und an der Berufsausbildung wie allgemein am cultural level. Dies Manko nehmen sie als Belastung in die Einwanderungs- länder mit. Noch stärker aber fällt auf der Skala der Unterschiede der Faktor Religion auf.

Das Bild unserer Epoche wird mitbestimmt durch die Redyna- misierung, die Revitalisierung des Islam. Sein offenes Bekenntnis zur Militanz bis hinein in den politischen Bereich gewinnt im Blick auf Europa eine besondere Dimension, wenn man sich vor Augen hält, dass derzeit auf europäischem Boden rund 25 Millionen Musli- me leben, daß fast jeder zehnte Bewohner Deutschlands ein Muslim ist oder dass Westeuropa über zehn Millionen Muslime beherbergt.

Die Tendenz zur Fundamentalisierung, die von Historikern mit dem Hinweis auf die ihr innewohnende Radikalisierung als einer der Grundantriebe unserer und vor allem der kommenden Epo- che bezeichnet wird, stellt eine Belastung jener Zukunftsperspektive dar, die die Idee friedlichen multikulturellen Nebeneinanders als gesellschaftlicher Konsens im Auge hat. Dem „Islam Council“, Lon- don, und seinen über zwei Dutzend Filialen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Benelux-Ländern, Öster-

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