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Radio, Spiel und Welt

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Radio, Spiel und Welt Arteel, Inge

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Germanistische Mitteilungen

Publication date:

2020

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CC BY-NC-ND

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Citation for published version (APA):

Arteel, I. (2020). Radio, Spiel und Welt: George Taboris Hörspiel "Erste Nacht letzte Nacht". Germanistische Mitteilungen, 45 (2019)(1-2), 51-69.

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Radio, Spiel und Welt

George Taboris Hörspiel Erste Nacht letzte Nacht

Abstract: This article considers the transmedial characteristics of the radio play First Night Closing Night, the radiophonic adaptation by George Tabori and Jörg Jannings of a short story by Tabori about the rehearsals for a performance with a deadly outcome. The story addresses political, ethical and aesthetical issues: it considers the coerced collaboration of the narrator, a stagehand of the director, in the deadly staging of a theatre play. In comparison with the narrative structure of the prose text the article analyses several aspects of the multi- layered acoustic presentation of this complex problem in the radio play, such as the pathos of the spoken voice and the rehearsal of a song as part of the soundscape. The article argues that the use of these specific radiophonic features both increases the complexity of the central issue – the complicity of the stagehand – and suggests a tentative form of resistance against the deadly perfection of the play.

Keywords: George Tabori – radio play – audionarratology – unnatural narratology transmediality

George Taboris Name wird sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch im öffentlichen Gedächtnis nahezu ausschließlich mit dem Thea- ter in Verbindung gebracht. Dabei wird übersehen, dass von Tabori auch mehrere Hörspiele vorliegen. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren hat sich Tabori immer wieder dem Rundfunk zugewandt, und dies in ver- schiedenen Tätigkeiten: als Autor von Hörspielen, als Regisseur eigener und fremder Werke und als Schauspieler bzw. Sprechstimme.1 Neben die- sem vielseitigen Engagement im radiophonen Medium fällt auch eine pro- duktionsgenetische Besonderheit auf, die seine Werke immer wieder mit dem Radio verbindet: Aus Erzählungen oder Dramen entstehen Hörspiele oder vice versa. Oft wandert ein bestimmter Stoff transmedial durch drei Medien (Buch, Theater, Radio). Ein bekanntes Beispiel ist Taboris Erzäh-

1 Die ARD-Hörspieldatenbank erwähnt 12 gesendete Hörspiele von Tabori als alleini- gem Autor. Vgl. http://hoerspiele.dra.de. Letzter Zugriff: 15. September 2019.

Tabori wurde mehrmals für seine Hörspiele geehrt. 1981 bekam er den Großen Kunstpreis Berlin für seine Leistungen als Hörspielautor und Regisseur und 1985 den ersten Frankfurter Hörspielpreis für sein Gesamtwerk als Autor und Regisseur.

Auch einzelne Hörspiele gewannen Preise, so die Hörspielfassung von Weismann und Rotgesicht 1978 den renommierten Prix d’Italia.

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lung Mein Kampf, deren Handlungskern die fiktive Freundschaft zwischen dem jungen Hitler und einem Juden in einem Wiener Obdachlosenasyl um 1910 darstellt. Aus der 1986 in deutscher Übersetzung erstpublizierten Er- zählung wurde ein Drama (1987 am Akademietheater in Wien urauf- geführt) und ein Jahr später ein Hörspiel.2 Bei einem anderen berühmten Beispiel, Mutters Courage, kommt noch ein viertes Medium hinzu: Die Ge- schichte der Rettung von Taboris Mutter Elsa Tabori vor der Deportation durch die Nationalsozialisten 1944 in Budapest entstand zunächst als Pro- satext,3 wurde 1979 als Hörspiel produziert und im selben Jahr als Büh- nenstück in München uraufgeführt; 1995 schließlich machte Michael Ver- hoeven aus der Geschichte einen Kinofilm.4

Stoffe, Handlungs- und Erzählkerne bilden so in Taboris Schaffen ein transmediales Netz, wodurch die Texte auch intertextuell eng auf einander bezogen sind. Was in einem Text eine Nebenhandlung darstellt oder bloß nebenbei auftaucht, kann in einem späteren Werk zur Haupthandlung werden. Oder Tabori verwertet Materialien und Szenen derart wieder, dass daraus ein anderes Stück entsteht und zugleich auch alle vorangehenden Arbeiten durchscheinen. Das 1991 uraufgeführte Stück Goldberg-Variatio- nen, das das Prinzip der variierenden Wiederholung sogar im Titel trägt, verbindet zwei Erzählstränge zu einer “Doppelhelix aus der biblischen Genesis der Welt und der Genese einer Theaterproduktion”.5 Auf die Fra- ge nach der Herkunft des Stoffes für dieses Stück antwortete Tabori zu- nächst: “So was kann man schwer definieren. Man kann sagen, ich habe vorigen Sommer im Juli angefangen, es zu schreiben. Das ist ein Anfang,

2 Eine Koproduktion von RIAS, BR, ORF-W und SR. Regie: Jörg Jannings, Kompo- nist: Klaus Buhlert.

3 Viele Stoffe und Handlungskerne seiner späteren Werke notierte Tabori schon wäh- rend seiner Jahre in den USA (1947-1970). Anhand eines Briefes aus dem Jahre 1951, den die Tabori-Biographin Anat Feinberg einsehen konnte, lassen sich die ersten Entwürfe für Mutters Courage auf die frühen fünfziger Jahre datieren. Sie entstanden, nachdem Elsa Tabori während eines Besuchs bei ihrem Sohn ihre Erinnerungen nie- dergeschrieben hatte. Vgl. Feinberg, Anat: George Tabori. München: Deutscher Ta- schenbuch Verlag 2003. S. 106. Erst 1981 wurde der Prosatext in dem Band Son of a Bitch. Erzählungen publiziert.

4 Das Hörspiel wurde von RIAS, NDR und SDR produziert. Regie: Jörg Jannings, Komponist: Stanley Walden. Im selben Jahr wurde es im Theater der Jugend, einer Dependance der Münchner Kammerspiele, in der Regie des Autors uraufgeführt.

Der Kinofilm aus dem Jahr 1995 trägt den englischsprachigen Titel My Mother’s Courage.

5 Annotation der HerausgeberInnen Maria Sommer und Jan Strümpel zum Stück Gold- berg-Variationen in: Tabori, George: Theater – Band 2. Göttingen: Steidl 2015. S. 587.

