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Von der Verlorenen zur konstruktiven Aggression.

Vortrag in Wien am 21.4.2012 Christine Gräff

Vielen Dank für die Einladung, dass ich heute mit ihnen , liebe Koll. und Koll.

meine Gedanken zur Aggressionshemmung teilen darf.

Die Symptomatik der Menschen, die heute unser Thema ist, wird ihnen nicht fremd sein. Sie begegnet uns in der Praxis mit Patienten, im Freundes-und Familienkreis, und bei gegebener Introspektion bei uns selbst.

Wenn ich ein Merkmal vorweg nehmen darf, das die meisten bei aller

Verschiedenheit gemeinsam haben, so ist das die Zurückhaltung, die sich im Verhalten, in der Körperhaltung, sowie im gesamten Bewegungsverhalten zeigt.

Von Erfahrungen mit Gewalttätigen kann ich ihnen nicht berichten, aber davon, wie sich Destruktivität bei aggr. gehemmten Menschen zeigt. Ihre Art der Selbst - und Fremdbeschädigung ist subtiler, versteckter, aber auch sehr schmerzhaft.

Sie zeichnet sich verstärkt durch Bewegungslosigkeit und Passivität aus.

Anhand von Fallvignetten möchte ich ihnen die körperlichen und

psychodynamischen Verhaltensweisen aufzeigen, mit denen wir es in der Arbeit mit aggressionsgehemmten Patienten zu tun haben. Wir stellen die Frage nach den möglichen Ursachen - wodurch sie ihr aggressives Potential verloren haben - und wie wir sie in der KBT unterstützen können es wieder zu erlangen.

Aggression ist ja gesund, ein Lebenstrieb, der notwendig ist zur Selbsterhaltung, Selbstverteidigung und den Selbstwert, zur Abwehr von physischen und

psychischen Schmerz.

Als ich vor langer Zeit mich für das Phänomen zu interessieren begann, warum gerade diejenigen, die sowieso nicht vom Glück im Leben verfolgt sind, so oft mit weiteren Schicksalsschlägen bedacht werden, fielen mir die Angepassten auf, die wenig Auffälligen, die grauen Mäuschen und Ja-Sager, und Menschen

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die eine Opferidentität haben. Es sind Menschen, die ihr ad gredere verloren hatten.

In einem meiner Seminare fiel mir eine Teilnehmerin durch ihr angepasstes, kontaktarmes Verhalten auf. Darauf von mir angesprochen sagte sie: „Ich habe gehofft, dass du mich entdeckst, denn aus eigener Kraft hätte ich es nicht geschafft anzusprechen, wie schlecht es mir geht.“ Ihr Verlangen entdeckt zu werden hat mich nachdenklich gestimmt. Wie viele Menschen in unserer Umgebung denken wohl so und hoffen ent-deckt zu werden? Bei wie vielen verbirgt sich hinter der Zurückhaltung ein Pulverfass, das sie unter großer

Anstrengung geschlossen halten?

Nicht erst seit dem Massaker in Erfurt vor 8 Jahren, als ein Schüler 16

Menschen, Lehrer wie Schüler in der Schule erschossen hat, wird deutlich, wie Unauffälligkeit in der Kategorie von auffälligem Verhalten gesehen werden muss. Der Täter hatte im Geheimen seine Pläne geschmiedet, und niemand wusste um seine Not, vielleicht wollte es auch niemand sehen, wie es wirklich um ihn stand. Später fand man von ihm eine Notiz, dass „alles keinen Sinn“

habe. Die Berliner Zeitung schrieb nach dem Erfurter Unglück: „Es gibt keinen Schutz als den, dass wir aufeinander achten“.

Seit Jahren führe ich Seminare durch, viele davon mit Ulrike Kühnel (auch in Wien), die unter dem Thema „Von der Verlorenen zur konstruktiven

Aggression“ oder „von der destruktiven zu konstruktiven Aggression“

ausgeschrieben sind. Es melden sich Menschen dazu an, die für ihre Affekte wie Zorn, Hass, Neid, Ärger über keine adäquaten Äußerungsmöglichkeiten

verfügen.Von ihnen erfuhren wir ihre Not, wenn diese bedrängenden Gefühle ihre Gemüter in Beschlag nehmen, Emotionen die da sind, die es aber eigentlich nicht geben dürfte – so hat man es ihnen zumindest beigebracht – und sich deshalb ein Abgrund von Scham und Schuld auftut, der sich lähmend auf sie auswirkt.

