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Erkenntnis und sexuelle Liebe bei Plato

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Erkenntnis und sexuelle Liebe bei Plato

und Bacon*

Wenn wir Naturwissenschaft als das Bestreben definieren, verläßlich Kenntnis von der natürlichen Welt zu erlangen, dann sprechen wir von einem transkulturellen und transhistorischen menschlichen Bemühen. Aber wenn wir Naturwissenschaft konventio- nell definieren - als das , was jene Personen, die wir Wissenschaftler nennen, tun - dann sprechen wir von einer besonderen Form, die dieses Streben seit dem 17. Jahrhundert in der westlichen Gesellschaft angenommen hat. Obwohl die genaue Abgrenzung dieser Form durch die Vielfalt der Praktiken erschwert wird, die man unter die Rubrik „moderne Naturwissenschaft" subsumiert, sind ihre normativen Dimensionen - die Werte, Ziele und Annahmen der Ideologie der modernen Wissenschaft - relativ klar. Um besser zu verstehen, wie diese Normen das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis berühren, ist es sinnvoll, etwas zurückzugehen und nach anderen Formen zu fragen, welche dasselbe Streben in der Vergangenheit angenommen hat.

Wenn wir das tun, entdecken wir, daß nicht nur unsere Vorstellungen, wie eine verläßliche Erkenntnis der natürlichen Welt zu erlangen sei, je nach Zeit und Ort variiert, sondern ebenso, und damit im Zusammenhang, unsere Definition von Erkenntnis und von Natur.

Jenseits dieser Variationen ist die primäre Frage für alle Vorstellungen von Wissenschaft die, wie wir erkennen können. Diese Frage nimmt zweifache Gestalt an: erstens, was macht Erkenntnis möglich (die theoretische), und zweitens, wie können wir diese Erkenntnis erwerben (die praktische). Es ist unvermeidlich, daß die Antworten auf beide Fragen durch die zugrundeliegenden Vorstellungen von Bewußtsein und Natur, Subjekt und Objekt zusammenhängen. Diese zugrundeliegenden Vorstellungen diktieren die Relation zwischen Bewußtsein und Natur, die man annehmen muß, um sich über Erkenntnis klar zu werden. Ohne Vermittlung, Gemeinsamkeit oder Verkehr zwischen Subjekt und Objekt ist Erkenntnis nicht möglich.

Die gebräuchlichste Metapher für eine solche Vermittlung war in der westlichen Geschichte die sexuelle Beziehung: Erkenntnis ist eine Form der Erfüllung, ebenso wie

* Dieser Aufsatz entspricht in etwa dem ersten Kapitel „Love and Sex in Plato's Epistemology" des Buches von Evelyn Fox Keller, Reflections on Gender and Science, das im Sommer 1985 bei der Yale University Press erscheinen wird. © 1985 by Yale University

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sexuelle Liebe eine Form der Erkenntnis ist. Beide werden angetrieben vom Verlangen.

Schließlich bleibt die sexuelle Liebe, ob in der Phantasie, der Erfahrung oder als sprachliches Bild das zwingendste und ursprünglichste Beispiel, das wir für den Akt der Erkenntnis haben. Selbst noch in der Verleugnung wurzelt die Erkenntniserfahrung im Fleischlichen. Jedoch bleibt sie nicht da. Was die Erkenntnis auszeichnet, ist, daß sie wesensmäßig vom Körper wegdrängt; sie strebt danach, das Fleischliche zu transzendie- ren. Das Bewußtsein ist nicht einfach der Materie immanent; es transzendiert sie. Alle Vorstellungen von Erkenntnis müssen sich folglich mit der Dialektik von Immanenz und Transzendenz auseinandersetzen. Was besonders auffallt ist, wie oft das metaphorische Feld dieser Auseinandersetzung das von Sexualität und Geschlecht ist.

Aber wenn auch die zentrale Stellung der Sexualität für westliche Erkenntnisbegriffe kulturell invariant ist, so ist es die Bedeutung von Sexualität und Geschlecht nicht. In jeder Kultur reflektieren die Begriffe von Sexualität und Geschlecht die Sehnsüchte und Träume der Menschen, die ihnen Ausdruck gaben, ebenso wie die Besonderheiten der Gesellschaf- ten, die sie als die ihren annahmen. Zur Illustration, wie diese Begriffe von Sexualität und Geschlecht sich auf Erkenntnisbegriffe auswirken, möchte ich die Vorstellungen Piatos denen Bacons gegenüberstellen. Ich wähle Plato und Bacon, um zwei Momente der intellektuellen Geschichte des Westens darzustellen - Momente, die im neuzeitlichen Erbe eng verbunden sind, aber deren Unterschiede für das Verständnis der kulturellen Spezifika der besonderen Beziehung von Bewußtsein und Natur, auf der unsere eigene Wissenschaft basiert, entscheidend wichtig sind.