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aber eigentlich geht es viel weiter zurück. Ich würde sagen, von Kannibalen ab [1968 auf Englisch uraufgeführt, IA] schreibe ich eigentlich dasselbe Stück immer wieder.”6 Einen konkreten Handlungskern und dessen Vor- geschichte identifiziert er dann aber doch etwas genauer: “Es gibt eine Kurzgeschichte, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe, wo gewisse Elemente des Stückes schon da sind, also die Kreuzigung als Theater- probe.”7

Erste Nacht letzte Nacht heißt die Kurzgeschichte, auf die Tabori hier verweist. Sie erschien 1986 in dem Prosaband Meine Kämpfe.8 Aus ihr ent- stand noch im selben Jahr ein Hörspiel, das vom RIAS Berlin gesendet wurde. Für Taboris Hörspielarbeit erwies sich der RIAS Berlin (Rund- funk im amerikanischen Sektor Berlins), der 1946 gegründete Vorläufer des heutigen Deutschlandfunk Kultur, als ungemein wichtig. Zwischen 1978 und 1991 wurden nahezu alle seine Hörspiele im RIAS produziert und erstgesendet – oft, wie bei Hörspielen üblich, in Koproduktion mit anderen (west)deutschen Sendeanstalten. Der damalige Leiter der Wort- produktion des RIAS, Jörg Jannings, der mit Tabori befreundet war, führte bei zehn Tabori-Produktionen Regie, so auch bei Erste Nacht letzte Nacht.9

Um dieses Hörspiel soll es im Folgenden gehen. Dabei möchte ich untersuchen, welche gattungs- und medienspezifischen narrativen Ele- mente in der Hörspielfassung im Vergleich zur Erzählung in den Vor- dergrund treten – die Dynamik des transmedialen Bezugs also – und wie diese zur spezifischen Wirkung und Bedeutung dieses Hörspiels beitra- gen. Neuere Ergebnisse aus der Hörspielforschung und der Audionarra- tologie werden mit einbezogen.10 Außerdem möchte ich dieses Hörspiel,

6 Ebd.

7 Ebd., S. 588.

8 Tabori, George: Erste Nacht letzte Nacht. In: Ders.: Meine Kämpfe. Berlin: Wagenbach 2002. S. 101-136. [Erstausgabe München: Hanser 1986]. Zitate aus dieser Erzählung werden im Folgenden mit der Sigle EL direkt im Text wiedergegeben.

9 Tabori, George/Jannings, Jörg: Erste Nacht letzte Nacht. Komponist: Klaus Buhlert.

Produktion: RIAS und NDR. 90 Minuten. Erstsendung am 17.12.1986. Zitate aus dieser Hörspielproduktion werden mit der genauen Stellenangabe direkt im Text wie- dergegeben.

10 Folgende Titel sind im Rahmen meines Beitrags zu erwähnen: Huwiler, Elke: Erzähl- Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn: mentis 2005;

Gilfillan, Daniel: Pieces of Sound. German Experimental Radio. Minneapolis: University of Minnesota Press 2009. Mildorf, Jarmila/Kinzel, Till (Eds.): Audionarratology. Interfaces of Sound and Narrative. Berlin/Boston: De Gruyter 2016 (= Narratologia 52); Mildorf,

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das von den Proben zu einem Theaterstück erzählt, zu Taboris Thea- terpoetik in Verbindung setzen und fragen, wie es diese Theaterpoetik im akustischen Medium verhandelt. Tabori betrachtet das Theater als ein Ritual, durch das der Text, das Wort, verkörpert werde, Fleisch werde – die biblisch-theologische Anspielung ist durchaus beabsichtigt. Kunst- erzeugung ist für ihn somit immer auch eine materielle Welterzeugung;

das szenische Spiel bildet Realität nicht ab, sondern ermöglicht sie. Die von ihm beschworene Verbindung zwischen Leben (oder Realität, Sein) und Theater (oder Spiel, Ritual) bringt er mit einer an Friedrich Schillers Begriff des Spieltriebs erinnernden Definition auf den Punkt: “Spielen – das ist strukturiertes Sein”.11

Dieses strukturierte Sein als Verbindung von Spiel und Welt impli- ziert für Tabori eine zutiefst körperliche und sinnliche Beteiligung der Schauspieler. Die Rolle ahmt Realität nicht nach, sondern verlängert und verstärkt sie, bringt sozusagen Leben hervor. Tabori bevorzugt deswe- gen das englischsprachige Verb to act und das Substantiv actor gegenüber schauspielen und Schauspieler und betrachtet sich selbst nicht als Regisseur, sondern als “Spielmacher”.12 Dieser Auffassung des Theaterspiels woh- nen außerdem Momente der Improvisation, der Zufälligkeit und der Unvollkommenheit inne. Wie äußert sich diese Theaterauffassung in der Konfrontation mit dem akustischen Medium, zumal bei einem Text wie Erste Nacht letzte Nacht, der metareferenziell das theatrale Ritual der Verkörperung zum Thema hat? Wie verlegt das Hörspiel die visuell-ma- terielle Realität des Körpers im Raum des Theaters in die akustisch-mate- rielle Dimension von Stimme und Klang? Und lassen sich in die ‘Kon- serve’ des radiophonen Mediums überhaupt Elemente des Imperfekten und Unvorhersagbaren einbringen?

Jarmila/Kinzel, Till (Eds.): Forum: Audionarratology. In: Partial Answers 15.1 (2017). S.

61-188; Bernaerts, Lars/Mildorf, Jarmila (Eds.): Audionarratology. Lessons from Audio Drama. Columbus: Ohio State University Press 2020 (im Druck).

11 Tabori: Theater – Band 2, S. 568. Von Schiller stammen die folgenden Worte: “Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In:

Ders.: Sämtliche Werke. Band 5. München: Carl Hanser 2004, S. 618. Hervorhebung im Original.

12 Tabori, George: An die Schauspieler (1977). In: Ders.: Bett und Bühne. Über das Theater und das Leben. Berlin: Klaus Wagenbach 2007. S. 141-145. Hier S. 141.

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Nähe und Distanz im Erzählerbericht

Erste Nacht letzte Nacht erzählt – darin gleichen sich der Prosatext und das Hörspiel – die Geschichte einer Freiluft-Theaterprobe außerhalb von Jerusalem.13 Die Probe läuft nicht ab wie erwartet. Statt der geplanten Inszenierung – die ungenannt bleibt – wird wegen allerhand widriger Umstände in letzter Minute, am Donnerstagabend vor der Generalprobe am Freitagmorgen, auf ein anderes Stück umgeplant. Es ist die Kreuzi- gung Christi, die jetzt auf die Bühne gebracht werden soll, und zwar möglichst authentisch. Die Theatertruppe gehorcht den Anweisungen des Regisseurs, der auf Echtheit drängt, und kreuzigt während der Pre- miere am Freitagabend einen in Verruf geratenen Rabbi, der in den dar- auffolgenden Stunden langsam stirbt. Das Menschenopfer wird vollzo- gen, ohne dass sich die Beteiligten darüber wundern. Nur der Ich-Er- zähler scheint sich des mörderischen Geschehens und seiner eigenen, ganz konkreten Beteiligung daran bewusst zu sein. Als Inspizient des Regisseurs hat er während der Premiere den Rabbi zur Kreuzigung hochgehoben; nach der Aufführung nimmt er den Toten vom Kreuz und übergibt ihn dessen Eltern.

Der Titel Erste Nacht letzte Nacht nennt die für eine Theaterproduktion wichtigen Einschnitte des Premierenabends (auf Englisch opening night), wenn zum ersten Mal ‘echt’ und vor Publikum gespielt wird, und des letz- ten Abends (oder closing night), nach dem eine Inszenierung aufhört zu bestehen, oder genauer: nur noch in der Erinnerung oder in ihrer Doku- mentation weiterlebt. Unweigerlich schwingt – in der für Tabori typischen Verbindung von Leben und Theater – im Titel auch die existenzielle Ebe- ne von Leben und Sterben mit. Und gerade die Verflechtung der beiden Ebenen, des Theaterspiels und der Existenz, ist Gegenstand der Erzäh- lung: In seiner ersten Nacht als Schauspieler, in der Rolle des Gekreuzig- ten, wird der Rabbi wirklich zu Tode gebracht; der Premierenabend ist zu- gleich seine letzte Nacht geworden. Auch für den daran beteiligten Erzäh- ler stellt die Premiere – in der Erfahrung der Beteiligung an diesem Tod – einen tiefen existenziellen Einschnitt dar.