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Was sich bei einem Kind, das sich in seinen Aggressionsäußerungen

zurücknehmen musste einerseits nachteilig auf die Entwicklung auswirkt, kann ihm andererseits sein Überleben sichern. Dem Erwachsenen, der nicht gelernt hat sich anzunähern, etwas zu ergreifen oder in Besitz zu nehmen wird es zum Nachteil, wenn er in einer seiner wichtigsten Lebensäußerungen beschnitten wurde. Die Zurückhaltung blockiert das „ad gredere“, ein Hinausschreiten und Hinausgreifen in die Welt in friedlicher und konstruktiver Absicht, wie es der

ursprünglichen Bedeutung der Aggression zukommt. Heute wird unter Aggression mehr eine feindliche Annäherung verstanden.

Wir kennen die Sorge, Gefühle könnten uns überfluten und zu Handlungen führen, die sich zerstörerisch auswirken. Aggressionsgehemmte Menschen haben Ängste die Kontrolle über sich zu verlieren. Unter welchem Druck sie manchmal stehen, diese mörderische Kraft nicht zur Wirkung kommen zu lassen, wird an ihren Phantasien deutlich, wie sie dem Widersacher in ihrem Zorn begegnen, oder ihm etwas antun würden. Um all dies zu vermeiden, werden die Gefühle zurückgedrängt oder auf andere Menschen projiziert: die Partnerin, das Kind, den Untergebenen oder den Staat. Hass und Ärger werden in sich hineingefressen wenn sie niemand finden, dem gegenüber sie sich öffnen können. Durch übermäßige Nahrungszufuhr, Alkohol oder sonstige Suchtmittel findet manch anderer seine Notlösung mit der inneren Bedrängnis umzugehen.

Wer sagt ihnen im späteren Leben, dass diese heftigen Gefühle “normal“ sind, wenn „lieb-sein“ die vorgegebene Verhaltensform war?

Der Wunsch nach Bindung mit der Familie macht sie abhängig und loyal.

Wie sehr eine Patientin in ihrer Handlungskompetenz eingeschränkt wurde, wird in folgendem Beispiel deutlich:

Als ich Frau N. mit den KBT-Gegenständen in meiner Praxis vertraut machen wollte und ihr vorschlug die Materialien nicht nur zu betrachten, sondern auch anzufassen, verschränkte sie ihre Hände auf dem Rücken, machte eine

verneinende Kopfbewegung und blieb wie angewurzelt stehen. Auf meine

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Frage, was in ihr gerade vorgehe, gab sie keine Antwort. Erst als ich ihr einen auf der Heizung gewärmten Stein reichte, griff sie zu, bewegte ihn in den Händen und betrachtete aufmerksam seine Maserung. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn ich sie aufforderte sich KBT-Gegenstände für eine Gestaltung auszuwählen. Dagegen zögerte sie keinen Augenblick, wenn ich ihr die Dinge reichte.

Der Grund für ihre Zurückhaltung, wie sich später herausstellte, waren die Schläge der Mutter auf ihre Hände, wenn sie sich etwas nahm oder anfasste, wozu sie keine explizite Erlaubnis hatte. An den eng am Körper gehaltenen Armen wurde sichtbar, dass die Kindheitserfahrungen in ihrem Erwachsenenleben zu weit reichenden

Folgen geführt haben.

Die Voraussetzung, sich selbsttätig am Austausch mit der Welt - mit Mensch und Ding – zu beteiligen, war für ihren Reifungsprozess untergraben worden. Sich selbst etwas nehmen durfte die Patientin nicht. Noch heute wartete das Kind in ihr, bis man ihm gab und klagte an, dass es nie das Richtige war, was man ihm offerierte. In der weiteren Entwicklung versagte sie in mehrfacher Hinsicht in ihrer Lebensgestaltung, die von Hoffnungslosigkeit geprägt war. Da sie selbst ihre wenigen Impulse gar nicht durchsetzen konnte, verstand sie auch nicht, warum ihre Umwelt oft so ärgerlich auf sie reagierte, denn sie nahm sich ja nichts - den anderen auch nichts weg. In der Gegenübertragung merkte ich an meiner Ungeduld und Gereiztheit ein Verständnis für die Reaktionen ihrer Umgebung. Ihr passives Verhalten löste eine latent aggressive Stimmung zwischen uns aus und ließ mich manchmal an ihrem Widerstand verzweifeln. Mentzos weist darauf hin, „dass eine latente Aggressivität als Gegenübertragung gewertet werden kann, aber auch als Missmut über die

Hartnäckigkeit des Patienten“.