Plato war der erste Autor in unserer Tradition, der von der Sprache der Sexualität expliziten Gebrauch für die Erkenntnis machte. Tatsächlich weist seine Verwendung der Sprache der Sexualität - die direkt proportional zur Nähe des Erkennenden zum Erkannten mehr und mehr explizit wird - auf eine philosophische Funktion seiner Sexualmetaphern hin, die in sich und an sich der Erklärung bedarf. Zu diesem Zwecke ist es sinnvoll, mit dem Versuch anzufangen, Piatos philosophische Bemühungen im historischen Kontext zu lokalisieren und zu sehen, wie er es sich zur Hauptaufgabe machte, die Problematik zu lösen, die das Erbe seiner Kultur war. Für Plato wie für frühere griechische Denker waren Bewußtsein und Natur durch einen gemeinsamen Wesenszug verbunden und durch einen wesentlichen Unterschied getrennt. Ihre Gemeinsamkeit war durch so etwas wie eine linguistische Konvention garantiert. Der Gebrauch des Wortes logos - das gleichzeitig auf eine Eigenschaft des Bewußtseins und auf eine Eigenschaft der Welt verweist - reflektiert und etabliert zugleich die begriffliche Verbindung von beiden.

Seine Doppelbedeutung überlebt in der Zweideutigkeit des Wortes rational. Logos verweist gleichzeitig auf das Erklärliche oder Meßbare und auf diejenige Denkweise, die Rechtfertigungen oder Gründe hervorbringt. Nach einem Zitat von Vlastos hatten die frühen griechischen Denker

„die physische Natur selbst mit den Attributen der Vernunft ausgestattet. [...] Sie waren so von der Entdeckung gefangen, daß die Natur rational war, daß sie nie innehielten, um zwischen den Kategorien der Begreifbarkeit und des Begreifens zu unterscheiden. [...] Logos .erklärt', sowohl im aktiven Sinne des Erklärens wie auch im objektiven Sinne des Wesens der Dinge, das sie derart erklärlich sein läßt" (Vlastos, 1970, S. 89).

Diese Eigenschaft der Rationalität, eine Eigenschaft, die Bewußtsein und Natur gemeinsam ist, lieferte die Grundlagen einer symmetrischen Verbindung zwischen ihnen.

Das Bewußtsein war natürlich, und die Natur war von Bewußtsein durchtränkt.

Collingwood schreibt:

„Die griechische Naturwissenschaft gründete sich auf das Prinzip, daß die Welt der Natur von Bewußtsein gesättigt oder durchdrungen ist. Griechische Denker sahen die Präsenz des Bewußtseins

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in dir Natur als den Ursprung jener geregelten Ordnung in der natürlichen Welt, deren Vorhndensein eine Naturwissenschaft möglich machte" (Collingwood, 1945, S. 3).

De Natur jedoch ist nicht dem Logos verpflichtet: sie bleibt in einer essentiellen Duaität gefangen. Sie ist zwar in mancher Beziehung dem Lichte der Vernunft und Ordiung Untertan, aber sie ist auch eingesponnen in die dunklen Kräfte der Unvernunft und Unordnung. Die Kräfte der Vernunft, die in der griechischen Mythgologie und im griechischen Drama sehr häufig in den Erdgöttinnen verkörpert sind, werden nie vollaändig besiegt, auch wenn sie unterworfen werden. Das Bewußtsein, das selbst nie völlig vom Körper befreit ist, kann und muß darum kämpfen, die Seele aus den Klauen der -eidenschaft und des Fleisches zu befreien, und der Vernunft kann es, wie in der OreSie des Aeschylus, sogar gelingen, die Unvernunft zu überzeugen. Aber tief im Inneren der Erde erhalten sich die Furien die Macht, den Umsturz herbeizuführen.

Pktos selbstgestellte Aufgabe ist es, eine Erkenntnistheorie auszubilden, die gegen die subversiven Kräfte des Irrationalen immun ist, die der Transzendenz des Bewußtseins Raun läßt, selbst wenn das Bewußtsein von der Immanenz kompromittiert bleibt. Seine Losing ist radikal: sie liegt in der Definition, daß das eigentliche Objekt der Erkenntnis außffhalb des Bereichs der zeitlichen, materiellen Natur liege. Dabei erfahrt das Bewißtsein eine parallellaufende Reinigung: wie die Natur entmaterialisiert wird, so wird das Bewußtsein entkörpert. Für Plato ist die Wahrheit nur im Reich des reinen und absauten Seins zugänglich, ein Reich, in das man nicht so sehr dadurch kommt, daß man den Blick des Bewußtseins von der Materie hinweg richtet, sondern dadurch, daß man lernt, durch das Reich des bloß Physischen hindurch und über es hinaus zu sehen. Nur danr kann es zu einer echten Begegnung oder Verbindung von Bewußtsein und Natur kommen. Erkenntnis ist eine Form des Wiedererkennens, abgebildet auf dem Sichtbaren.

Ebeiso wie das Auge ein Objekt dadurch erkennt, daß sich die Lichtstrahlen, die von beiden ausgehen, vermischen (siehe Keller und Grontkowski, 1982), geschieht das Erkennen der Form durch das Bewußtsein in der Vereinigung zweier verwandter Wesen.

Der Philosoph ruht nicht, bis er „die Natur von jedem selbst, was ist, aufgefaßt hat mit demenigen in der Seele, womit es geziemt dergleichen zu fassen - ", d.h. „es ziemt aber mit dem Verwandten; womit also dem wahrhaft Seienden sich nähernd und sich damit vermischend" (Plato, Politeia, 490 b).1 In Piatos Epistemologie ist die veränderliche Materie zurückgelassen, den Kräften des „Irrationalen, des Zufälligen und der Unord- nung" überlassen worden (Vlastos, 1970, S. 89). Jedoch bleibt die Frage: Wie macht sich das Bewußtsein, eingetaucht in einen sterblichen Körper, auf seinen Weg zur Wahrheit?

