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Frühlings gefühle

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Academic year: 2022

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eine wetterfühligen Patienten fühlen immer nur das Schlechte – das Reissen in den Glie- dern bei Kälte und Kopfweh bei Föhn. Im Frühling leiden sie unter Frühlingsmüdigkeit, im Winter unter Winterdepression, und zwar bereits im Sep- tember. Der Unternehmer flucht über die Frühlings- messe, obwohl er dort seine Auftragsbücher füllt, den Modedesigner stresst die Frühlingsmodenschau, obwohl er dort seine hinreissendsten Kreationen zeigt. Die Hausfrauen stöhnen über die Frühlings - putzete, obwohl ihr Haus danach ein Juwel ist. Die Bauern klagen im Vorfrühling über die Aussaat des Sommergetreides, im Erstfrühling über die Aussaat von Kartoffeln und Futterrüben, im Vollfrühling über die mickrig aufgegangene Wintergetreidesaat. Aber Bauern jammern immer, sie werden im Frühsommer über die Heuernte meckern und im Hochsommer über die Getreideernte. Und wenn sie schliesslich im Herbst eine Rekordernte von Rüben, Kartoffeln und Obst eingefahren haben, werden sie reklamieren, dass dies die Preise fallen lässt …

Patient K. studiert die im Jahresablauf wiederkeh- renden Erscheinungen in der Natur und befasst sich mit Ökologie und Biogeografie. Ihn fasziniert das

«phänologische Jahr». Es besteht aus zehn Jahres - zeiten, die man an den Entwicklungsstadien von

«Zeigerpflanzen» erkennt. Zurzeit sind dies Aruncus sylvestri und Alopecurus pratensis. Zwar kenne ich die Pflanzen nicht, aber sie hören sich gut an. Mein Apothekerfreund klärt mich auf: Waldgeissbart und Wiesenfuchsschwanz. Am phänologischen Jahr ge- fällt mir besonders, dass es nur einen Winter kennt, aber je drei Arten von Frühling, Sommer und Herbst.

Einmal Winter ist doch genug, finden Sie das nicht auch? Hingegen «Hochsommer», «Vollherbst» – klingt das nicht wunderbar? Auf jeden Fall sinnlicher als die astronomische Definition des Frühlingsbeginns, die etwas mit Ekliptik und Koordinatensystemen zu tun hat: Am Äquinoktium, an der Tagundnacht- gleiche ist der Lenz da. Kalendarisch auf der Nord- halbkugel am 20. oder 21., in seltenen Fällen bereits am 19. März. Standardisiert lassen ihn die Meteoro- logen hingegen schon am 1. März beginnen – egal, ob die Schneeglöckchen blühen. Sehr vernünftig – der Frühling kann gar nicht früh genug beginnen.

Längst hat der Kommerz das erkannt: In den Läden ist ab Februar alles rosa, zitronengelb und lindgrün, Spezialangebote für Frühlingsputzete-Material und Valentinstag sind da. Kaum ist der letzte Weih- nachtsmann verkauft, kommt die Fastnacht mit pas- tellfarbigem Konfettideko, dicht gefolgt von bunten Eiern und dem Aufmarsch der Hasen und Küken.

Inzwischen schmücken künstliche Kirschblüten die Auslagen, die ersten Mohn- und Kornblumenattrap- pen blühen bereits auf. In der Natur hat das Blühen leider Nebenwirkungen: das Immunsystem meiner Patienten zeigt an, dass die Pollen fliegen. Schluss mit Kurzzeitdesensibilisierungen. Unmengen von Antihistaminika rezeptieren. Niesend, mit tränen- den Augen und verstopfter Nase kommt die pensio- nierte Biochemikerin. Sie ist 1968 aus der Slowakei emigriert. Wir plaudern über den Prager Frühling, ihre Pollinosis und Hormone. Sie kichert: «Es ist zwar von der Wissenschaft noch nicht eindeutig be- wiesen, was die Hormone im Frühling machen, aber ich habe Frühlingsgefühle. Zudem bin ich in einem Alter, in dem man sich einen zweiten Frühling gön- nen darf.» Ihr Mann, ein Gentleman der alten Schule, mit einem zirbeldrüsigen Glitzern in den Augen, tigert im Wartezimmer umher. Als die beiden Arm in Arm die Praxis verlassen, ist das Romantik pur. Genau wie das herrlich kitschige Bild, das der Automechanikerlehrling mit dem Bänderriss von seiner Freundin auf seinen Gips gemalt bekam. Ich lese Goethes «Frühling über’s Jahr», das klassische Gärntergedicht, und Heines erotisches «Es kommt der Lenz mit dem Hochzeitgeschenk». Ich alter Haus- arzt geniesse den Spaziergang durch eine Linden - allee, freue mich auf die Gartensaison, nehme alles lockerer. Hölderlins «Frühling» schliesst mit den Zeilen: «Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele, so sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.» Bei einem Festessen im Grünen (Bärlauch- süppchen, Spargel, junge Kartoffeln und Schinken, Erdbeeren mit Rahm, Maibowle) wünsche ich mir, dass alle meine Patienten das «blaue Band» von Mörike sehen und durch die Lüfte flattern spüren, dass sie den «leisen Harfenton» des Frühlings ver- nehmen.

arsenicum

Frühlings gefühle

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ARS MEDICI 9 2009

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