Mit zunehmender Bewusstheit, wie sehr sie um elementare Lernschritte in ihrer Kindheit betrogen worden war, kam mit ihrem Zorn auch das Gefühl für ihr

kindliches Verhalten, das ihre Umgebung so verärgerte, dass sie als erwachsene Frau noch ständig versorgt werden musste. Nachdem unsere Beziehung gefestigt war

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habe auch ich ihr vermehrt meinen Unwillen gezeigt, wenn sie mir ihre Unfähigkeit demonstrierte, sich selbst nichts nehmen zu können.

In den Therapiestunden stand das Thema „geben und nehmen“ ganz oben an. Wir übten Hand und Arm Ziel gerichtet auszustrecken- z.B. einen Gegenstand zu ergreifen und ihn zu sich herzuholen. Bewegungsweg erspüren. Wo bricht die Aufmerksamkeit in der Bewegung ab? Es kostete sie große Überwindung sich körperlich in den Zwischenraum von Mensch und den Dingen zu bewegen.

Das Einüben gerichteter Bewegungen ist in Einzelstunden und Gruppen ein wichtiges Übungsfeld. Die Absicht ist, ein Gespür für Bewegungsrichtungen zu entwickeln und den individuellen Bewegungsraum zu erkunden, um die leiblich- räumliche Orientierung zu fördern. Das ist deshalb so wichtig, weil der Raum, der sie um Armeslänge umgibt, wenig bewusst ist und dadurch von den Betreffenden weder belebt noch verteidigt werden kann. Viele klagen darüber, dass man ihnen körperlich zu nahe komme. Und da sie selbst bewegungslos sind und erstarren, können sie auch nicht die nötige Distanz herstellen.

Aggressionsgehemmte Menschen kennen häufig ihre Bedürfnisse gar nicht. Die fehlende Befriedigung ihrer Bedürfnisse hat sie stark gemacht im Ertragen,

Anpassen, Verzichten und im Sich-zurück-stellen. Angepasst an Lebensbedingungen haben sie gelernt, Wünsche der Bezugsperson zu erspüren. Die Anliegen der anderen sind zu ihren geworden und können nur schwer von den eigenen unterschieden

werden, oder werden widerstandslos übernommen, obwohl sie den Eigenen konträr sind.

Ein wesentlicher Teil der Arbeit mit den Patienten ist das Bewusstsein zu

entwickeln, in denen die verschiedenen Verhaltensmuster zum tragen kommen, z.B.

in welchen Situationen oder bei welchen Personen.

Einer der möglichen Schritte ist die Entwicklung einer präzisen Wahrnehmung, wo und auf welche Weise sich Affekte verkörpern. Viele Menschen betreten gänzlich fremdes Terrain wenn sie ihre Gefühle im Körper orten sollen. Beschreiben zu können wie ihr Körper auf Gefühle reagiert, braucht Übung. Durch die Umleitung

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der Affekte in den Körper beabsichtigen wir sie zu materialisieren, um auf diese Weise sie besser handhaben zu können. Mit „Handhaben“ der Affekte meine ich, über den fühlbar-fassbaren muskulären Zustand Einfluss auf das Befinden zu nehmen, um angemessen reagieren zu können.

Ein weiteres, uns ja bekanntes Vorgehen ist ein Symbol für ein Verhalten zu wählen, damit umzugehen und wahrzunehmen, wo im Körper Empfindungen auftreten.

Um aus der Hilflosigkeit heraus zu kommen, muss ich ein Bewusstsein erlangen, wie ich mich behindere, oder wann ich aus dem Kontakt gehe, wo ich mich zusammenziehe, damit ich für meinen Zustand zuständig werden kann.

Dazu habe ich ein Verfahren entwickelt, das ich „dimmen“ nenne, wo die Zustände zunächst verstärkt und dann langsam aufgelöst werden. Ich werde das morgen mit den Teilnehmern der Gruppe praktizieren.

Ebenso wichtig erscheint mir, dass Menschen sich für die Art sensibilisieren müssen, wie sie ihre Aggressionen leben. Es versetzt Menschen in höchstes Erstaunen, wenn sie hören, wie ihr passives Verhalten sich destruktiv auf die Beziehung auswirkt. Gar nicht reagieren – sich aus den Schwierigkeiten

heraushalten und den Mund halten – aus dem Raum gehen und es dem Partner oder der Partnerin „ihr Bier sein lassen“, was soll denn dabei falsch sein, wenn man niemanden etwas zuleide tut? Diese Art von Konfliktkultur ist von purer Verachtung geprägt! Sie ist zum gängigen und tolerierten Gesellschaftsspiel geworden.

