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Archiv "Chaos und Ordnung: Dynamische Systeme in der Medizin" (24.06.1991)

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1. Entwicklung und Perspektiven

Seit Thomas S. Kuhn's vielzitier- tem Werk „Die Struktur wissen- schaftlicher Revolutionen" (23) sind

„Paradigmen" und „Paradigmen- wechsel" so griffige Worte auch für kleinere Entwicklungen oder Ten- denzen geworden, daß sie heute ein wenig abgenutzt erscheinen: Wer spricht noch von „Beispielen" oder

„Mustern"? Allenfalls: von „Model- len" oder von „Theorien".

Dabei läßt die Wissenschaftsge- schichte der Neuzeit drei große Peri- oden erkennen: Newton und (unab- hängig von ihm) Leibniz gaben der Physik und Kosmologie eine feste statische Form, mathematisch in Form von Differentialgleichungen und Integralen, mit denen vergange- ne und künftige Entwicklungen be- schrieben werden konnten. Sie er- reichten einen gewissen Höhepunkt im strikten Determinismus Laplace's um den Beginn des 19. Jahrhunderts:

Wer sämtliche Einflußgrößen und ihre Wirkungen in der Zeit kennen.

würde (wie zum Beispiel der be- rühmte Laplace'sche „Dämon"), könnte alle künftigen Entwicklungen voraussagen. Schon mit dem Auf- kommen der Wahrscheinlichkeits- rechnungen durch Pascal, Fermat, die Bernoulli-Familie, Euler und an- dere im 17. und 18. Jahrhundert wur- de der Boden bereitet, gegenwärtige und künftige Wahrheiten oder Rea- litäten durch Wahrscheinlichkeiten (mit ihrem abgeschwächten Bestäti- gungsanspruch) zu ersetzen.

Für die Kosmologie, das heißt für den „Makrokosmos", ersetzte Einstein mit seiner Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie die Gesetze Newtons, die in diesem wei- teren System nach gewissen Korrek- turen noch einen Sonderfall darstel- len. Für den „Mikrokosmos" er- brachte die Unschärferelation Hei-

senbergs den Nachweis, daß uns, zum Beispiel hinsichtlich der Bewe- gungen der Elektronen im Atom, nur statistische Aussagen möglich sind, da Messungen als solche schon die Bahnen einzelner Elektronen verän- dern. Obwohl nichtlineare Differen- tialgleichungen seit langem bekannt sind, wurden sie in der Mathematik meines Wissens nicht weiter ange- wandt, weil sich keine oder nur weni- ge Formeln entwickeln ließen. Dies wohl zum Teil auch, weil sich nach Vollmer (40) im sogenannten „Me- sokosmos", also den im täglichen Le- ben und in den meisten Wissenschaf- ten gültigen Bereichen, mit den Newtonschen Gesetzen ganz gut le- ben und arbeiten läßt.

Mit Anfängen in den 60er Jah- ren, mit Höhepunkten zwischen 1970 und 1990, hat sich eine dynamische Betrachtungsweise entwickelt, die heute unter dem Begriff „Chaos- Theorie" zusammengefaßt wird. Sie wurde ursprünglich von Mathemati- kern, Physikern, Chemikern, Mete- orologen, Astronomen, Biologen, In- formationstheoretikern entwickelt.

Zugleich stellt sie eine Aufwertung der durch den Gebrauch digital pro- grammierter Computer etwas in den Hintergrund getretenen Geometrie dar. Diese Chaos-Theorie hat zwei berühmte Vorläufer: den französi- schen Mathematiker Henri Poincar (1845 bis 1912) und den Populations- genetiker F. P. Verhulst (Hauptar- beit 1845). Die Genannten und viele nach ihnen führten zu einer neuen Betrachtungsweise der Vorgänge der Natur, eben des dynamischen, nicht- linearen Verhaltens (9). Nichtlinea- rität ist dort, vor allem in expandie- renden Systemen, häufig. In heutiger Sicht ist die Natur sogar „erbar- mungslos nichtlinear" (9). Nichtline- are Gleichungen sind häufig unlös- bar; sie sind aber in der Natur eben- so wie in der Wirtschaft keineswegs selten, ja vielleicht die Regel.