Piatos Antwort, die er im Symposion ausbuchstabiert, ist verblüffend: Das Bewußtsein entdeckt die Erkenntnis, wenn es vom Eros geleitet wird. „Wenn also jemand vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen, [...] der kann beinahe zur Vollendung gelangen" (Plato, Symposion, 211b). Dover schreibt, „Eros wird im Symposion als Kraft dargestellt, die uns in die Welt der ewigen Wesenheiten zieht" (Dover, 1983, S. 143).

Überdies, wenn ein Mann „indem er schaut, womit man das Schöne schauen muß, nicht Abbilder der Tugend erzeug[t] [...] sondern Wahres, weil er das Wahre berührt"

(Symposion, 212 a). Kurz, wie das Verlangen die Liebe erzeugt, so erzeugt die Liebe Erkenntnis.

Aber nicht alles Verlangen erzeugt Liebe, und es erzeugt auch nicht alle Liebe Erkenntnis. Eros zieht die Seele in zwei Richtungen, zur Vernunft und zur Leidenschaft, zum Erhabenen und zum Niedrigen. Die Dialektik von Transzendenz und Immanenz wird nun auf dem Feld des Eros ausagiert. Und zu diesem Feld kehrt Plato immer wieder zurück.

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Eine Möglichkeit, Piatos Auseinandersetzung zu charakterisieren wäre, sie als die Auseinandersetzung zwischen Einheit und Differenz zu bestimmen. Als solche bietet der Eros eine glänzende Reflektion des grundlegenden Problems von Erkenntnis: Wie kann Differenz in Einheit aufgelöst werden, das Subjekt anvermählt, ins Sein verwandelt werden? Mehrfach versucht Plato, seine Auseinandersetzung um Differenz und Einheit mit Hilfe einer vorhergehenden Unterteilung zu vereinfachen, aber sein Dilemma kehrt immer wieder. Man könnte in der Tat die platonischen Dialoge als Explorationen der Unangemessenheit der Unterteilung als Methode, Einheit zu erzielen, lesen.2 Trotzdem überstehen zwei grundlegende Unterteilungen seine hartnäckigen Bemühungen. Erstens die Unterscheidung zwischen der logischen und der physischen Natur und zweitens, in enger Parallele dazu, die Unterscheidung homosexueller und heterosexueller Liebe.

Heterosexuelles Verlangen interessiert Plato gerade wegen seiner allzu intimen Beziehung zur physischen Fortpflanzung nicht. Wie Diotima im Symposion erklärt:

„Die nun [...] dem Leibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehr zu den Weibern und sind auf diese Art verliebt, indem sie durch Kindererzeugen Unsterblichkeit und Nachgedenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, fiir alle künftige Zeit sich verschaffen. Die aber der Seele nach, denn es gibt solche, sagte sie, die auch in der Seele Zeugungskraft haben, viel mehr als im Leibe, für das nämlich, was der Seele ziemt zu erzeugen und erzeugen zu wollen" (Symposion, 208 e/ 209 a).

Nur das Begehren der Seele - nach dem „ständigen Besitz des Guten" (Symposion 204 c) - führt zur Zeugung im Reich des Seins. Diotima fugt hinzu: „Und was ziemt [der Seele]

denn? Weisheit und jede andere Tugend" (Symposion, 209 a). Und was das angeht, so ist trotz der Tatsache, daß hier eine Frau die Tugenden des Begehrens artikuliert, Piatos

Modell die Liebe eines Mannes zu einem Mann. Nicht das Gefühl der Liebe zu Frauen, sondern der zu Knaben gibt den ersten Anstoß für den Weg des Philosophen (Symposion, 211 b). Aber ebenso wie das Bewußtsein in Materie eingebettet bleibt, wohnt auch der homosexuelle Eros noch immer in Körpern; die Liebe von Mann zu Mann bleibt unauflöslich aus körperlichem und geistigem Verlangen zusammengesetzt, und zwar auf eine Art, die die Unterscheidung zwischen homosexuellem und heterosexuellem Eros beständig bedroht. Und in Wirklichkeit reduziert die Unterwerfung unter das körperliche Verlangen den homosexuellen Eros auf den Stand des heterosexuellen oder animalischen Begehrens. So ein Mann ist bloß „der Lust ergeben, gedenkt [ . . . ] sich auf tierische Art zu vermischen, und roher Weise sich ihm nahend, fürchtet er sich nicht, noch scheut er sich, widernatürlich der Lust nachzugehen" (Plato, Phaidros, 205 e). Die Seele ist zerrissen auch in einer Welt, die bereits dadurch vereinfacht ist, daß man das Männliche vom Weiblichen abtrennt: doch wieder genügt die Unterteilung nicht als Garantie der Einheit.

In der sexuellen Liebe wie in der Erkenntnis erzeugt die Spannung zwischen Einheit und Differenz komplexe Harmonien - Harmonien, die zunehmend komplexer werden im Widerhall der Spannung zwischen Liebe und Agression, Gleichheit und Hierarchie, Kooperation und Domination. Diese Saiten werden überall in Piatos Dialogen angeschla- gen, aber sie sind nie deutlicher zu hören, als wenn Eros als Führer zur Wahrheit auftaucht.