Alexander Lowen bezeichnete sie als die schlimmste Form destruktiver Aggression.

In solchen Fällen muss geübt werden in der Gegenüberstellung zu bleiben, oder um einen zeitlich begrenzten Aufschub zu bitten um Luft zu schnappen, oder die

Gedanken zu sortieren, sowie zu lernen Kritik wohlmeinend zu äußern - dann kann sie vielleicht als Interesse an der eigenen Person akzeptiert werden. Wie die Wut oder der Ärger geäußert werden kann, hängt auch von der Konfliktfähigkeit der

Kontrahenten ab und wie wichtig ihnen das Gegenüber ist.

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Aggressionsgehemmte sind oft zornige Menschen. Ohnmächtig stehen sie aber ihrem fehlenden Ausdruck gegenüber und fühlen die Gefahr, ihre Abwehr nicht aufrecht halten zu können. Ehe sie sich in eine Handlung verstrickt sehen, die sie eine Minute später nicht mehr verantworten können, nehmen sie sich zurück.

Jirina Prekop hat in ihrem eindrücklichen Buch: “Hättest du mich festgehalten“

einen wichtigen Beitrag zum Thema „Halt“ geleistet. Durch sie aufmerksam

geworden hörte ich Patienten vermehrt von ihrem fehlenden Halt berichten und dies nicht nur bei Suchtgefährdeten, sondern bei Aggressionsgehemmten. Dieses

Bemühen um Halt wurde mir von einem Patienten vor Augen geführt.

Ein junger Mann suchte mich nach einem KBT-Kurs in Lindau auf, der das Thema

„Spielräume“ hatte. Dort wurde ihm bewusst, wie klein auch sein

Bewegungsspielraum ist, nachdem er seine seelische Eingeengtheit bereits in einer verbalen Psychotherapie bearbeitet hatte.

Er ist ein großer gut aussehender Mann, seine Körperhaltung leicht gebeugt, die Arme angelegt, den Blick nach unten gerichtet. Seine Symptome deuten auf eine Aggressionshemmung, die durch seinen biographischen Hintergrund bestätigt wird.

Er möchte sich über seinen Körper erfahren – da fühlt er sich ansprechbar. Ich bin beeindruckt von seinem systematischen Erwerb von Lebensraum, der sich durch die Körpererfahrungen vollzieht. Durch die Wahrnehmung seiner Körpergrenzen fand er Halt, den er dringend brauchte, um das innere An-sich-halten zu ersetzen. Zusätzlich hat er begonnen im Fitnesscenter Sport zu treiben, weil er merkte, dass das Gespür seiner Muskeln ihm einen festen inneren Halt gibt, den er oft in der Bestätigung im außen suchte.

Kurz zu seiner Biographie: Seit seinem 11. Lebensjahr hatte er das Gefühl unfrei und blockiert zu sein. Zu diesem Zeitpunkt zog sein Vater aus und überließ ihn und den Bruder der Mutter. Am Wochenende war der Vater jeweils da, aber die Eltern stritten sich bis zum Auszug am Sonntagabend. Die Mutter definierte sich

weitgehend über die Söhne, in dem sie sie hochstilisierte und Großartigkeiten über

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sie erzählte, die es nie gab. Er schämte sich der Mutter, dass sie log, zog sich zurück und machte sich, wie er sagte zum Neutrum, wollte unauffällig und unsichtbar sein und passte sich weitgehend an. Und heute schämt er sich, wenn er sich etwas nicht traut.

Ich will ihnen von einer der letzten Stunden erzählen, weil sie deutlich macht, wie ein fehlender Halt in Bewegungslosigkeit führt.

Er berichtete, dass er z.Z. nicht in der Lage sei, dringend anstehende Aufgaben zu erfüllen, die seinen weiteren Berufsweg in seiner ärztlichen Laufbahn betrafen.

„Erledige ich sie jetzt nicht, wirft mich das unweigerlich für ein Jahr zurück“, sagte er. Ich bat ihn einen Reifen für die derzeitige Situation auf den Boden zu legen und in den gefühlten Abstand einen Zweiten für sein Ziel. Stehen in dem ersten- Frage nach dem Körpererleben (seine Haltung war gebeugt, Blick nach unten auf den Boden gerichtet - die Arme hingen schlaff herunter) – „ich bin wie gelähmt, taub, leer“.