In das Chaos können „Inseln der Ordnung" (5) eingestreut sein.

Gleick (9) faßte diesen grundlegen- den Paradigmen-Wechsel der letzten 40 Jahre zusammen in dem Satz:

„Die Relativitätstheorie beendete die Newtonsche Illusion von Raum und Zeit als absolute Kategorien; die Quantentheorie setzte der Newton- schen Vorstellung von einem exakt kontrollierbaren Meßprozeß ein En- de; und nun erledigt die Chaos- Theorie Laplace's Utopie einer de- terministischen Vorhersagbarkeit".

Nach Nicolis und Prigogine (29) le- ben wir in einer Zeit des Übergangs, die durch zwei Begriffspaare ge- kennzeichnet ist: reversibel und irre- versibel — deterministisch und sto- chastisch (zufallsbedingt). Da die Natur überwiegend nichtlinear ist, muß man immer mit „deterministi- schem Chaos" rechnen. Voraussagen sind nur kurzfristig möglich und mit Unsicherheiten behaftet. Zum Glück ist — nach Schuster (33) — „noch ge- nügend Raum für Überraschungen".

Mein medizinischer Kollege Hesch (20) meinte, daß sich unsere Angst gegen eine neue Ordnung richtet, die wir ahnen, aber noch nicht ganz verstehen können. Oder: „Die Wis-

senschaftler in aller Welt beginnen zu erkennen, daß die Mathematik der dynamischen Systeme den gäh- nenden Abgrund zwischen Theorie und Praxis überspannt" (36).

Dabei müssen wir uns freilich von der emotional negativen Beset- zung von Begriffen wie „Chaos" und

„Katastrophe" trennen und zum ur- sprünglichen (griechischen) Wort- sinn zurückkehren. Chaos war für die Griechen der über uns gähnende, nicht meßbare Weltraum (28). Der von dem französischen Mathemati- ker Thom (38) wieder aufgenomme- ne Begriff der Katastrophe bedeute- te zunächst (wertfrei) die Umkehr oder Wende, erst in zweiter Linie Zerstörung oder Unterwerfung (28)

— aber auch die Entstehung neuer Qualitäten, den Aufschwung (34).

Überraschenderweise haben die Chaos-Theorie und ihre Anwendun- gen — trotz ihrer grundlegenden Be- deutung und ihrer Darstellung auch in einigen Tageszeitungen (zum Bei- spiel 2, 12) — in der angewandten Medizin bisher wenig Berücksichti-

Rudolf Gross

Chaos und Ordnun

amische Systeme in der Medizin,

Dt. Ärztebl. 88, Heft 25/26, 24. Juni 1991 (75) A-2273

(2)

8 (inflationsbereinigt, in Prozent) 6

4 2 0

-2 -4 -6 -8

m suk

ILER DOLLAR:

Monatliche Auf- und Abwertung gegenüber der Mark

-10

1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988

Quelle: Richard N. Cooper

Abbildung 1: Wechselkurse D-Mark/Dollar: Zwischen 1962 und 1969 weitgehende Stabilität (Oszillationen < ± 2 Prozent), dann Übergang in Chaos. Aus B. Reszat: „Tornado in Texas", Wirtschaftswoche 22. 2. 1991, Seite 68, mit freundlicher Genehmigung

gung gefunden, eher beispielhaft in der Physiologie, in der Kardiologie, in der Hämatologie, in der Endokri- nologie, in der Neurologie und Psychiatrie.

Auch übergreifende Zusammen- fassungen wie die des Hyperzyklus von Eigen und Schuster (7) oder die Synergetik von Haken (14 bis 16) sind mit ihren weitreichenden Konse- quenzen in der Medizin wenig aufge- arbeitet.