Um festzustellen, wie Plato sich das sexuelle Modell in seiner Auseinandersetzung zunutze macht, muß man jedoch erst einmal etwas von der Sexualethik und der Geschlechtsideolo- gie seiner Zeit verstehen.

Die erste Beobachtung die man machen muß ist, daß Piatos Unterscheidung zwischen homosexueller und heterosexueller Erotik eine Unterscheidung widerspiegelt, die in seinem weiteren Kulturkreis institutionalisiert ist. Das Ausmaß, dem attische Frauen und Männer in getrennten Welten lebten, kann man teilweise nach dem Ausmaß beurteilen,

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in dem die Ehe auf die Zwecke der Fortpflanzung beschränkt war. Nach Objekten sexuellen Verlangens hielt der Athener anderswo Ausschau - bei weiblichen Kurtisanen oder bei anderen Männern. Aber in der griechischen Konvention wie in Piatos Schriften behauptete sich eine weitere Unterteilung sogar im Bereich männlicher homosexueller Aktivität. Die sexuelle Paarbildung zwischen gesellschaftlich Gleichen war, was die Art des Verkehrs wie auch den Grad der Aktzeptierbarkeit anging, scharf unterschieden von sexuellen Beziehungen zwischen Bürgern und Sklaven, Ausländern oder Prostituierten.

Die Folge war, daß nicht zwei, sondern drei Modelle sexueller Beziehungen verbreitet waren, gemäß drei radikal unterschiedlichen Beziehungsformen oder Graden an Respektabilität. (Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen wurden zumindest in Athen meist einfach ignoriert.) Das bei weitem am höchsten bewertete und fur Plato einzig relevante Modell war das zwischen einem erwachsenen männlichen Liebhaber, dem erastes (oder Liebenden) und einem Jüngling, dem eromenos (oder Geliebten). Diese Beziehung unterschied sich von der Sodomie wie vom heterosexuellen Verkehr in mehrfacher Hinsicht entscheidend. Obwohl sich diese sexuelle Beziehung im typischen Falle zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann abspielte, war sie die einzige, die zwischen gesellschaftlich Gleichen stattfand; es war auch die einzige sexuelle Beziehung, die im Normalfall in einer Stellung stattfand, in der man einander zugewandt war oder besser gesagt, Schenkelverkehr hatte. Kenneth Dover schließt aus seiner Untersuchung attischer Vasengemälde, „Schenkelverkehr war bei Männern als Sexualobjekten gängig, aber wurde mit Frauen nie praktiziert" (Dover, 1979, S. 93). Die am häufigsten abgebildete Stellung beim heterosexuellen Verkehr ist von hinten, „eine sich bückende Frau [...], während der Mann steht und sie von hinten penetriert" (S. 94) - kurz, eine Stellung, die dem homosexuellen Analverkehr ähnelt, der ebenfalls häufig auf den Vasengemälden abgebildet ist. Im Hinblick auf tatsächlich ausgeführte Arten des Geschlechtsverkehrs war die Beziehung zwischen Erastes und Eromenos (die päderasti- sche Beziehung) einzigartig, weil sie die Trennung zwischen einem dominanten und einem unterworfenen Partner vermied, die sowohl für den heterosexuellen Verkehr wie für den homosexuellen Analverkehr charakteristisch war. Die Abgrenzung zwischen den beiden Formen des homosexuellen Verkehrs ist der entscheidende Punkt. Wenn ein Mann die demütige Rolle annimmt, verletzt er die Regeln der „erlaubten Liebe". Man ist der Meinung, daß er seine Integrität verliert, weil er sich in einen Akt gegen ihn gerichteter Aggression schickt, und daß er daher seine Rolle als Athener Bürger aufgibt; daß er sich

„selbst aus den Reihen der männlichen Bürgerschaft entfernt und mit Frauen und Fremden auf eine Stufe stellt" (Dover, S. 96). Schlimmer noch „wird von jedem Mann, der angeblich getan hat, was sein älterer homosexueller Partner von ihm wollte, angenommen, er habe sich prostituiert" (S. 96). Auf jeden Fall hat er seinen Anspruch auf Männlichkeit aufgegeben.

Im Mittelpunkt der erlaubten päderastischen Beziehung steht also die Erhaltung der Würde, besonders bei dem, der geliebt wird. Aber nicht nur muß der Eromenos sich weigern, sich dem Willen seines Erastes zu unterwerfen; ebenso wichtig ist die Einschränkung, daß er dessen Verlangen nicht teilen darf. In der Dar- stellung der griechischen Vasenmalereien erleben nur Frauen und entwürdigte Männer offen sexuellen Genuß. Im Gegensatz dazu schaut der Eromenos ungerührt vor sich hin. Er kann Zuneigung verspüren, aber niemals sexuelles Verlangen. So sagt Xeno- phon:

„Auch teilt der Knabe nicht des Mannes Vergnügen an dem Verkehr, wie eine Frau es tut; kalt, nüchtern betrachtet er den anderen, der trunken ist vor sexuellem Verlangen" (Xenophon, Das Gastmahl, S. 21).

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Männer dürfen Verlangen fühlen, ohne ihre Männlichkeit zu kompromittieren, aber nur, wenn sie die aktive Rolle übernehmen. Es ist somit nicht das Verlangen per se, daß die Männer den Frauen ähnlich macht, sondern die Verknüpfung von Verlangen mit Passivität - eine Verknüpfung, von der man annahm, daß sie die aggressive Domination nicht nur erlaubte, sondern sogar herausforderte.