Aus dem Jetztkreis heraustreten – bewusst – auf den Zielkreis zugehen –

hineintreten – wie er sich da fühle – er hebt den Kopf, richtet sich im Rücken auf, blickt in die Ferne - da ist es gut. Ich regte ihn an ein paar Mal auf verschiedenen Wegen und unterschiedlichen Tempi hin - und herzugehen. Er ist erstaunt, wie ihn im Jetztkreis sofort eine Schwere erfasst und herunterzieht, und er im Zielkreis sich

„so selbstbewusst erlebe“. Ich bitte ihn sich Symbole für all die notwendigen Aufgaben zu wählen und sie nach Dringlichkeit zwischen die Reifen zu legen.

Dadurch war der Raum vom Jetztkreis zum Zielkreis durch mehrere Stationen unterbrochen und hatte nicht mehr die große abschreckende Wirkung. Nachdem er den Weg mehrmals abgegangen war und seine Bewegung wahrnahm (das ist gar nicht so einfach Bewegungen zu spüren!), fielen ihm auch die dazu notwendigen Ressourcen

ein, die er dazu mobilisieren musste, um seine Aufgaben anzugehen. Wichtig

erschien mir, dass er bereit war seinen Vater um etwas zu bitten, wozu dessen Hilfe besonders wertvoll für ihn ist. Auf den Vater offen zuzugehen und seine Hilfe zu

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erbitten, dem er immer noch böse war, dass er ihn der Mutter durch sein Weggehen überlassen hatte, war etwas Neues. Bisher rächte er sich durch ein passives

Verhalten an ihm. Beim nächsten Mal erzählte er zufrieden, was er alles schon von seinen Vorhaben umgesetzt und sogar dem Vater seine Wünsche unterbreitet habe.

Diese Stunde aus dem Therapieprozess habe ich gewählt, weil an ihm deutlich wird, wie seine Handlungsunfähigkeit seine Lebensgestaltung blockierte. Er kam erst aus der Lähmung heraus, als er durch die Unterteilung seines Spielraums Halt im außen fand. Für ihn war außerdem wichtig, dass er den auf den Boden fixierten Blick heben und nach vorne ausrichten und sich damit körperlich aufrichten konnte.

Zu den bisher aufgeführten Ursachen möchte ich einen wichtigen Punkt

hervorheben, auf den Bert Hellinger hingewiesen hat, der seiner Meinung nach der Ausschlaggebende für Aggressionshemmungen ist, und zwar die unterbrochene Hinbewegung des Kindes zur Mutter, bzw. einer frühen Bezugsperson. Das Gefühl, das diese Menschen begleitet, ist nie ganz auf der Welt, bei einem Menschen, im Dasein körperlich und seelisch angekommen zu sein. Betroffene sprechen von einer Glaswand, die sie von anderen Menschen trennt, von dem Gefühl nicht bei ihnen landen zu können, von latenten Kämpfen zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und gleichzeitiger Angst vor einem zu geringen Abstand. Bemerkenswerterweise sind es fast immer Abstände von 40-50cm, die diese Menschen von dem nicht zu

erreichenden Objekt trennen. In dieser Entfernung bleiben sie stehen, schauen hilflos drein und können sich weder vor- noch zurückbewegen. Nach den momentanen Körperempfindungen gefragt äußern sie: erstarrt - oder gelähmt – sein, sprechen von der Scham nicht das erreichen zu können was sie begehren. Es ist besser gar nicht den Versuch zu starten sich dem Gegenüber anzunähern, als dieses Schamgefühl zu ertragen, von dem wir schon im vorigen Beispiel gehört haben. Der Verlust der Eigenmächtigkeit hat häufig depressive Züge und stellt sie unter einen starken Leistungsdruck.

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Da ich in Einzelstunden die Übungspartnerin bin, erarbeite ich mit den Patienten zunächst, wie sie sich wieder entfernen können. “Sie dürfen kommen und wieder gehen“. Mit diesem Satz ermuntere ich sie, für sich eine Form zu finden, wie sie wieder die notwendige Distanz herstellen können.

Ich gehe davon aus, dass jemand zuerst in der Lage sein muss weg zu gehen, ehe er sich annähern und bleiben kann. Vor mir stehen nicht nur „die Kinder“, die nie bei ihren Müttern ganz angekommen sind und als Erfahrung eine missglückte

Wiederannäherungsphase hinter sich haben. Vor mir stehen auch Menschen, die eine zu enge Bindungserfahrung gemacht haben, die keine Eigenimpulse zuließ, und sie somit als Kind kein eigenes, wollendes, handelndes Ich entwickeln konnten.