Dieser Beitrag kann weder vom Umfang noch von den Voraussetzun-

2. Einige Grundbegriffe der Chaos-Theorie

Obwohl dieser Beitrag — wie be- tont — keine systematische Einfüh- rung geben kann, sollte sich auch der vielleicht nur am Rande interessierte Arzt mit einigen Grundbegriffen ver- traut machen, um die meines Erach- tens weitreichenden Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft zu verstehen. Dazu gehört, daß in der Wirtschaft, in der Soziologie, in der unbelebten wie in der belebten Natur Ordnung ebenso vorkommt wie Chaos (vielleicht: einer subtile- ren Form von Ordnung), ja: daß häu- fig Mischsysteme oder Intermitten-

gen her Darstellungen auf Hunder- ten von Seiten in wenige Spalten zwängen. Leicht lesbare Einführun- gen finden sich unter anderem bei 2, 3, 5, 9, 19, 20, 21, 22, 25, 32, 39, 43.

Mathematisch anspruchsvoller sind unter anderem 4, 13, 17, 27, 30, 33.

Wegen der nicht ausgebliebenen kri- tischen Stellungnahmen sei auf 1, 35, 41, 42 verwiesen. Die meisten der ge- nannten Werke enthalten reichlich weiterführende Literatur; eine sol- che hat für Mediziner besonders auch Tretter (39) erstellt.

zen vorliegen, zum Beispiel Chaos mit den bereits genannten „Inseln der Ordnung". Abbildung 1 zeigt aus einer trivialen Beziehung, den Wechselkursen von DM und $ über eine weite Strecke hin (1962 bis 1969) ein relativ stabiles Verhalten, dessen kleine Oszillationen (unter zwei Prozent) sich durch eine Gera- de approximieren lassen und Vor- aussagen gestatteten. Ab 1970 gin- gen die Wechselkurse in Chaos über, das keine verläßlichen Voraussagen mehr erlaubte.

Stationäres Verhalten oder Cha- os gilt auch für die belebte Natur — ein offenes System. Dabei ist das Le- ben weit von einem Gleichgewichts-

zustand entfernt (5, 8, 30a). Die wohlbekannten, hier nicht zu disku- tierenden Mechanismen schaffen Energie, die zum Aufbau („Morpho- genese") und zur Erhaltung ange- paßter und zweckmäßiger Struktu- ren erforderlich ist. So konnten mei- ne Lehrer H. und R. Lettrd schon in den frühen 50er Jahren zeigen, daß Amöben zur Erhaltung ihrer „Ruhe- form" ständig Energie benötigten und zum Beispiel auf Sauerstoffman- gel mit lebhaften, chaotischen Ver- änderungen ihrer Oberfläche reagie- ren. Heute stellt sich die bereits in der Literatur mehrfach (zum Bei- spiel 5, 6, 29) diskutierte Frage, ob Chaos unter gewissen Bedingungen eine Form der Selbsterhaltung ist (siehe auch Abschnitt 3). Nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik geht von der produzierten Energie immer etwas irreversibel verloren („Entropie"), oder — wie Prigogine und Mitarbeiter (29, 30a) es formu- lierten: Lebende Strukturen und ganz besonders evolvierende For- men sind dissipativ, das heißt Ener- gie verbrauchend (vom lateinischen dissipare = zerstreuen). Sie bedür- fen der steten Energieproduktion oder Energiezufuhr („Negentro- pie"). Nach Cramer (5) sind die mei- sten von der Biologie derzeit behan- A-2274 (76) Dt. Ärztebl. 88, Heft 25/26, 24. Juni 1991

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Abbildung 2: Periodenverdopplungsfolge und chaotischer Bereich der diskreten logisti- schen Gleichung xii+ 1 = loc„ (1 — x„). Für jeden k-Wert zwischen 2,8 und 4 ist die asymptoti- sche Trajektorie (;) dargestellt. Für k<3 läuft das System in ein Gleichgewicht, das sich bei k = 3 in einen Zyklus der Periode 2 aufspaltet. Bei k = 3,45 Aufspaltung in einen Zyklus der Periode 4 usw. Ab k 3,6 tritt Chaos auf mit der Einschränkung, daß für einige dieser k- Werte sich wieder stabile Zyklen, zum Beispiel der Periode 5 oder 3, ergeben. Computer- graphik freundlich zur Verfügung gestellt von Prof. an der Heiden, Herdecke/Witten delten Systeme nichtlinear. Sie ha-