Die Prosafassung dieser Geschichte weist eine narrativ höchst hybride Struktur auf. Der etwas mehr als 33 Buchseiten lange Text enthält 16 kurze, nicht-nummerierte, aber jeweils mit einem Zwischentitel versehene

13 Die Geschichte wird nicht konkret in der Zeit situiert und mehrere historische Ebe- nen werden zusammen gedacht, aber bestimmte historische und politische Anspie- lungen (vgl. auch infra) erlauben u.a. eine Verbindung mit dem Ende der 1940er Jahre des 20. Jahrhunderts.

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Abschnitte, in denen jeweils eine Handlung oder ein Ereignis in einer bestimmten Konstellation oder Szene im Mittelpunkt steht. Diese Struktur erweckt den Eindruck einer lockeren Abfolge szenischer Fragmente, wobei vieles ausgespart bleibt. Ein homodiegetischer Ich-Erzähler erzählt rückblickend die Geschichte, ohne dass dies für eine erzähltechnische Homogenität bürgt. Je nach Szene oder Abschnitt – und auch noch inner- halb der Szenen – schwankt der Erzählmodus stark zwischen unter- schiedlichen (Misch)Formen des epischen telling und mimetischen showing.

Der übergreifende Erzählmodus ist ein rekapitulierendes telling durch den Ich-Erzähler, der im Präteritum von den besonderen Umständen und dem Zustandekommen der Show sowie vom Tag nach der besagten Theater- aufführung und seiner eigenen Beteiligung daran berichtet. Innerhalb die- ses Erzählerberichts finden sich mehrere dialogische Passagen – Wieder- gaben der Unterhaltungen und Diskussionen innerhalb der Theatertruppe in direkter Rede, die einem mimetischen showing näherkommen –, aber auch ein Traumkapitel und weiter zurückliegende Erinnerungen des Er- zählers, zum Beispiel an die Anfänge seiner Theaterkarriere und an seine Geliebte.

So schiebt der Ich-Erzähler im 6. Abschnitt, “Der Haken an Hitler”

(EL 114-116), nach einer Unterhaltung während der Probenarbeit wie ne- benbei eine rückblickende Erzählung über seine Bekanntschaft als Jugend- licher mit Adolf Hitler in einem Wiener Obdachlosenasyl ein.14 Die anek- dotenhafte Binnengeschichte klärt über einen wichtigen Moment in der Biographie des Ich-Erzählers auf, als er noch glaubte, durch Liebe und Zuneigung die Selbstgerechtigkeit des schnell gekränkten jungen Hitler mildern zu können. Der weitere Verlauf der Geschichte hat ihn inzwi- schen eines Besseren belehrt. Die Analepse wird eingefügt, nachdem der junge römische Regisseur der Inszenierung die eintätowierte Nummer auf dem Arm des Erzählers bemerkt hat; sie wird aber nicht so sehr dem Re- gisseur und den anderen Mitgliedern der Truppe erzählt, sondern vor al- lem den Lesern – darauf deuten das Fehlen der Anführungszeichen für die direkte Rede sowie das Ausbleiben jeglicher Interaktion mit den anderen Figuren hin. Unmittelbar danach folgt im 7. Abschnitt schon die nächste Binnengeschichte, die allerdings einen ganz anderen narrativen Status hat:

Sie wird vom Ich-Erzähler im Präsens als Tempus des gleichzeitigen Zei- gens wiedergegeben und lässt sich zeitlich nicht direkt in der umrahmen-

14 Tabori komprimiert hier als Binnengeschichte den situativen Handlungskern seiner Erzählung – und seines späteren Dramas Mein Kampf (cf. supra), die im Sammel- band Meine Kämpfe der Erzählung Erste Nacht letzte Nacht vorangeht.

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den Geschichte verorten. Der Titel des Abschnitts, “Der galiläische Traum” (EL 116-118), weist sie als Traumerzählung aus. Da der darauf- folgende 8. Abschnitt vom Freitagmorgen berichtet und damit den Faden der Haupterzählung wieder aufgreift, handelt es sich vermutlich um einen Traum des Ich-Erzählers in der Nacht von Donnerstag zu Freitag.

Nicht nur durch den präsentischen Erzählmodus sticht das Traumka- pitel hervor. Inhaltlich nimmt es die ethische Problematik der bevorste- henden Theateraufführung quasi vorweg; vor allem wird der Ich-Erzäh- ler darin proleptisch und auf alptraumhafte Weise mit seiner Beteiligung daran konfrontiert. Denn auch der Traum handelt von der Probenarbeit für eine Theateraufführung; auch hier wird auf der Bühne die Frage nach der Darstellbarkeit von Tod und Mord sowie die changierende Rolle von Opfer, Komplize und Täter verhandelt. Im Traum wird der Ich-Erzähler gegen seinen Willen als “Killer” (EL 117) engagiert; bevor er bei der Pro- be die anderen umbringen kann, stürmen jedoch “Bullen in Blau mit Ma- schinengewehren” die Bühne und erschießen alle. “Bäche von Blut rinnen zwischen den Körpern entlang”, aber gleich danach “setzen sich alle auf und nehmen ihre Masken ab” (EL 118). Die Frage, wo die Fik- tion endet und die Realität anfängt, steht unbeantwortet im Raum, denn das Spiel wird immer wieder zur Realität. Dass sich der Ich-Erzähler nicht als “Schauspieler” (EL 117) versteht, sondern “nur” als “ein Büh- nen-Arbeiter” (EL 118), passt zu dieser Vermischung von Fiktion und Realität; ihm fehlen die kühle Distanz des professionellen Schauspielers zu seiner Rolle und der auf Perfektion ausgerichtete Darstellungswille. In jeder Probe ist unweigerlich auch sein Sein, seine Existenz, impliziert.

Gegen Ende der Erzählung, im vorletzten Abschnitt unter dem Titel

“Die erste der Ersten Nächte” (EL 131-135), berichtet der Erzähler in einer vermeintlichen Rückblende von seiner ersten Stelle als Bühnen- arbeiter. Schnell entpuppt sich der Bericht als die fiktive Beschreibung einer allegorischen Inszenierung, in der die Schöpfung der Welt, die Ver- treibung aus dem Paradies und das Opfer von Abraham aufgeführt wer- den, mit dem Schlachten eines lebendigen Lammes als skandalösem Hö- hepunkt. Als der Bühnenarbeiter die von Gott – der hier als Regisseur auftritt – geforderte Perfektion nicht liefern kann, wird er nach der Pre- miere entlassen, nicht ohne dass Gott ihm zuvor damit gedroht hat, bei der nächsten Aufführung ihn anstatt eines Lammes zu schlachten. Auch hier handelt es sich um die Realität des Spiels und um die tödliche Quali- tät, die es annimmt, wenn es auf Perfektion – hier: in der Form des rea- len Tötens – angelegt ist. Nur ein Spiel, das an seiner eigenen Verwirkli- chung scheitert, steht auf der Seite des Lebens.