Mit Rückwärtsschritten und einem besorgten Blick auf mich gerichtet, ob ich auch wirklich nicht böse aussehe, oder ob sie tatsächlich wiederkommen dürfen wenn sie einmal gegangen sind, starten sie die ersten Versuche. Sich umzudrehen, mich hinter sich zu lassen, die Augen auf ihren neu eingeschlagenen Weg zu richten ist die reifere Leistung. Erst wenn der Fluchtweg gesichert ist, erarbeiten wir das

langsame, systematische Sich-annähern. Bei jedem Schritt frage ich sie, mit welchen Empfindungen ihr Körper auf den verringerten Abstand antwortet. Die Gefühle, die dabei auftauchen, wie z.B. Angst, begegne ich mit dem Hinweis, sie durch einen veränderten Körperabstand zu regulieren, oder sie eine kleine Weile auszuhalten und neugierig werden, was danach kommt. Schafft es der Patient an der Grenze nicht zurück zu weichen, ist oft der Bann gebrochen. Manchmal vergehen so etliche Therapiestunden bis sie sich in meine Arme begeben können und die Erfahrung keinen Zentimeter mehr getrennt zu sein, nachhaltig in ihnen etwas zur Ruhe

brachte. Um ein Gefühl für DA-sein integrieren zu können, müssen Menschen nach meiner Erfahrung 1 mal im Leben das Gefühl gehabt haben, bei einem anderen Menschen angekommen zu sein, und zwar ganz körperlich,.

Vielleicht ist diese Einstimmung von Abstand und Nähe das Diffizilste in der Arbeit mit aggressionsgehemmten Menschen, weil es von beiden Seiten sehr viel

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Bereitschaft braucht, eventuell auch über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Wir Therapeutinnen und Therapeuten müssen dabei gut mit dem Ziel des Patienten und einer klaren Abgrenzung von eigenen Bedürfnissen verbunden sein.

Eines der eindruckvollsten Beispiele in diesem Zusammenhang, ist eine Sternstunde mit einer Frau, mit der ich auch nach Jahren noch in Kontakt bin und an ihrem weiteren Weg teilnehmen darf. Und da Therapeutenhimmel nicht von Sternstunden übersät ist, möchte ich ihnen eine erzählen.

Als meine Kollegin –ich weiß nicht mehr ob es Ulrike K. war, das soeben

beschriebene Angebot anleitete, sah ich, wie sich eine Teilnehmerin an den Rand setzte und uns wissen ließ, dass sie das nicht mitmachen wollte. Dort saß sie wie ein Häufchen Elend mit matten Augen. Als sie bemerkte, dass ich langsam auf sie zuging, stürmte sie zur Tür. Da ich etwas schneller dort anlangte als sie, konnte ich meine Arme ausbreiten und sie auffangen. Sie schrie, tobte und beschimpfte mich, bewegte sich aber keineswegs so, als ob sie sich aus der Umarmung lösen wollte.

Nach einer Weile ließ das Trommelfeuer nach und sie entspannte sich.

Diese halbe Stunde, die sie in meinen Armen weinte, sollte ein Wendepunkt in ihrem Leben werden. Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen und wenig mit den Freuden des Lebens gesegnet. Dafür war sie Gott und der Welt böse. Wie sie später mehrmals sagte, sei ihr das Wichtigste gewesen, dass ich sie nicht losgelassen habe, als sie mich beschimpfte. In diesem Halt konnte sie erst ihren Zorn

herausschreien, ehe sie Nähe spürte.

Vielleicht klingt es in den Ohren der Traumatherapeuten unter ihnen schlimm, wenn sie hören, dass man jemand unaufgefordert hält. Ich hatte Glück, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige gefunden zu haben. Von Anfang an war ich mir meiner ganz sicher, dass ich sie auf ihrem Fluchtweg aufhalten und ihr den Halt geben musste, den sie so dringend brauchte. Was zählt ist, dass du den entscheidenden Moment erwischst. Mit diesem Tag plumpste sie regelrecht ins Leben hinein, dem sie immer entfliehen wollte. Sie entwickelte eine Fähigkeit den Perspektivwechsel zu

vollziehen, der ihr sehr viele Energien gab.