ben Verzweigungen = Bifurkatio- nen (vom lateinischen forca = Ga- bel) und Bruchstellen. Dabei begün- stigt schwache Nichtlinearität die Er- reichung von Stabilität, starke das Eintreten von Chaos (36). Die Bahn- kurven (Trajektorien) können zu- nächst periodisch verlaufen (siehe Abbildung 2) und aus diesen Peri-

oden heraus, aber auch sofort in „de- terministisches Chaos" übergehen.

Trajektorien entwickeln sich im we- sentlichen zu drei Zustandstypen:

(1) Zulaufen auf ein Gleichgewicht;

(2) Zulaufen auf eine periodische Entwicklung; (3) Einmündung in Chaos.

„Deterministisch" besagt, daß bei gleichen Ausgangsbedingungen und ohne weitere äußere Einflüsse in etwa Voraussagen möglich sind.

Auch wenn einwirkende Störungen mehr oder weniger schnell „ausster- ben", bleibt das System „asym- ptotisch stabil" (29). Umgekehrt sind solche Systeme, wie schon Poincar feststellte, gegen auch geringe Ab- weichungen der Anfangsbedingun- gen sehr empfindlich. Darin liegt ei- ner der Haupteinwände (zum Bei- spiel 35) gegen die mathematische Erzeugung von Chaos mit 100, 1000 oder mehr Computeriterationen, bei der schon kleine Eingabefehler oder zu wenig Stellen hinter dem Komma zu beträchtlichen Folgen führen können. Das ändert meines Erach- tens am Verdienst der Pioniere der 60er oder 70er Jahre wenig.

Chaos bedeutet im modernen Sprachgebrauch Unordnung oder Ir- regularität (33), nach einer Definiti- on der Royal Society von 1986 den scheinbaren Widerspruch „stochasti- sches Verhalten in einem determini- stischen System" (36). F. Takens (zi- tiert bei 9) unterschied „bloße Stö- rungen" von „geordneter Unord- nung". Chaos macht Voraussagen über einen längeren Zeitraum hin unmöglich; es ist (für uns) „indeter- ministisch". Chaos kann nach Cra- mer (5) auch durch Zerfall von Ord- nung entstehen: „In vielen dynami- schen Prozessen werden bei Phasen- übergängen chaotische Situationen durchschritten, die sich dann zu neu- en, höheren Ordnungen stabilisie- ren" (5). Dies dürfte allerdings mehr

für das normale Wachstum und für die Evolution gelten als für die Krankheitslehre. Dort finden wir bei Degeneration, chronischen Entzün- dungen, vor allem aber bei malignem Wachstum primitive und gegenüber unseren Therapien oft besonders wi- derstandsfähige Systeme.

Zu den Grundbegriffen der Chaos-Therorie gehört der „Phasen- raum". Er kann (mathematisch) n Dimensionen umfassen und ist ge- kennzeichnet durch die wechselseiti- ge Beeinflussung physikalischer Grö-

ßen. In der Praxis beziehen sich mei- nes Erachtens die meisten Darstel- lungen allerdings auf nicht mehr als drei Dimensionen, also zum Beispiel Würfel oder Ellipsoide. Der Phasen- raum wird von Bahnen oder „Trajek- torien" (mit Bifurkationen, Faltun- gen usw.) durchzogen. Zum Chaos gibt es viele Wege; eine tabellarische Ubersicht befindet sich zum Beispiel in (33). Ein Beispiel in Anlehnung an Stewart (36): In der einfachen lo- gistischen Gleichung x, ±1 = loc, (1 — x,), mit k als Konstanten zwi- schen 0 und 4 und x als Variablen zur Zeit t, bleiben die Zustände für k bis etwa 3 stabil (stationär). Auch Tra- jektorien, die nur aus einem Punkt

bestehen, sind stabil. Wenn k 0-4 durchläuft, entwickeln sich sukzessiv die Zustände: stationär—periodisch- chaotisch. k = 3,0 gilt als „marginal stabil". Von 3,0 bis etwa 3,6 kommt es zu Periodenverdopplungen, da- nach zu Chaos (36). Unter „peri- odisch" versteht man hier die steten Wiederholungen eines Vorganges zur Zeit, das heißt: Es tritt nach ei- ner gewissen Zeit der gleiche Zu- stand wieder ein.