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Die 16 Abschnitte der Erzählung reihen sich übergangslos, wie mit harten Filmschnitten aneinander. Ihre Zwischentitel markieren erzähl- technisch jeweils den Schnitt. Diese Zwischentitel bringen auch eine ex- tra- und metadiegetische Erzählposition in die Geschichte ein, die das Erzählte tentativ ordnet und subtil interpretiert. Aus den Zwischentiteln geht vorwiegend eine zeitliche Anordnung hervor, vom Donnerstag bis zum Morgen nach der Premiere, dem Samstagmorgen, aber immer wie- der unterbrochen und retardiert durch die Binnengeschichten. Diese Er- zählstruktur dehnt und schichtet den Zeitverlauf und verleiht dem nicht sehr langen Text eine Qualität der Dauer. Zugleich bleibt zwischen den Abschnitten vieles ausgespart und entsteht so der Eindruck einer Ver- mittlung der Darstellung und einer Verdichtung auf eine Reihe wesentli- cher Handlungs-, Erinnerungs- und Erfahrungskerne. Letzterer Befund lässt sich auch mit dem Titel der Erzählung – als äußerster Raffung einer Entwicklung, in der die erste Nacht mit der letzten zusammenfällt – in Verbindung bringen.

Die narrative Besonderheit der Erzählung Erste Nacht letzte Nacht lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass ihre hybride erzähltechnische Form zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit des Dargestellten chan- giert, zwischen Nähe und Distanz zum Geschehen, bis zur Ununter- scheidbarkeit der beiden Kategorien. Sie korrespondiert folglich mit der ambivalenten Position des Erzählers. Stimme und Blick sind an den Ich- Erzähler gebunden, der in der Handlung zwar keine tragende Rolle spielt – er ist nicht der Regisseur, sondern einer der Bühnenarbeiter –, dessen Beteiligung an der und Verwicklung in die Kreuzigung aber zunehmend in den Vordergrund treten. Die lebendige Verkörperung, die Tabori als Merkmal seiner Theaterästhetik befürwortet, kehrt sich hier um und äußert sich als perverse Perfektionierung im toten Körper des verstorbenen Gekreuzigten, dessen Blut der Erzähler entsorgen muss. Auch in den eingeschobenen Erzählkernen (im Traumkapitel und in der Erzählung über die allegorische Inszenierung) soll das Spiel nicht als bloße Probe, sondern als perfekte Darstellung gespielt werden. Die Erzählung lässt sich somit durchaus als kritische Auseinandersetzung des Autors mit dem Theater lesen oder genauer: als Warnung vor einer Auffassung des Thea- terspiels als perfektionierter Darstellung. Die vom Regisseur verlangte Per- fektion, die er mit dem Einsatz vermeintlicher Echtheit erreichen will, kommt einem Todesurteil gleich. Der sich allmächtig gebende Regisseur nimmt – unter Beteiligung seiner Bühnenarbeiter – nicht das Als-ob des Theaters als Realität an, sondern ersetzt dieses Als-ob durch eine gewalt- sam richtende Wirklichkeit.

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Die brisante Thematik der Erzählung ist explizit mit der langen Ge- schichte der Judenverfolgung verbunden: Die Erzählung handelt vom Schuldigwerden eines Bühnenarbeiters, der selbst Opfer des Holocaust ist, an einem verfolgten Mitglied des eigenen Volks, in einem hierarchischen, ja gewalttätigen Kontext der Fremdbestimmung. Die Aufforderung, zu proben, bis “es klappt” (EL 118, EL 124), geht von dem römischen Regisseur aus, einem “Junggenie” (EL 110), der mit einem Hubschrauber am Ort der Probe landet und in Wortwahl und Benehmen an den histori- schen Imperialismus der antiken Römer und ihre Herrschaft über Paläs- tina im 1. Jahrhundert n. Chr. erinnert.15 Der römische Regisseur streitet sich voller Wut mit einem britischen Scharfrichter über die richtige Art der Hinrichtung durch Kreuzigung, womit auf die britische Mandatsherrschaft in Palästina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1920-1947) angespielt wird. Die jüdischen Mitglieder der Truppe reagieren anfänglich mit schwachem Protest, machen schließlich aber alle mit, verführt durch die Aussicht auf materielle Entschädigung seitens des Regisseurs. Auch der Erzähler rettet den Rabbi nicht – aus Feigheit, wie er sich selbst eingesteht.

In diesem Moment ist er auch kein Bühnenarbeiter mehr: “[I]ch wollte ihn [den Rabbi] halten, leicht wie eine Braut, bis sie kommen und mir das Rückgrat brechen, aber ich bin kein Schauspieler, ich bin ein Feigling” (EL 127). In der darauffolgenden Nacht schläft er einen tiefen, langen Schlaf.

Wie lässt sich diese Erzählung eines pervertierten Spiels und dessen Zuspitzung auf die changierende Opfer-Täter-Position, auf die Implika- tion eines Handlangers, der auch selbst Opfer war, ins radiophone Me- dium übertragen wird? Verschärfen die Direktheit und Intimität des akus- tischen Mediums die Brisanz der Darstellung oder mildert die auffällige Technizität einer Hörspielproduktion die Schärfe ab? Was tragen die musikalischen und klanglichen Modi zur Komplexität der Thematik bei, wie verändern sie diese? Entscheidend ist also die Frage, ob und wie das in der Erzählung pervertierte Ritual des Theaters im Hörspiel zum Tragen kommt und was dies eventuell über die Problematik der Mitschuld aussagt.

15 Die mörderische Inszenierung, von der der Erzähler im Traumkapitel träumt, spielt die Belagerung durch die römischen Besatzer der rebellischen jüdischen Festung Massada im Jahre 73/74 n. Chr. nach. Die belagerten Juden brachten sich selbst um anstatt sich zu ergeben. Per Los wurden diejenigen Männer bestimmt, die die ande- ren und schließlich sich selbst umbringen sollten. Im Traum wird der Erzähler auf genau diese Weise zum Töten des eigenen Volkes bestimmt: “In der dritten Szene losen wir”, sagt der Regisseur, “derjenige, der den mit dem Kreuz versehenen Zettel zieht, ist der Killer, du bist der Killer.” (EL 117) – Die römische Herrschaft über Palästina dauerte in unterschiedlicher Intensität bis ins 7. Jahrhundert n. Chr. an.

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Pathos der Stimme

Die Hörspielforschung hat auf die mediale Ambivalenz des Mediums Ra- dio hingewiesen, das einen starken Effekt unvermittelter auditiver Wahr- nehmung mit seiner technologischen Vermitteltheit verbindet.16 Anders als ein gedruckter Text spricht das Akustische der Stimmen und Klänge uns scheinbar direkt an, dringt unvermittelt ins Ohr; zugleich stellt radiophone Kunst oft ihre Machart aus, zum Beispiel anhand von Techniken wie Fading, Mixing, der Positionierung gegenüber dem Mikrophon und dem Gebrauch von Klangeffekten oder Stille. Im deutschen Sprachraum hat die semiotische und narratologische Hörspielanalyse akustische Zeichen- systeme wie Stimme, Musik und Geräusche in ihrer Medienspezifizität erforscht.17 In jüngster Zeit haben wichtige Impulse aus der sogenannten unnatural narratology die Forschung vorangetrieben. Dieser Strang der Nar- ratologie untersucht nicht-realistische Erzählweisen und nicht-menschliche Erzählinstanzen, wie sie zum Beispiel von medienspezifischen Technolo- gien produziert werden. Die Interaktion von Sprechstimme, Hörerposition und radiophoner Technik, sowie die narrative Qualität von Klangland- schaften sind ein paar Forschungsgebiete, die von der ‘unnatürlichen’ Nar- ratologie studiert werden.18 Ausgehend von diesem Forschungsstand wer- de ich in der nachfolgenden Analyse zwei wichtige Elemente des Hörspiels Erste Nacht letzte Nacht untersuchen – Elemente, die einen großen Unter- schied im Vergleich zum Prosatext ausmachen und zugleich auch allge- mein zu den wichtigsten medienspezifischen Charakteristiken narrativer Hörspiele gehören: die Erzählstimme in ihrer narrativen Position und ra- diophonen Positionierung und die Soundscape als raum- oder weltschaf- fendes Phänomen.