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Eine weitere Tatsache, die im Kindesalter den Leben fördernden Aspekt der

Aggression untergräbt, ist die Bestrafung von Aggressionsäußerungen. Das gilt vor allem für Mädchen, die „lieb“ zu sein haben! Den Buben werden Äußerungen, die ihrer Entladung dienen eher nachgesehen als ihren Schwestern. Ihre Verweigerung äußert sich in einer körperlichen und emotionalen Panzerung. In zahlreichen Fällen erlebte ich, wie dann später die Ausdrucksformen fehlten, um sich als Erwachsene artikulieren oder entsprechend verhalten zu können. Selbst das kleine Wörtchen

„nein“ existierte nicht. Ihre Aggressionshemmung zeigt sich in der Coolness, in der Passivität, im Null-Bock. Aggressive Gefühlsäußerungen, die in der Kindheit

unterbunden werden, haben zur Folge, dass Erwachsene sich solcher Gefühle entweder gar nicht bewusst werden, oder sie sich anpassen, denn Regungen dieser Art werden oft mit Unheil assoziiert und lösen Schuldgefühle aus. Mit Krankheit, Todesdrohungen oder Unglücksverheißungen wird dem Kind vermittelt, dass sich sein unerwünschtes Verhalten zerstörerisch auf die Familie, den Vater, die Mutter auswirkt. Jedem Psychotherapeuten sind die skurrilsten Androhungen bekannt, die sich wie ein schwerer Kanaldeckel auf das Leben der Patienten gelegt haben.

Entweder sind sie später zu angepassten Jasagern geworden, oder fühlen sich ohnmächtig, gelähmt, träge und unzufrieden. Paralysiert sein entartet zur

kommunikativen Funktion. Die Folgen ungelebter Gefühlreaktionen sind gefährlich!

Sie sind die Brutstätte von Phantasien, die in ungezügelte Handlungen übergehen können, wenn nicht entsprechende Kanäle geschaffen werden. M.L.von Franz spricht von dem „durch Vernünftigkeit gekränkten Gefühl, das sich deshalb der Zerstörung zuwendet“.

Ich möchte ihnen eine Kostprobe geben, wie wir in Gruppen, aber auch in Einzelstunden, das Nein-sagen üben. Die Teilnehmer werden aufgefordert in verschiedenen Stellungen (Stehend-sitzend-liegend-gehend) und unterschiedlichen Lautstärken „nein“ zu sagen, ohne dabei auf die anderen Anwesenden Bezug zu nehmen. Auf diese Weise kann jeder seiner Wortbetonung nachhören. Lehrer, Eltern, Großmütter oder Tanten werden plötzlich im Raum mit deren Stimmen und

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Verboten präsent. Während ihrer Versuche stelle ich Fragen in den Raum, z.B.: Wie antwortet dein Körper auf das Nein? Was musst du tun, damit dein Nein an

Überzeugungskraft gewinnt? Gibt es begleitende Bewegungen die dein Nein verstärken? Wo schaust du hin wenn du nein sagst? Erst danach erfolgt die Beziehungsaufnahme mit einem Partner. Einer beginnt seinem Gegenüber

wiederholt nein zu sagen. Der Partner registriert, wann Wort und Haltung auf ihn überzeugend wirken und tut das mit einer wortlosen Geste kund. Nach einer Weile erfolgt ein verbaler Austausch.

Menschen denen es schwer fällt nein zu sagen, verhalten sich oft so als stünden sie einem Feind gegenüber. Ist das „Recht“ nein zu sagen, das Recht sich zu verweigern internalisiert, kann auch mit dem notwendigen Selbstverständnis und der

angezeigten Gelassenheit vom Nein Gebrauch gemacht werden. Um das zu erreichen bedarf es der Entkoppelung von Verboten aus der Kindheit, sowie der zusätzlichen Erfahrung, dass ein Nein zwar eine Trennung oder Ablehnung für diese momentane Situation ist, aber nicht die Trennung und Auflösung der Beziehung zur Folge hat – denn das sind die dahinter stehenden Ängste. Im allgemeinen, erfordert Ablehnung eine andere Distanz und ein variableres Verhalten als eine Zustimmung. Wir

probieren in den Gruppen aus, welchen Abstand die Betreffenden brauchen, um nein sagen und dabei ihr Gegenüber anschauen zu können. Oft ist schon ein kleiner

Schritt zurück oder zur Seite dabei hilfreich. Die Teilnehmer lernen wahrnehmen, wie ihr Blick und die Distanz ihnen die nötige Stabilität geben, um zu ihrem Wort stehen zu können.