„Erlaubte Liebe" - unter der Voraussetzung gegenseitigen Einverständnisses und Respekts - unterscheidet sich von der unerlaubten Homosexualität genau dadurch, daß sie es fertigbringt, alle diese aggressiven (und unterwürfigen) Konnotationen zu vermeiden.

Daß sie es tut, ist nicht einfach bloß eine Folge der sozialen Gleichgestelltheit der Partner, sondern eher eine des empfindlichen Gleichgewichts zwischen Gleichheit und Hierarchie.

Die Symmetrie des sozialen Status wird mit der Asymmetrie des Alters auf der einen Seite und der Verteilung des sexuellen Verlangens auf der anderen ausbalanciert. Ein Liebender zu sein, heißt älter und weiser zu sein, aber zugleich auch der Sklave seines Verlangens.

Der Geliebte, „weder seiner sexuellen Lust noch [seinem] Sexual partner unterworfen"

(Golden, S. 129), kann die Ungleichgewichtigkeit ausgleichen und seine Würde wiederherstellen, eben weil er von seinen Gefühlen weder überwältigt noch versklavt wird.

Die Dynamik löst sich in Gleichheit auf, aber es bleibt ihr der Abdruck ihrer eigenen inneren Hierarchien.

Im ganzen läßt sich also sagen, daß die päderastische Beziehung ein Modell nicht wechselseitiger, aber relativ egalitärer Sexualität abgab in einer Kultur, die kein Modell wechselseitiger Sexualität zwischen Gleichen kannte. Ein solches Modell erfüllte Piatos Bedürfnisse nur ungenügend. Seine Vision einer geistigen Beziehung zwischen Bewußtsein und Wahrheit - einer Vereinigung verwandter Wesen - benötigte ein größeres Maß an Gegenseitigkeit, als es jedes Modell männlicher Sexualität erlaubte, das sich in seiner Kultur vorfand. Als Modell solcher Gegenseitigkeit bezog er sich auf eine neue Definition päderastischer Liebe, die er selbst erfand - „vollkommen sinnlich in ihrem Klang, aber sich den Liebesakt versagend und so physische Erregung in künstlerische und intellektuelle Energie umwandelnd" (Vlastos, S. 22). Piatos Modell stellt eine neue Art der Gegenseitigkeit dar - eine Beziehung eher zwischen zwei beteiligten Liebenden als zwischen dem traditionell leidenschaftlichen Liebhaber und dem passiven Geliebten, in der sowohl Verlangen wie Beschränkung gleichmäßiger verteilt sind (siehe Halperin, 1983). Der Anblick der Schönheit eines Jünglings ruft Liebe und Verehrung hervor. Bei einem Mann, der noch nicht korrumpiert ist, der sich noch nicht daran gewöhnt hat, sich der Sinnlichkeit zu unterwerfen, inspiriert Eros die Seele; die Liebe macht es ihm möglich, von dem „Namensvetter", der Schönheit auf Erden, zum Absoluten fortzuschreiten:

„Durchwärmt nämlich wird er, indem er durch die Augen den Ausfluß der Schönheit aufnimmt, durch welchen sein Gefieder gleichsam begossen wird. [... ] Fließt aber Nahrung zu, so schwillt der Kiel des Gefieders und drängt, hervorzutreten aus der Wurzel überall an der Seele, denn sie war ehedem ganz befiedert. Hierbei also gärt alles an ihr und sprudelt auf (Plato, Phaidros, 251 b/c).

Schließlich wird auch der Geliebte erregt, angereizt, weil der Liebhaber seine Schönheit wahrnimmt, was sich in seinen Augen spiegelt. Der Eros des Liebhabers hat einen Gegen- Eros erweckt „mit der Liebe Schattenbilde, der Gegenliebe" (Phaidros, 255 e). Wenn nun die Vertrautheit zustandegekommen ist,

„ergießt sich [...] reichlich gegen den Liebhaber, und teils strömt sie in ihn ein, teils von ihm dem Angeßillten, wieder heraus: und wie ein Wind oder ein Schall von glatten und starren Körpern abprallend wieder dahin, woher er kam, zurückgetrieben wird, so geht auch die Ausströmung der Schönheit wieder in den Schönen zurück durch die Augen, auf welchem Weg sie ihrer Natur nach in die Seele geht, und wenn sie dorthin gelangt, befeuchtet sie die dem Gefieder bestimmten

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Ausgänge, treibt so dessen Wachstum voran und erfiillt auch des Geliebten Seele mit Liebe"

(Phaidros, 255 b/d).

Durch solch wechselseitige Widerspiegelung, wobei jeder Liebende die Schönheit des anderen spiegelt, inspiriert Eros und ist zugleich inspiriert, läßt den Liebenden Flügel wachsen und fuhrt sie gemeisnam immer höher hinauf zu absoluter Schönheit und Wahrheit. Dieses erotische Geben und Nehmen, oder diese erotische Verstärkeranlage, beginnt nicht einfach nur beim physischen Verlangen; der körperliche Eros, der jetzt erwidert wird, bleibt sein eigentlicher Antrieb: „Wünscht aber doch eben wie jener [der Liebhaber], nur minder heftig, ihn zu sehen, zu berühren, zu umarmen, neben ihm zu liegen, und also, wie zu erwarten, tut er hierauf bald alles dieses" (Phaidros, 255 e).