16 Mildorf, Jarmila/Kinzel, Till: Audionarratology: Prolegomena to a Research Paradigm Explo- ring Sound and Narrative. In: Mildorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 1-26. Hier S. 14.; Huwiler, Elke: A Narratology of Audio Art: Telling Stories by Sound. In: Mil- dorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 99-115. Hier S. 100.

17 Die erste gründliche semiotische Studie stammt von Götz Schmedes: Medientext Hör- spiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel von Radioarbeiten von Alfred Behrens. Mün- ster: Waxmann 2002. Elke Huwiler erweitert in ihrer Studie diesen semiotischen Zugang und ergänzt ihn um narratologische Perspektiven (Huwiler: Erzähl-Ströme).

18 Vgl. exemplarisch für die Verbindung von unnatural narratology und Hörspielfor- schung: Bernaerts, Lars: Voice and Sound in the Anti-Narrative Radio Play. In: Mildorf/

Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 133-148. Für das Forschungsfeld der unnatural narratology sei hier exemplarisch folgendes Buch erwähnt: Richardson, Brian: Unnatu- ral Voices. Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction. Columbus: Ohio State UP 2006.

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In erster Linie transponiert die Hörspieladaption von Erste Nacht letzte Nacht den Lesetext in einen Hörtext; Text und Struktur der Erzählung be- hält sie fast vollständig bei. Auch hier folgen die Abschnitte abrupt aufein- ander, durch ein paar Sekunden Stille voneinander getrennt; auch hier wer- den sie vorwiegend von einem homodiegetischen Ich-Erzähler erzählt, dessen monologischer Retrospektivbericht sich im Sprechen des schriftli- chen Textes gestaltet, unterbrochen von dialogischen Gesprächsszenen, die etwas mehr Raum für improvisierende Abweichungen von der schrift- lichen Vorlage lassen. Ausgeprägter allerdings als beim gedruckten Text tritt die Erzählstimme als kommunikative und individualisierte, führende Erzählinstanz in den Vordergrund.19 Die besondere Prosodie verleiht der Stimme einen wiedererkennbaren akustischen Charakter und dem Erzäh- ler sozusagen ein akustisches Gesicht, eine akustische Maske: Der leise, schleifende Ton der Stimme (es ist jene von George Tabori selbst, der die Rolle des Erzählers spricht), ihre etwas nuschelnde, weiche Qualität ver- bindet die Szenen und sticht als dominantes akustisches Element der Pro- duktion hervor. Anders als im Prosatext bekommt diese Stimme auch einen doppelten Namen: Vom Regisseur wird sie Giorgio gerufen, wäh- rend der Erzähler selbst auf den Namen Schlomo (den Namen, den er auch in der Prosafassung trägt) besteht.

Aus dem Zusammenspiel von stimmlicher Qualität und doppelter Na- mensgebung ergibt sich eine ironisch wirkende Metalepse zwischen Fik- tion und Biographie: Der fiktive Erzähler Schlomo wird von einer anderen fiktiven Figur als Giorgio angesprochen, mit einem Namen also, der expli- zit auf den biographischen Autor verweist. Und gerade auf diese biogra- phische Ebene verweist auch die physische Stimme von Schlomo-Giorgio.

Vielleicht erkennen nicht nur die Zuhörer des Hörspiels die Stimme von George Tabori wieder, sondern hat womöglich auch der fiktive, intradie- getische Regisseur seinen Bühnenarbeiter sozusagen metaleptisch als Gior- gio erkannt. Der akustische Modus bewirkt hier auf jeden Fall ein verstärk- tes existentielles Pathos: In die fiktive Geschichte über das Schuldig-Wer- den eines Bühnenarbeiters ist auch derjenige verwickelt, der diese Rolle stimmlich spielt. Das Als-ob des Spiels lässt sich von der realen Erfahrung des Spielers, von seinem ‘Sein’ nicht trennen, allerdings ohne dass die bei- den Ebenen deswegen ungebrochen zusammenfielen.20

19 Bei der Transposition eines textuellen Erzählers ins akustische Medium des Hör- spiels scheint der Effekt einer gewissen Individualisierung und Psychologisierung durch die menschliche Stimme unvermeidbar, vgl. Bernaerts: Voice and Sound, S. 136.

20 Eine ähnlich komplexe (existenzielle) Realität des (fiktionalen) Spiels zeigt sich im körperlich-materiellen Medium des Theaters, namentlich in den Inszenierungen, in

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Noch auf einer anderen Ebene ermöglicht der akustische Modus die narrative Metalepse zwischen unterschiedlichen Erzählniveaus und somit unterschiedlichen Subjektpositionen. Im Prosatext sind die dialogischen Passagen – die Wiedergaben der Gespräche unter den Theaterleuten – meistens als in den retrospektiven Bericht des Ich-Erzählers eingebettet markiert: durch die vielen Inquit-Formeln wie “sagte ich” und “sagte er”, und durch die Verwendung der Anführungszeichen. Diese Markierungen fallen im Hörspiel weitgehend weg; nur gelegentlich werden die Inquit- Formeln beibehalten. So verschiebt sich die Position des Erzählers regelmäßig unvermittelt von seinem extradiegetischen Standpunkt als retrospektivem Erzähler zur intradiegetischen Position eines am Ge- spräch und an der Handlung Beteiligten. Auch ein Lesetext könnte diese Shifts suggerieren. Aber dadurch, dass die Sprechstimme hier auf beiden Ebenen deutlich hörbar dieselbe bleibt – sogar seine zentrale Positionie- rung zum Mikrophon ändert sich nicht –, verstärkt sich der Eindruck der Simultaneität der Erzählebenen sowie ihres nicht-hierarchischen Neben- einanders statt einer Unterordnung. Da die gleiche Stimme immer wieder unmarkiert die Position in der Erzählordnung wechselt, aber im akusti- schen Raum auf demselben Platz bleibt, verstärkt sich beim Hören der Eindruck ihrer Verwicklung in den eigenen Bericht, von der es auch in der Retrospektive keine Erlösung gibt. Anders ausgedrückt: Das Schul- dig-Werden, von dem die Geschichte des Bühnenarbeiters handelt, wirkt als Erlebnis auch rückblickend noch immer nach, und gerade das Pathos der einen, unvermittelt zwischen den Positionen changierenden Stimme enthält das tragische Bewusstsein dieser Schuld.

denen Tabori selbst mitspielte, so zum Beispiel in Mein Kampf und Goldberg Variatio- nen. Dieses gemeinsame Dasein von Als-ob und Realität scheinen Theater und Radio als Medien miteinander zu teilen – beide könnte man present-tense Medien nennen (vgl.