Nicht ganz leicht zu definieren sind zum Beispiel die an Punkte,

Kurven oder andere Strukturen des Phasenraums gebundenen Attrakto- ren. Sie können fehlen, ein- oder mehrfach vorhanden sein. Stewart (36) spricht hier von einem Teil des Phasenraums, zu dem jeder nähere Punkt hingezogen wird. Anspruchs- voller ist die Formulierung, daß in ei- nem Rückkoppelungsschema der Art x„ +1 = f(x„) bei asymptotischen Wiederholungen (Iterationen) die Trajektorien sich auf Attraktoren zu- entwickeln.

Eine der frühesten Entdeckun- gen in der Chaos-Theorie sind die meines Wissens von dem Meteorolo- gen Lorenz 1963 erstmals beschrie- benen „seltsamen Attraktoren", in Dt. Ärztebl. 88, Heft 25/26, 24. Juni 1991 (79) A-2277

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denen die Kurven (Trajektorien), ohne sich zu überschneiden, hin- und herlaufen. Seltsame Attraktoren gibt es in allen Systemen mit genügend vielen Dimensionen im Phasenraum (9 ).

Ich beende diese Art von Glos- sar der wichtigsten Grundbegriffe mit den beiden großen Familien pe- riodischer und chaotischer Systeme:

In „konservativen" (Hamiltonschen) Systemen bleiben die Volumina er- halten; die Kurven (Trajektorien) sind um einen oder mehrere Fix- punkte, zum Beispiel die Mittel- punkte eines Kreises oder einer El- lipse, mit überschneidungsfreien Verläufen gekennzeichnet. In dissi- pativen (Prigogineschen) Systemen

kommt es durch die Entropie zu ei- ner Schrumpfung; sie sind gekenn- zeichnet durch Symmetriebrechung, vielfältige Entwicklungsmöglichkei- ten, Korrelationen von makroskopi- scher Reichweite, zum Teil Irreversi- bilität. Nicolis und Prigogine (29) sprechen von der „Geburt der Kom- plexität".

Ein wesentliches Merkmal die- ser Komplexität sind die von Man- delbrot (1976, 1980) statt der ganzen Zahlen benutzten gebrochenen Di- mensionen, die sogenannten Frakta- le. In der einfachen Gleichung x n +]

= x2n + c variierten die französi- schen Mathematiker Julia sowie Fa-

3. Allgemeine Folge- rungen aus dynamischen Systemen

Wie eingangs betont, haben die Chaos-Theorie und die dynamische Betrachtungsweise einige grundle- gende Konsequenzen für unser Na- turverständnis und damit besonders für die Medizin. Zunächst macht die fraktale Anordnung (typisches Bei- spiel der Literatur: Küsten!) es erst möglich, daß auf relativ kleinem Raum (zum Beipiel Lunge, Darm) außerordentliche Austausch-Ober- flächen untergebracht sind.

Beispielhaft seien weiter ge- nannt unsere veränderte Einstellung zu Zufall, Wahrscheinlichkeit und Determinismus: Unter genau einge- haltenen Anfangsbedingungen und Fehlen oder Absterben äußerer Ein-