Es scheint, als hätte Plato ein Modell der sexuellen Liebe entwickelt, das die Wechselseitigkeit des Verlangens gestattet, ohne die Männlichkeit oder die Würde des Geliebten zu kompromittieren, ohne die Aggression herauszufordern, die eine Aufteilung in dominante und untergeordnete Rollen mit sich bringt. Aber solche Wechselseitigkeit kostet ihren Preis, und der Preis ist letztlich die sexuelle Beschränkung. Damit die Flügel der Seele wachsen können, muß der eigentliche Liebesakt vermieden werden.

„ Wenn nun die besseren Teile der Seele, welche zu einem wohlgeordneten Leben und zur Liebe der Weisheit hinleiten, den Sieg erlangen: so fiihren sie [die Liebenden] hier schon ein seliges und einträchtiges Leben, sich selbst beherrschend und sittsam dasjenige besiegt habend in ihrer Seele, dem Schlechtes, und das befreit, dem Vortreffliches einwohnt; sterben sie aber, so haben sie, schon befiedert und leicht geworden [...] schon in einem gesiegt" (Symposion, 256 b).

Zu diesem Zwecke müssen beide darin zusammenwirken, ihre niederen Triebe zu bekämpfen „mit Scham und Vernunft" (256 a).

Tun sie das nicht, geben sie der Versuchung nach, entzieht sich ihnen das Ziel der Erkenntnis und der absoluten Schönheit. Der Liebesvollzug bringt die Drohung der Rückkehr von Irrationalität und Aggression mit sich. Für Plato braucht es zu der Erkenntnis, die von der Liebe geführt wird - der einzig wahren Form von Erkenntnis - nicht nur die Scheidung der Ordnung von der Unordnung, sondern auch gleichermaßen die Scheidung der Erotik von der Aggressivität. Und wie stark sich der platonische Eros auch aus körperlichen Trieben speisen mag - eine solche Scheidung ist letztlich nur durch eine Absage an solche Triebe möglich. Der Körper behält den Status des Sklaven:

untergeordnet, unterdrückt und aus dem Reiche der Philosophie ausgeschlossen. Nur so kann die platonische Erkenntnis die Freiheit erotischer Wechselseitigkeit genießen.

Es ist aber wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, daß weder Piatos Epistemologie, noch seine Kosmologie oder sein Modell der Liebe bereits frei von Hierarchie sind. Überall blicken das Auge, die Seele und das Bewußtsein weiterhin nach oben. Und wiederum dient das Modell sexueller Beziehungen, das Plato verwendet, als Paradigma; es enthält die Wurzeln dieser Gerichtetheit, geradeso wie es die Gegenseitigkeit der Vereinigung von Bewußtsein und Form illustriert. Der Geliebte lernt die Liebe kennen über seinen älteren und weiseren Liebhaber; er spiegelt den Eros des anderen wider, aber in geringerem Maße.

Die Spiegel-Metapher soll nicht die innere Hierarchie der Beziehung auflösen; sie liefert nur das Vehikel, durch das, innerhalb dieser Hierarchie, die Seelen des Liebhabers und des Geliebten erhoben werden können. In der Beziehung zu seinem Eromenos ist der Erastes der Lehrer, aber in der Beziehung zur Erkenntnis ist er ein Schüler, der stets nach oben blickt. Durch die Widerspiegelung lernt auch der Geliebte, nach oben zu blicken.

Gemeinsam erklettern sie die „Leiter der Liebe", wobei der Erastes immer der erste ist.

Es ist zuerst seine Obliegenheit, „vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufzusteigen]" (Symposion, 211 b). Wie Diotima erklärt,

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„daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen willen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne" (Symposion, 211 c).

Piatos Neudefinition der Knabenliebe liefert ihm ein Hierarchie-Modell, das frei von Herrschaft ist; als solches gibt sie die Metapher für eine Form der Erkenntnis her, die erotisch ist, aber weiterhin unter ihren eigenen inneren Ungleichheiten leidet. Ebenso wie nicht der Geliebte selbst das Objekt der Liebe ist, sondern eher das „Abbild" der Idee in ihm (vgl. Vlastos, S. 31), so sind es nicht die Objekte selbst, die man zu verstehen (oder zu erkennen) sucht, sondern eher die Formen, auf die sie hinweisen. Das außer acht lassen des Individuums in sich und an sich durchzieht Piatos gesamtes philosophisches System ebenso, wie es seine Theorie der Liebe beschreibt. Beide sind das, was Vlastos

„offenkundig ideozentrisch" nennt (S. 30) und suchen ständig, das Persönliche und Besondere zu transzendieren. Das Plato die Materie aus seiner Erkenntnislehre ausschließt und die vollzogene Sexualität aus seiner Definition der idealen Liebe, gibt ihm nicht die Freiheit, sich an einem konzeptuellen Egalitarismus zu erfreuen, genausowenig wie die Verbannung der Skaven aus der Polis die Bedingungen für eine echte Demokratie schafft.

In seiner Politik wie in seiner Philosophie bleibt die Notwendigkeit eines wie immer wohlwollenden Absolutismus bestehen.