Lutostański, Bartosz: A Narratology of Radio Drama: Voice, Perspective, Space. In: Mil- dorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 117-132. Hier S. 119. Lutostański zitiert aus Crisell, Andrew: Understanding Radio. London: Routledge 21994, S. 9). Ein medialer Unterschied liegt allerdings darin vor, dass in der vorab aufgenommenen Radiosen- dung die Anwesenheit im Jetzt mittels Abwesenheit erzeugt wird, während im Theater die Körper der Schauspieler (meistens) tatsächlich anwesend sind. Im Ge- brauch von Video- und Klangaufnahmen experimentiert allerdings auch das (inter- mediale) Theater mit dem Realitätseffekt eines Spiels in absentia. Zur ‘gespensti- schen’ Präsenz der Tonbandstimme im Radio vgl. Frahm, Ole/Michaelsen, Torsten:

Hört die anderen Wellen! Zur Verräumlichung der Stimme im Radio. In: Stuhlmann, Andreas (Hg.): Radio-Kultur und Hör-Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923-2001.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 39-61.

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Stimmen, Klänge und Improvisationen

Die Stimme des Erzählers spielt in diesem Hörspiel also eine wesentliche Rolle beim Aushandeln der Problematik des Schuldig-Werdens im Spiel.

Diese Stimme ist aber nicht die einzige im Hörspiel und schon gar nicht die einzige klangliche Komponente. Während einerseits die wiederer- kennbare Stimme des Erzählers die Handlung narrativ ordnet, fügen sich mehrere akustische Elemente zu intra- und extradiegetischen Soundsca- pes zusammen, die die narrative Komposition noch vielschichtiger ma- chen.

Im Prosatext wird der Ernst des Erzählten durchgängig mit humoris- tischen Elementen aus der Populärkultur aufgelockert, die mal vom Er- zähler vermittelt, mal in den dialogischen Szenen von anderen Figuren ge- äußert werden: schwarzer, auf den Holocaust bezogener Humor, ras- sistisch und sexistisch angehauchte Witze, absurde Zufälligkeiten usw.

Auch die Soundscape des Hörspiels adaptiert bestimmte Genrekonven- tionen aus der Populärkultur. So spielen tiefe, drohend klingende und nur für die Hörer wahrnehmbare Geräuschstränge deutlich auf die Konven- tion der suggestiven Spannungssteigerung im Krimi an. Ebenso extradie- getisch kommentierend wirken die improvisierten orientalischen Musik- klänge. Sie gehorchen der konventionellen Suggestion eines exotischen Ambientes oder dem Stereotyp ethnischer Figurendarstellung.21 Aber im- mer wieder wird die Musik ausgeblendet oder mit dem drohenden Brummton vermischt, oder die Klänge werden mittels der harten Schnitte der Stille zwischen den Abschnitten abgebrochen, bevor sie sich zu einer charakteristischen Melodie entwickeln können. Diese akustischen Elemen- te in der Erzählordnung des Hörspiels zu verorten, ist schwierig. Die Klänge und Geräusche kommentieren nicht den Erzähler, sondern sie be- gleiten dessen Erzählung und modellieren und kommentieren das Gesche- hen, die darin auftretenden Figuren und deren Handlungen. Ob der Er- zähler sie hört, bleibt unklar. Sie tragen also wesentlich zur narrativen Vermittlung der Geschichte bei, ohne dass sie von dem homodiegetischen Erzähler als zentraler Erzählinstanz ausgingen; den Zwischentiteln in der

21 Bei der Figur der japanischen Bühnenbildnerin wird die ethnische Stereotypisierung auf der sprachlichen Ebene noch verstärkt durch den deutlich hörbaren Sprachfehler – das r- spricht sie als l- aus –, ein Klischee aus Comedy und Comics, das im Prosa- text nicht vorkommt. Auch die Prosodie der Stimmen der intradiegetischen Figuren weist manchmal komödienhafte Genderstereotypen auf.

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Textfassung nicht unähnlich, stellen sie im radiophonen Medium eine me- dienspezifische, technisch realisierte höhere Erzählebene dar.22

Auch auf der intradiegetischen Ebene tritt Musik nicht in einer voll- endeten Form, sondern als Improvisation auf: Im Abschnitt “Der Albi- nosong” improvisiert einer der aus Damaskus (!) zugereisten antisemiti- schen (!) Studenten,23 der sogenannte Albino, mehrere Melodien zu dem Kriegsgedicht Epitaph for an Army of Mercenaries (1922) des britischen Dichters A. E. Housman24, während ihm der Erzähler, der vergeblich ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, zuhört. Dreimal hebt der Student zu singen an, zwei dieser drei Fragmente rücken akustisch in den Vordergrund, an den zentralen Platz vor dem Mikrophon: Sie verlassen die Ebene der retrospektiven Erzählung und werden damit den Hörern des Hörspiels sozusagen direkt vorgespielt – erzähltechnisch vollziehen sie somit eine Art akustische Metalepse. Auch der Prosatext enthält diese Improvisationsszene, gibt allerdings nur die Verszeilen (in deutscher Übersetzung) wieder und enthält keine Beschreibung, keine “verbal mu- sic”25 des dazu improvisierten Liedes. Im Hörspiel wird dagegen der spielerische Charakter der improvisierten Vertonung hörbar als ein Ver- such zu singen, als Versuch, der Toten in einem Lied zu gedenken. Der antisemitische Sänger und Gitarrist (Stimme: Klaus Fischer) schafft das aber nur mit Unterbrechungen, in drei Anläufen. Dass aus den Fragmen- ten kein vollendetes, zu Ende gesungenes Lied wird, verhindert, dass sich ein heldenhaft-pathetischer Ton einschleicht26 oder auch dass das Gedicht über den Ersten Weltkrieg gedankenlos für eine politische oder identitätszentrierte Ideologie eingesetzt würde.

22 Vgl. Bernaerts, Lars: Narrative Mediation and the Case of Audio Drama. In: Bernaerts/

Mildorf (Eds.): Audionarratology (im Druck).

23 Die Erzählung bringt, wie oft bei Tabori, Juden und Antisemiten gemeinsam in einer Szene, auf einer Bühne, zusammen.

24 A.E. Housman (1859-1936) war ein englischer Altphilologe und Forscher der lateinischen Lyrik. Seine eigene Lyrik handelt oft vom Leben und Sterben junger Soldaten, so auch in den Gedichten, die er nach dem Ersten Weltkrieg verfasste.