Abbildung 3: Soge- nannter „Mandel- brot"-Baum, aus dem das Titelbild auf die- sem Heft einen klei- nen Ausschnitt dar- stellt. Computergra- phik aus: H. 0. Peit- gen und P. H. Rich- ter, The Beauty of Fractals, Springer Berlin Heidelberg 1986, mit freundlicher Genehmigung

tou („Julia-Mengen") x, Mandelbrot auch c, wobei sie imaginäre Zahlen (zum Beispiel i = —1) mit reellen nach der Art a + bi verbanden und wiederholten (iterierten). Sie erhiel- ten dabei Computergraphiken von ungewöhnlicher Schönheit und zum Teil Naturähnlichkeit (27). Peitgen und Richter (siehe Titelbild und Ab- bildung 3) haben die Schönheit die- ser „Fraktale" zum Gegenstand zahl- reicher Ausstellungen im In- und Ausland und zu einem eindrucksvol- len Bildband gemacht (30). Er zeigt auf fast sensationelle Weise die enge Verbindung moderner (abstrakter) Kunst mit moderner Wissenschaft.

wirkungen ist auch das Chaos deter- ministisch, aber auf längere Sicht meist nicht vorhersagbar. Eng damit zusammen hängt die Frage der Kau- salität. Seifritz (32) und andere un- terschieden eine „starke" Kausalität („ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen") und den darin einge- schlossenen Fall der „schwachen"

Kausalität („gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen"). Die Chaos- Theorie erklärt, weshalb eine schein- bar sehr kleine und zu vernachlässi- gende Störung sich „aufschaukeln"

und das Ende deterministischer Vor- aussagen herbeiführen kann. Seifritz (32) bringt dazu eindrucksvolle Bei- spiele. Darüber hinaus: Wo gelten diese Unschärfen mehr als in der Medizin mit ihren zahlreichen Ein- flußgrößen wie krankmachendem Agens, individueller und wechseln-

der Reaktion des Wirts, seiner Um- gebung, seinem sozialen Umfeld?

Am Rande sei dazu vermerkt, daß auch der (Neo-)Darwinismus keine kausalen Zusammenhänge kennt.

Das zwingt uns zur Vorsicht bei Pro- gnosen. Sie werden gewöhnlich durch

Empirie gedeckt; sie werden aber be- kanntlich unzuverlässig in dem für die Medizin besonders wichtigen Einzelfall. Danach bedeutet im Begriffspaar „deterministisches Cha- os" (siehe auch die Definitionen im Abschnitt 2) deterministisch die Bei- behaltung der schwachen Kausalität, Chaos die Verletzung der starken Kausalität (32).

Wie schon betont, ist Chaos als solches nichts Negatives. Es bedeu- tet auch: Anpassungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit durch nichtli- neare dynamische Systeme, also eine Form von Abwehrreaktionen, die freilich bis zur Unvereinbarkeit mit dem Leben führen können. Wir ha- ben dies schon früher in einer allge- meinen Krankheitsdefinition zum Ausdruck gebracht (10). Schließlich scheint die außerordentliche Kom- plexität unseres Gehirns es zu er- möglichen, Zusammenhänge (intui- tiv?) zu erfassen, bevor sie errechnet werden können (5, 18, 20).

4. Spezielle Anwen- dungen in der Medizin In der praktischen Medizin ha- ben Chaos-Theorien oder dynami- sche Betrachtungsweisen noch nicht A-2278 (80) Dt. Ärztebl. 88, Heft 25/26, 24. Juni 1991

(5)

Abbildung 4: Reproduk- tion von Elektrokardio- grammen: a) normales EKG („Stabilität"); b) re- gelmäßig einfallende Kammerextrasystolen („Bigenimus"); c) auf ei- nen Normalschlag fol- gen zwei ähnlich ge- formte Extrasystolen („Trigenimus"); d) Kam- merflimmern. (b) und (c) sind Beispiele einer Periodik; (d) ist ein Bei- spiel für Chaos - freundlich zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. B.

Lüderitz, Medizinische Universitätsklinik Bonn

die Beachtung gefunden, die sie ver- dienen. So kann man Krankheit auch als Erstarrung, als Aufhören natürli- cher Oszillationen auffassen oder Oszillieren von Systemen, die nor- malerweise im Ruhezustand verhar- ren (8). Bisher erschienen in meiner Kenntnis mehr exemplarische Bei- spiele (besonders bei 3, 18-20, 24-26, 39-46).