In der Neuzeit führt das Bedürfnis nach Erkenntnis der materiellen Natur zu einer neuen Konzeption von Wissenschaft - einer Konzeption, die die ideozentrische Betonung des platonischen Denkens verwirft. Aber viel von Piatos besonderer Strukturierung der intellektuellen und emotionalen Landschaft überlebt in dieser neuen Kon- zeption. Insbesondere besteht seine Unterscheidung zwischen ,logisch und physisch' in der heutigen Unterscheidung zwischen theoretisch und angewandt' fort. Im theoreti- schen Bereich erforscht der moderne Physiker die Gesetze der Natur; indem er das tut, sucht er die Vereinigung mit dem Nexus der Autorität, dem die materielle Natur unterworfen ist. Natur als solche bleibt gespalten zwischen ihrer materiellen und ihrer logischen Essenz, wobei jene dieser „gehorcht". Die innere Struktur der theoretischen Welt selbst reflektiert eine Hierarchie, die der Piatos ähnlich ist: das Ideal der Physik ist es, jenes eine vereinende Naturgesetz zu finden, von dem alle anderen Gesetze abgeleitet werden können. Wenn der moderne Wissenschaftler seine Aufmerksamkeit der physi- schen Welt per se zuwendet, muß er sich notwendigerweise über Piatos kritische Einwände gegen die Einbeziehung des Physischen hinwegsetzen, aber indem er das tut, zieht er die Aggression auf sich, die Plato zu vermeiden suchte. Das Objekt seiner Untersuchung ist nicht länger nur die entkörperlichte Essenz männlicher Sexualität; der Wissenschaftler strebt nun danach, die materielle Natur als solche zu verstehen. Entsprechend verändert sich die Bedeutung von verstehen - die Ziele (und sogar die Methoden) von Wissenschaft.

Im Einklang mit der Hinwendung vom homoerotischen zum heterosexuellen Objekt ist das Ziel des Verstehens nicht mehr Vereinigung, sondern Macht: der Zweck der angewandten Wissenschaft ist die Beherrschung der Natur. Die moderne Wissenschaft als solche folgt immer noch Piatos Drehbuch, aber sie befolgt nicht mehr seinen Rat zur Vorsicht. In diesem Szenario wie in seinem Modell der Sexualität scheint es unver- meidlich, daß der Verkehr mit der physischen Natur jene Aggression hervorruft, die Frauen und Sklaven gegenüber angemessen ist. Die Sprache der modernen Wissenschaft scheint diese Unvermeidlichkeit nur zu bestätigen, sogar wenn sie neue Bilder beschwört.

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Der artikulierteste Schöpfer der neuen Bilderwelt, die in der Neuzeit auftaucht, ist Francis Bacon, der Mann, der manchmal als der Architekt der modernen Wissenschaft hingestellt wird und der vielleicht am besten dafür bekannt ist, daß er die Gleichsetzung von Wissen und Macht verherrlichte. Bacon sieht die Naturwissenschaft nicht als erhabene Liebesaffare mit der „essentiellen Natur der Dinge", sondern als „eine keusche und rechtmäßige Ehe zwischen Geist und Natur" (aus Leiss, S. 25). An anderem Ort wiederholt er die gleiche Metapher (nur etwas spezifischer): „Was ich mit dir vorhabe, ist dich mit den Dingen selbst zu vereinen in einer keuschen, heiligen und rechtmäßigen Ehe"

(Farrington, S. 201). Für Bacon ist das eigentliche Objekt der Erkenntnis nicht mehr die essentielle Natur der Dinge, sondern es sind die Dinge selbst. Bei dieser Hinwendung von der Form zur Materie ist die Natur weiblich geworden, und die Aufgabe des Geistes ist nicht mehr das Streben nach einer göttlichen und ekstatischen Vereinigung, sondern „die Wiedereinsetzung und Rückführung des Menschen in die Souveränität und Macht [ . . . ] , die er im ersten Stadium der Schöpfung besaß" (Bacon, Valerius Terminus, S. 188). Er schreibt:

„Ich bin in Wahrheit gekommen, dich zur Natur mit allen ihren Kindern zu fiihren, um sie zu deinen Dienste zu verpflichten und sie zu deiner Sklavin zu machen" (Farrington, S. 197).

In Bacons Vorstellung wird die Ehe zwischen Geist und Natur dem Menschen neben der Macht eine besondere, fruchtbare Männlichkeit bescheren. Sie wird zur Zeugung nicht von gewöhnlichen Kindern, noch einfach nur von jener Weisheit und Tugend führen, die Plato in Anspruch nahm, sondern zu dem, was Bacon eine „männliche Geburt der Zeit"

nannte. „Diese Verbindung wird dir einen Nachwuchs sichern, weit über alle Hoffnungen und Gebete gewöhnlicher Ehen hinaus, nämlich ein gesegnetes Volk von Helden oder Übermenschen" (Farrington, S. 201). Im Gegensatz zu früheren Konzeptionen von Erkenntnis, dem Erbe von „Scheinphilosophen", die „unseren Geist verderben" mit falschen Ansichten, die „die menschliche Macht vermindern" oder noch schlimmer, die die Menschen unfruchtbar und impotent machen, würde die neue Wissenschaft aktiv, männlich und zeugungsfähig sein (Farrington, S. 198-99). Die Natur wiederum, „besiegt",

„unterworfen" und „bis in ihre Grundfesten erschüttert", wäre gezähmt; sie würde gesetzmäßig und meßbar gemacht. Ihre Macht würde man sich aneignen.

