• Keine Ergebnisse gefunden

E Leben verändern

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "E Leben verändern"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Medien, Moden, Medizin

ARS MEDICI 9 2011

361

ARSENICUM

igentlich wollte die Assistenzärztin von den Psychiatern in der Balint-Gruppe wissen, wie sie bei dem lustig-extravertierten Mann mit Al- koholproblemen die vermutete Melancholie aufde- cken könne. Ein paar Tipps, wie sie fragen sollte, damit sie hinter die Maske des gelernten Handwerkers käme.

Er hatte eine Lehre in einem kreativen Beruf abge- schlossen und einige Jahre erfolgreich darin gearbei- tet. Als er Differenzen mit Auftraggebern wegen künst- lerischer Inhalte bekam, jobbte er als Möbelpacker, was ihm so zusagte, dass er seinem Arbeitgeber 18 Jahre lang treu blieb. Fernreisen mit dem Möbel - wagen in interessante Länder, kurze Akkordeinsätze in der Heimatstadt, viel Kontakt mit Menschen und jeden Tag ein neues Einrichtungsuniversum. Ein lustiges Team und viel Freiheit, denn er arbeitete nur bei Bedarf.

Doch er wurde älter, der Bewegungsapparat fing an, weh zu tun, und irgendwann merkte er, dass aus dem Bierchen in Kollegenrunde eine Sucht geworden war, dass er Schulden hatte und seine langjährige Freundin sich um ihn sorgte. Er wollte all das – und sich – ändern.

Voller Respekt für den mutigen Entscheid des Patien- ten, sich zu entgiften und in eine Langzeittherapie zu gehen, erzählte dies die Assistenzärztin und hoffte auf konstruktive Ratschläge der Fachleute. Die waren an dem Tag aber destruktiv. Dieser Patient, so diagnosti- zierten sie, litte an einer narzisstischen Problematik, habe seine Eltern enttäuscht. Er habe nichts erreicht, sein Leben verpfuscht. Man müsse beim Verhältnis zum Vater nachhaken, die Beziehung zur Mutter, zur Freun- din hinterfragen. Sein Freund – ein tätowierter Leder- jackenträger mit Zöpfchen – sei suspekt. Sein Faible für Formel-I-Rennen, Kunstausstellungen, Boxen und die Bauten von Antonion Gaudi sei «fragmentiert». Und warum Langzeittherapie? Warum in dieser Institution?

Das würde doch gar nichts bringen, mäkelte ein eben- falls stets lederjackengekleideter Oberarzt mit nikotin- gelben Fingern. Der Möbelpacker brauche Einzel - therapie, in welcher man sein Leben «auseinander- nähme». Die Demontage eines Patienten, den alle nicht kannten, ihr Bestreben, sein Leben zu entwerten, welches sie genauso wenig kannten, missfiel der Assistenzärztin. Der Auftrag des Patienten, so protes- tierte sie, sei nicht Vergangenheitsarchäologie, son-

dern Hilfe bei der Gestaltung der Zukunft und beim Überwinden der Alkoholabhängigkeit. «Du verteidigst ihn!», sagte eine Kollegin. «Du bewunderst ihn!», ta- delte die Leiterin der Gruppe, «da musst du aufpassen.

Dann kannst du nicht mehr klar denken!» In diesem Mo- ment beschloss der Hausarzt, der neben der Assistenz- ärztin sass, diese Balint-Gruppe nicht mehr zu besu- chen. Auch seine Patientinnen und Patienten lebten Leben, die merkwürdig bis sinnlos erscheinen, weil sie ausserhalb des gutbürgerlichen Rahmens liegen. Die Alleinerziehende, die mit Sozialhilfe gut durchkommt und keine Jobs annimmt, weil sie keine materiellen Be- dürfnisse hat und so sorgenfreie Tage mit ihrer Tochter auf dem Spielplatz verbringt. Der alte Messie, der in einem Campingwagen lebt und einen zweiten für seine «Schätze» gekauft hat: Stapel alter Zeitschriften und Tonnen von Altmetall, in denen er begeistert herumkramt. Er ist Erbe von mehreren Häusern, aber die hat er vermietet und kümmert sich nicht um sie. Der junge Designer, der Computerspiele entwirft und wie ein Vampir in einem dunklen Kellerzimmer lebt, vor- wiegend nachts arbeitet und immer wenn er ein Spiel verkauft, wieder ein paar Monate lang Geld für Spag- hetti hat. Der Obstbauer, der 150 Bäume wegen Feuer- brand roden musste und nun nach Australien auswan- dern will – in völliger Unkenntnis des Landes und ohne Englischkenntnisse. Die Enddreissigerin, die den Grossteil ihres kargen Lohns als Verkäuferin für Ge- sangs- und Tanzstunden ausgibt, sich bei jedem Talent- wettbewerb einschreibt und glücklich ist, auch wenn sie nicht über die Casting-Runde hinauskommt, weil sie fest an den Durchbruch glaubt, der irgendwann einmal kommen muss. Da sinniert der Hausarzt abends, nach dem Erledigen von Bergen von Administrativem, ob es seine Patienten nicht besser machen als er, wenn sie auf Materielles verzichten und sich auf etwas fokussieren, an dem ihnen viel liegt. Vielleicht ist er ja nur ein Esel, der pflichtbewusst eine riesige Arbeitslast schultert.

Die Psychiater der Balintgruppe würden vermutlich ein Helfersyndrom bei ihm diagnostizieren, sicher auch ödipale Gelüste auf seine Mutter und Kastrationsangst gegenüber seinem Vater. Er steht auf, greift sich im Weinkeller eine Flasche Roten, setzt

sich in die Abendsonne auf den Bal- kon und geniesst sein Leben, wel- ches auch ein bisschen schräg ist, denn wie kann man sich tagtäglich nur mit Krankheit abgeben?

Leben verändern

E

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Christen wurden, wie auch Jesus selbst, verfolgt, festgenommen und teilweise getötet. Men- schen starben, weil sie von Jesus begeistert waren. Trotzdem hörten die Christen

An der Grenze zu Rundistan öffnete mir ein kugelrunder Wächter _______ große, runde Tor und begrüßte mich überaus freundlich.. _______ Wetter in diesem Land war

Man kann das Fürwort „das“ auch durch „dieses“, „dies“, „welches“ oder..

3. Punkte einreichen: Jedes Mal, wenn Moritz wieder Punkte eingesammelt hat, reicht er diese schnell und unkompliziert über die DAK App ein und hat so immer seinen Punktestand

Zahlen, die nicht abgedeckt werden können, sind ausnahmslos zweistellige Primzahlen oder Vielfache von ihnen.. Die Aufgabenstellung lässt sich

Das Medienforschungsprojekt «Swiss Ageing Society» untersucht, mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse, wie die Zeitungen NZZ, Blick und 20 Minuten zwischen 2014 und 2017 über

§ 45 SGB V besteht der Anspruch auf Vergü- tung für die Dauer von 10 Tagen, und nur wenn das Kind noch keine 12 Jahre alt ist. Außerdem besteht gemäß § 45 SGB V ein Anspruch auf

Schweitzer ist nun zweifacher Doktor, doch er legt noch einen drauf: Ein Jahr nach der letzten Dis- sertation, 1902, habilitiert er sich in evangelischer Theologie und wird