25 Scher, Steven Paul: Notes toward a Theory of Verbal Music. In: Comparative Literature 22.2 (1970). S. 147-156.

26 Man kann das Gedicht als eine glorreiche Feier des britischen Soldatentums lesen oder aber vor allem die bitteren und ironischen Töne wahrnehmen. Vgl. Kendall, Tim: An Epitaph on Epitaphs on an Army of Mercenaries. 31.01.2009. Unter: http://war- poets.blogspot.com/2009/01/epitaph-on-epitaphs-on-army-of.html Letzter Zugriff:

15. September 2019.

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Das auffallendste Element der radiophonen Adaptation der Ge- schichte betrifft ebenfalls den Versuch, ein Lied zu singen. Es weicht als einziges Element radikal vom Prosatext ab und fügt dem Hörspiel eine zusätzliche mediale und erzähltechnische Ebene hinzu. Das Hörspiel beginnt nämlich nicht mit der retrospektiven Erzählung durch den ho- modiegetischen Erzähler, sondern unvermittelt mit einem Ausschnitt aus einer ganz anderen akustischen Szene: der Probe des jiddischen Wider- standslieds Sog nicht kejnmol (1943) durch eine Sängerin und einen Kom- ponisten/Gitarristen. Erst über dem langsamen Ausblenden dieser Pro- benarbeit erklingt dann, nach etwa einer Minute, die Titelansage des Hörspiels, “Erste Nacht letzte Nacht. Ein Radiostück von George Tabo- ri und Jörg Jannings” (1’01’’), was die Szene als eine Art Prolog des Hör- spiels ausweist.27

Dieser Anfang stellt in mehrfacher Hinsicht eine bedeutungsvolle Modifikation des Prosatextes dar. Das intradiegetische Setting einer Thea- terprobe wird auf einer höheren Erzählebene um eine Probenarbeit im akustischen Medium des Lieds ergänzt. Dem medialen Rahmen des Thea- ters wird so ein weiterer medialer Rahmen hinzugefügt, der die Aufmerk- samkeit auf die Kunst des Singens – statt des Spielens – lenkt sowie auf deren radiophone Aufnahme und Rezeption: In ihrer suggerierten real life- Wiedergabe bewirkt die kurze Szene, dass die Hörer direkte Zeugen, Ohrenzeugen, dieser Probenarbeit werden. Deutlich hörbar ändert sich zum Beispiel die Positionen der Sängerin (Stimme: Ursula Höpfner) und des Komponisten (Stimme: Klaus Buhlert) zum Mikrophon des Radiostu- dios, manches Gesagtes und Gesungenes wird dadurch weniger verständ- lich. Bezeichnenderweise gelingt auch hier das Singen nicht: Die Melodie klingt falsch, der richtige Ton und Rhythmus ist nicht zu finden, die Stim- me zögert, und schließlich seufzt die Sängerin lachend, aber kaum hörbar:

“Die Seele fehlt” (1’00’’).

Noch vor dem Sprechen des Erzählers und vor dem Hauptnarrativ der Theaterprobe lenkt die Liedszene das Ohr der Zuhörer auf die ungeheuere Realität der Shoah: Geprobt wird ein in dieser Realität verortetes Wider- standslied, das, wie Ruth Klüger es formuliert hat, für die Hörer zugleich

27 Das auf Jiddisch verfasste Partisanenlied Sog nicht kejnmol wurde 1943 von Hirsh Glik, einem Ausbrecher aus dem Getto von Wilna (Vilnius), geschrieben und später von Dimitri Pokrass, einem jüdischen Komponisten aus der damaligen Sowjetunion, vertont. Glik schrieb den Text anlässlich des Aufstands der Juden im Warschauer Getto 1943.

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auch zu einer Elegie auf die Toten wird.28 Auch dieses Lied wird nicht zu Ende gesungen. Im Unfertigen setzt sich die Szene mit der Schwierigkeit der Nachgeborenen – bei denen “die Seele”, die reale Erfahrung, fehlen mag – auseinander, der Toten wahrhaft und ohne unrechtmäßige Aneig- nung zu gedenken. Indem die Probe schon nach einer Minute ausgeblen- det wird, scheint das Hörspiel auch das Scheitern des Widerstands und die Ermordung der vielen Leben anzudeuten, und das trotz des starken Über- lebenswillens, der aus dem Liedtext spricht. Auch hier wird jeder Anklang an Heldentum vermieden. Die Tatsache, dass diese Realität nicht in Form eines gesprochenen Narrativs vermittelt wird, sondern in Gestalt vokaler und instrumentaler Musik, genauer: eines jiddischen Lieds in unfertiger Ausführung, verstärkt die sinnlich-affektive Wirkung.29

Trotz Ähnlichkeiten zwischen dieser Liedprobe und der oben schon kommentierten intradiegetischen Vertonung des Housman-Gedichts über den Ersten Weltkrieg (Krieg und Tod von vielen, das Problem des an- gemessenen Gedenkens), überwiegen die Unterschiede, und sie sind be- deutungsvoll. Der Dialog des Erzählers mit dem antisemitischen Studen- ten, der, wie er sagt, am liebsten Horrorfilme mag (EL 109; 19’46”), bringt Unwissen und Gleichgültigkeit bezüglich des historischen Kontexts des Gedichts an den Tag; dessen Vertonung gleicht einer Spielerei aus Lange- weile. Die Sängerin dagegen setzt sich, wie der Hinweis auf das Fehlen der Seele zeigt, explizit mit dem Bezug zwischen Lied und Existenz aus- einander. Und eine weitere strukturelle Einbindung der Liedprobe in das Hörspiel legt nahe, dass sie nicht aufgibt: Ausgerechnet an der Stelle, wo in der Prosafasssung der Erzähler in einer anekdotenreichen Vorgeschichte von seiner Bekanntschaft mit dem jungen Hitler in Wien erzählt (EL 114- 116) und damit die Frage “Du bist nicht ausgekommen mit Hitler?” des unwissenden, antisemitischen Regisseurs beantwortet (EL 114) – ausge- rechnet an dieser Stelle erklingt erneut das Widerstandslied (30’20”- 31’04”). Deutlicher und kräftiger als am Anfang singt die Sängerin die erste Strophe, wonach in einer chorischen Passage mehrere Stimmen gemein- sam die Melodie summen. Kurz schweigt der Erzähler, die fiktionalen

28 Das Lied ist, so Ruth Klüger, “ein einzigartiges Kampflied, weil es in den Ohren der Heutigen (und besonders der wenigen Überlebenden) gleichzeitig zu einer Elegie für die Toten wird.” Klüger, Ruth: Hirsh Glik: “Partisanenlied”. FAZ 01.06.2018. Unter:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter- anthologie-partisanenlied-von-hirsh-glik-15618349.html Letzter Zugriff: 15 Septem- ber 2019.

29 Die Hörer mögen außerdem mit der melodisch berührend wirkenden Klezmer-Mu- sik vertraut sein und das Liedfragment damit in Verbindung bringen.

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Hitler-Anekdoten fehlen in der Hörspielfassung. Als er wieder spricht, erzählt er den Traum, in dem er die Rolle eines Killers spielt und aufge- fordert wird, alle seine Mitspieler zu ermorden. Das gesummte Lied läuft unter seiner Erzählung noch eine Weile weiter (31’05”-32’00”).

Dieses in der Prosafassung so zentrale Traumkapitel (vgl. oben) nimmt auch im Hörspiel eine bedeutende Stelle ein. Und zwar vollzieht sich hier eine metaleptische Vermischung der extradiegetischen Erzählebene der Liedprobe, mit der das Hörspiel angefangen hat und die hier wieder er- tönt, mit der intradiegetisch eingeschobenen Traumgeschichte des Erzäh- lers. Zögernd und äußerst langsam, wie eine Anamnese im Halbschlaf, re- kapituliert der Erzähler den furchtbaren Traum. Über wiete Strecken klingt gleichzeitig das Widerstandslied, aber nicht – oder nicht nur – als extradiegetische Soundscape, sondern auch als Teil der Traumwelt: In der geträumten Theaterprobe singt und summt Naomi, die Geliebte des Er- zählers, das jiddische Widerstandslied als “den Blues, der die Geschichte erzählt” (EL 117; 36’45”), dabei vom improvisierenden Gitarristen begleitet (34’50”-39’42”). Bald ist die Musik unter der Traumerzählung hörbar, bald rückt sie in den Mittelpunkt, direkt ans Mikrophon.