Die Keuschheit dieser Ehe bewahrt die Grenzen zwischen Geist und Natur, und mit der Bewahrung der Grenzen sichert sie die Unterschiede zwischen den Gatten: die Natur ist, wenn auch gesetzestreu, geistlos. Die Keuschheit dient in Bacons Metapher einer ähnlichen Funktion wie die sexuelle Beschränkung in der Piatos - sie erhält die Entkoppelung von Eros und Aggression, aber jetzt von der anderen Seite. Weder in der einen noch in der anderen Vorstellung wird die materielle Natur (für Plato wie für Bacon weiblich) zu einer Liebespartnerschaft eingeladen: in der einen wird sie auf ein anderes Reich verwiesen, in der anderen verführt und erobert. Ihre schützende Hülle wird ihr weggezogen, sie wird durchdrungen (oder eher entblößt) bis in ihren „innersten Raum", sie wird ihrer Macht entkleidet. Ihre Geheimnisse sind wißbar geworden. In der Neuzeit sind die Furien nicht einfach nur unterworfen, sondern ausgerottet worden. Aber bei all den Unterschieden zwischen Bacon und Plato ist vielleicht am auffallendsten der Grad, in dem diese Veränderungen vorhersagbar waren, sobald einmal das Bedürfnis, die materielle Natur zu verstehen, unabweisbar geworden war, und zwar wegen Piatos eigener Unterteilung in logisch und physisch, erotisch und aggressiv. Die hierarchische Beziehung zwischen Bewußtsein und Materie und zwischen männlich und weiblich, die Bacon von der platonischen Weltsicht vererbte, lädt eben die Aggression, die Plato zu vermeiden versucht hatte, dazu ein, Bestandteil von Bacons Wissenschaftskonzeption zu werden.

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Obwohl Bacon die platonische Lehre verwirft, bleibt er den Grundkategorien seines Vorläufers treu. Aber insoweit diese Kategorien nicht ganz strikt sind und vielleicht auch nicht sein können, teilt er in seiner Vorstellung von Erkenntnis zum Teil dieselben Ambiguitäten, die auch bei Plato auftreten - ich habe deren Natur und Funktion in einem früheren Aufsatz diskutiert (Keller, 1980).

Es ist vielleicht angemessen, diesen Aufsatz mit der Frage nach der Möglichkeit anderer Szenarios und anderer Modelle von Sexualität zu beschließen, auf die sich Plato - und somit Bacon - bezogen haben könnten. Letztlich blieb Piatos Definition einer neuen Form der Knabenliebe durch die kulturellen Modelle eingeschränkt, die ihm zugänglich waren, und durch die Restriktionen, die diese den akzeptablen Formen des Begehrens bei Männern auferlegten. Nimmt man diese Restriktionen als gegeben an, wäre das einzige Modell, das sich als Beispiel fur wechselseitig vollzogene Sexualität angeboten hätte, die nicht automatisch Aggression hervorgerufen und zur Beherrschung eingeladen hätte, entweder aus der weiblichen homosexuellen Erfahrung gekommen oder aus einer weiblichen Perspektive heterosexueller Erfahrung - beides ignorierte er. Die Frage, die diese Analyse nahelegt und mit der die vorliegende Diskussion enden muß, liegt jetzt offen zutage: Wie hätte eine andere Konzeption von Sexualität und von Männlichkeit die Konzeption von Erkenntnis und von der Beziehung des Bewußtseins zur Natur, modifizieren können, die Plato uns hinterlassen hat?

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nele Löw-Beer.

Anmerkungen

1 Diese Argumentation ist ausfuhrlicher ausge- führt in Keller und Grontkowski (1983).

2 In den späteren Dialogen (besonders Sophistes, Politeia und der SchluB von Phaidros) ist die Unterteilung die Methode par excellence, um die Einheit der Erkenntnis zu erlangen.

Literatur

Collingwood, R.C., The Idea of Nature, 1945 (Oxford University Press) Neudruck 1981.

Dover, K.J., Greek Homosexuality. London 1978; dt.

Homosexualität in der griechischen Antike, Mün- chen 1983 (Beck).

Farrington, Benjamin, „Temporis Partus Masculus:

An Untranslated Writing of Francis Bacon", in:

Centaurus, 1, S. 197.

Golden, Mark, Aspects of Childhood in Classical Athens, Universität von Toronto, Unveröffentlich- te Dissertation, S. 129.

Halperin, David, Plato and Erotic Reciprocity, 1983, Unveröffentliches Manuskript.

Keller, E.F., „Baconian Science: A Hermaphroditic Birth", in: Philos. Forum. Bd. XI, Nr. 3, Frühling 1980,S. 299-307.

Keller, E.F., und Christine Grontkowski, „The Mind's Eye", in: Discovering Reality, hrsg. v. S.

Harding und Μ. Hintikka, Dordrecht, Holland 1983 (Reidel).

Leiss, W., The Domination of Nature, Boston 1972 (Beacon Press).

Vlastos, Gregory, „Equality and Justice in Early Greek Cosmologies", in: Studies in Presocratic Philosophy, hrsg. v. D J . Furley und R.E.

Allen, Band 1, London 1970 (Routledge & Kegan Paul).

Referenzen

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