Dazu gehören vor allem Beispie- le aus der Chronobiologie, zum Bei- spiel die langfristig unerklärten sel- tenen Beispiele periodischen Fie- bers, periodischer Neutropenie und andere mehr (25).

Im Prinzip gut erklärbar sind die jedem auf Intensivstationen tätigen Arzt geläufigen Formen unterbro- chenen Atmens in der Form von Cheyne-Stokes (allmählich begin- nende und abklingende Atempau- sen) oder der selteneren Form von Biot (Pausen aus vollen Atemzügen heraus). Sie beruhen auf einem ver- minderten Ansprechen des Atem- zentrums auf die CO 2-Spannung im Blut. Dazu gehört auch mindestens ein Teil der Fälle plötzlichen nächtli- chen Kindstods („SIDS = Sudden- Infant-Death-Syndrome").

Auch bei den Blutzellen gibt es — allerdings nicht als Regel — periodi- sche, auf die Stammzellen bezogene Schwankungen zwischen niedrigen und normalen Werten, die sich auch an Tieren bestätigen ließen (3, 8, 24, 26).

Mackey und an der Heiden ha- ben alle diese relativ seltenen Beob- achtungen mit Recht als dynamische Krankheiten beziehungsweise dyna- mische Störungen bezeichnet. Aller- dings sollte man nicht jede peri- odisch wiederkehrende Erscheinung

„dynamisch" erklären: So handelt es sich beim periodischen Fieber etwa einer Malaria tertiana oder quartana um einfache, in der Biologie des Er- regers gelegene und gut erklärbare Phänomene, die keiner besonderen Mathematik bedürfen.

Am eindrucksvollsten und häu- figsten sind zweifellos die Rhythmus- störungen des Herzens. Wenn ich mich recht entsinne, meinte schon der Wiener Kardiologe Wencke- bach, daß 90 Prozent aller Menschen irgendwann Extrasystolen hätten, daß 20 bis 30 Prozent sie bemerken würden, und daß fünf bis zehn Pro- zent darunter litten. Dabei ist am Herzen zwischen atemabhängigen, aber gleichmäßig geformten Systolen und Extrasystolen zu differenzieren.

Diese können isoliert oder peri- odisch regelmäßig einfallen, zum Beispiel als Bigeminus, Trigeminus usw., von unterschiedlichem Aus- gang, unterschiedlicher Form, puls- bestimmender Kammerfüllung usw.

sein (Abbildung 4). Dafür gibt es die von dem amerikanischen Kardiolo- gen Lown erstellte bekannte Eintei- lung. Die Überlagerung mehrerer Perioden führt meist zur Quasiperi-

odizität, die mathematisch durch den schon von Poincare charakterisierten Torus (lateinisch = Wulst oder Kranz) ihren Ausdruck findet. Kam- merflimmern schließlich ist eine oh- ne Eingriff tödliche, da hämodyna- misch unwirksame Form des Über- gangs in Chaos und zugleich die häu- figste Todesursache bei Herzinfarkt.

Diese einfachen Darstellungen sollen die ärztlich tätigen Kollegen veranlassen, der Chronobiologie, der Periodizität und dem Chaos, aber auch der Unsicherheit individueller Prognosen noch mehr Aufmerksam- keit als bisher zu schenken.

Dank: Ich danke den Herren Professoren H. 0. Peitgen und P. H. Richter (Bremen) (siehe auch in 30) für die Erlaubnis, zwei ihrer Computergraphiken zu benutzen (Titelbilder), Frau Dr. B. Reszat und der Wirtschaftswoche Hamburg sowie Pro- fessor B. Lüderitz (Bonn) für die freundli- che Überlassung von Abbildungen sowie besonders Professor U. an der Heiden (Herdecke/Witten) für wertvolle Anregun- gen und für die Computergraphik Abbil- dung 2.

Die Zahlen im Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Rudolf Gross

Herbert-Lewin-Straße 5 W-5000 Köln 41

Dt. Ärztebl. 88, Heft 25/26, 24. Juni 1991 (83) A-2281

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