Ähnlich wie mit dem „Nein“, verfahren wir mit dem Wort „Stopp“. Halt oder Stopp verdeutlichen die Aussage: „Bis hierher und nicht mehr weiter“. Die Teilnehmer bekommen die Gelegenheit auszuprobieren, durch Körperhaltung und Gesten ihre Grenzen aufzuzeigen.

Körpergrenzen spüren, Grenzen setzen, ist ein zentrales Anliegen in der Therapie bei aggressionsgehemmten Menschen. Die beste Verteidigung ist, in Bewegung zu

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bleiben und selbst für den Abstand zu sorgen, wenn das Gegenüber einem zu nahe auf den Pelz gerückt ist.

Dazu wieder ein Beispiel:

Ein junger Mann wurde mir von der Studentenberatungsstelle wegen depressiver Zustände und Autoritätsproblemen überwiesen. Dem Vorgespräch konnte ich nicht entnehmen, was sich mir durch einen späteren Handlungsteil erschloss. Ich bat ihn, sich eine Autoritätsperson aus seinem Umfeld vorzustellen und eine ihm

entsprechende Haltung einzunehmen. Er demonstrierte eine Körperhaltung mit nach vorne hängenden Schultern und eingefallenem Brustkorb, den Blick gesenkt. Diese Haltung bat ich ihn, möge er einfrieren, die Augen schließen, seine

Körperempfindungen, und seine Gefühle wahrnehmen. Es wurde ein Bild in ihm lebendig, wie er vor seinem Vater stand und über seine schulischen Leistungen Rapport erstatten musste. Hielt der Vater sie für ungenügend, bekam er Ohrfeigen oder wurde mit dem Stock geschlagen. Ein Ende fand das Drama erst, als er 17 Jähr.

zurückschlug, als der Vater gerade wieder auf ihn losgehen wollte. Aus seiner

Schilderung, in der er sehr lebendig wurde als er mir das demonstrierte, nahm ich die Bewegungen auf – Schritte und Armbewegungen – die auf seinen Vater ausgerichtet waren, und veranlasste ihn sie mehrmals zu wiederholen.

Die bewusste Wiederholung dieser Bewegungen, die ihm schon einmal verholfen hatten wehrhaft zu werden, stellte sich als die beste Ressource dar. Natürlich musste er sie heute so ausführen, dass er sein Gegenüber nicht verletzte und somit keinen Grund hatte zu erstarren. In der täglichen Praxis war es wichtig, dass er in

Bewegung blieb, z.B. das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, oder Rückwärtsschritte machte, und für den nötigen Abstand zu seinem Gegenüber sorgte. Diese kleine Aktion war für ihn von großem Wert, weil sie ihn aus der Hilflosigkeit in die Kraft der Handlung führte.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass bei der „verlorenen“ Aggression ein Verlust derjenigen Energie zu beklagen ist, die uns nach vorn – hin zu den Menschen in die Beziehung und Auseinandersetzung bringt.

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Ich komme zum Schluss. Was brauchen die Opferwilligen, Harmoniebedürftigen, Angepassten? Und wo geht es für diejenigen lang, die tickende Zeitbomben in sich tragen, Kontakte meiden und starr vor Angst sind?

Ich meine für alle geht der Weg nach vorne – in die Bewegung.

Das klingt ganz einfach! Aber wie schwer ist es den Mut aufzubringen und sich die Freiheit nehmen den Mund aufzumachen, sein Opferverhalten oder seine

masochistischen Vorwurfshaltungen zu hinterfragen. Für sie heißt es den Status der Wehrlosigkeit zu verlassen und durch Verantwortung Macht über sich zu gewinnen.

Und was besonders schwer für sie ist, ihr Misstrauen zu überwinden und Hilfe beim Einüben einer neuen Verhaltensweise in Anspruch zu nehmen.

Ich empfinde es sehr bereichernd mit den Menschen, die sich mir anvertraut haben, step by step zu erarbeiten wie sie ihre Energien, statt in die Zurückhaltung, in die Kraft nach vorne einsetzen können.

Auch ihnen wünsche ich dieses Glück, liebe Koll. und Koll.! Glück müssen wir dort haben, wo für uns Therapeuten Mut gefragt ist – da, wo es keine Sicherheit für Gelingen gibt.

Christine Gräff Mauerkircherstr. 94 D-81925 München Tel 089/980193

e-mail. Ch.Graeff@t-online.de

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