Eine narrative Gleichzeitigkeit geschichtlicher Ebenen, widersprüchli- cher Subjektpositionen und affektiver Wirkungen tut sich hier auf.30 Die geträumte Probe eines Theaterstücks über den jüdischen Aufstand in Mas- sada im 1. Jahrhundert verbindet sich mit dem Lied über den Warschauer Aufstand von 1943. Beide Aufstände handeln von kollektivem Widerstand und von vielen Opfern. Im Traum probt der Erzähler gezwungenermaßen das eigene Schuldigwerden am eigenen Volk in der historisch weit zu- rückliegenden Katastrophe, während seine Geliebte eine Elegie auf die To- ten der Katastrophe singt, deren Opfer der Erzähler war. Von der Probe berichtet die erschöpft und alt wirkende Stimme des Erzählers in einer äußerst mimetisch-direkten Weise, ganz nah am Mikrophon; das Lied da- gegen wird ebenso direkt von der nunmehr geübten, jung anmutenden Sängerin/Geliebten ins Mikrophon gesungen, heiter und lebendig.31

30 Caroline Kita erläutert, wie im radiophonen Medium gerade die akustischen Leit- motive der Soundscape eine komplexe Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitebenen und Räumlichkeiten und fiktionaler und realer Elemente bewirken können. Vgl. Kita, Caroline: Simultaneity and the Soundscapes of Audio Fiction. In: Bernaerts/Mildorf (Eds.):

Audionarratology, im Druck.

31 Vgl. Bluijs, Siebe: Earwitnessing: Focalization in Radio Drama (in: Bernaerts/Mildorf (Eds.): Audionarratology, im Druck) über die Möglichkeit, im akustischen Medium verschiedene Arten der Fokalisierung gleichzeitig zu präsentieren.

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Akustische Metalepsen zwischen Nähe und Distanz

Wie oben dargelegt, verstärkt in diesem Hörspiel – im Vergleich zur Text- fassung – die metaleptische Beweglichkeit der Erzählstimme bei einer weitgehend stabilen akustisch-technischen Positionierung an zentraler Stel- le vor dem Mikrophon den Eindruck der unwiderruflichen Verwicklung des Erzählers in die Problematik der Mitschuld, aus der ihn auch das Ver- gehen der Zeit nicht befreit. Für die Hörer gewinnt dieser Eindruck durch die besondere Prosodie und konkrete Materialität der Sprechstimme – die man biographisch mit der Stimme des Autors gleichsetzen darf – eine zusätzliche existentielle Dimension, die eine reale Erfahrung im fiktionalen Sprechen suggeriert. Obwohl die Handlung also unüberhörbar von einem Erzähler narrativ geordnet wird, erzeugt die Eigenart der radiophonen Stimme einen starken Effekt der Nähe und der mimetischen Unmittel- barkeit.

Damit verglichen bringt die Soundscape mehrmals einen stärker distan- zierenden Effekt hervor. In ihrer kommentierenden Funktion explizieren manche extradiegetischen Elemente der Soundscape, zum Beispiel akus- tische Anspielungen auf Konventionen der Populärkultur, eine hierar- chisch höhere Erzählebene. Die Soundscape kann aber auch Nähe erzeu- gen, zum Beispiel wenn das Lied des sogenannten Albinos oder das Wi- derstandslied mimetisch direkt an die Hörer gerichtet werden und in einer Art akustischen Metalepse aus der intradiegetischen Vermittlung somit eine direkte Performance wird. Anhand des Motivs der Liedprobe, das neben der Sprechstimme den wichtigsten Unterschied zur Prosafassung der Geschichte darstellt, lässt sich dieser Wechsel zwischen – bzw. die Gleichzeitigkeit von – Nähe und Distanz am besten erläutern:32 Führt sie zu Beginn eine zusätzliche narrative Ebene ein, die in ihrer Akustik direkt affektiv auf die Hörer wirkt, so wirkt sie in ihrer Position als Prolog auch als eine Art Reflektionsebene für die nachfolgende Erzählung. Im Traum- kapitel verschiebt sich die Liedprobe auf die intradiegetische Ebene, behält jedoch zugleich als akustische Performance ihre direkte Wirkung auf die Hörer bei, während sie den Erzähler nicht zu berühren scheint – wenig- stens kommentiert er das Lied mit keinem Wort, als höre er es nicht.

Die Struktur und Position der Liedprobe in der komplexen narrativen Situation des Hörspiels regt dazu an, ihre Kontrastwirkung zur Theater- probe zu reflektieren: Gilt für die Theaterprobe die autoritäre Aufforde-

32 Vgl. Bernaerts: Narrative Mediation (im Druck) über die narrative Vermittlung im Hörspiel als fließenden Prozess.

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rung, zu üben, bis ‘es klappt’, so scheint sich die Liedprobe von einer sol- chen direktiven Anweisung zur Vollendung fern zu halten. Die Liedfrag- mente tauchen in mehreren Szenen kurz auf, mal von der Sängerin ge- sungen, mal von mehreren Stimmen gesummt, aber niemals völlig in die intradiegetische Welt integriert. Ihr Improvisationscharakter zeichnet sich durch eine große Offenheit und Lebendigkeit aus. Damit bleibt das Lied von der Verstrickung in die Problematik der Mitschuld unberührt, so eng es auch mit der Realität der Opfer und deren Gedenken verbunden ist.

Die Prosafassung von Erste Nacht letzte Nacht, so wurde anfangs klar, handelt von der Pervertierung des Rituals des Spiels durch eine fremd- bestimmte Forderung nach Perfektionierung und von der Mitschuld des Erzählers daran. Anstatt die Realität im Als-ob des Spiels anzuerkennen, wird das Spiel durch eine gewaltsame Wirklichkeit ersetzt. Die Hörspiel- adaption behält diese Problematik bei. Sie fügt ihr aber mittels der bruchstückhaften Liedprobe als Teil der Soundscape eine andere akusti- sche und kreative Welt hinzu, deren spezifischer Charakter gerade mit den technischen Möglichkeiten des radiophonen Mediums realisiert wird:

Der technisch gestaltete und vermittelte akustische Modus erlaubt es, die Probe als eine Kunst wahrzunehmen, die beweglich und offen bleibt, an- dere anspricht und sich zugleich der eindeutigen Instrumentalisierung entzieht. Dem hörbaren existentiellen Pathos in der Erzählung des Ein- zelnen, des Erzählers, fügt die Liedprobe die akustische Wahrnehmung des kollektiven Singens und Musizierens hinzu, die Wahrnehmung eines Spiels, das auf der Seite des Lebens steht und dabei das Gedenken der Toten zum Ausdruck bringt. Dieses Spiel braucht kein neues Todes- opfer. Der Autor Tabori und der Regisseur Jannings verschieben damit Taboris Theaterauffassung über Spiel und Existenz kongenial ins radio- phone Medium. Stimme und Soundscape steigern noch die narrative Komplexität der Erzählung; zugleich suggerieren sie auf subtile Weise einen Widerstand gegen das perfekte Spiel, über das die Erzählung be- richtet.

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