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Gedanken zu einem unbekannten Foto

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Kowalewskaja , Herr H-a , Herr X und andere

Gedanken zu einem unbekannten Foto

v on R einhard B ölling

Bei meiner Arbeit im Archiv des Instituts Mittag-Leffler (Djursholm/Schweden) fiel mir eine Fotografie in die Hände, auf dem die russische Mathematikerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891} zusammen mit einigen anderen Personen zu sehen war. Es gibt zwar noch einige andere Kowalewskaja-Fotos in diesem Archiv, sie sind aber alle längst publiziert worden, während jenes Gruppenfoto, dessen Wiedergabe hier mit freundlicher Genehmigung des Instituts Mittag-Leffler erfolgt, ganz unbekannt geblieben zu sein scheint. Vielleicht ist es überhaupt das letzte noch unveröffentlichte Foto der berühmten Schülerin von Karl Weierstraß (1815-1897}.

Grund genug, es einmal näher zu betrachten und hier vorzustellen.

Natürlich war zu klären: Wer sind die anderen Perso- nen? Wann ist das Foto entstanden? Ich ahnte nicht, daß besondere Umstände es erlauben würden, eine sehr gerraue Datierung vorzunehmen und außerdem noch eine weitere Überraschung auf mich warten soll- te. Wir wollen die Personen auf unserem Foto aber nicht nur betrachten, sondern wieder ein wenig zum Leben erwecken, nämlich dadurch, daß wir sie selbst reden lassen, so wie sie zum Zeitpunkt der Aufnahme über sich und über die anderen sprachen.

Zu den Personen: In der Mitte der Gruppe, links von Kowalewskaja, steht-unschwer zu erkennen- der Schwede Gösta Mittag-Leffier (1846-1927), seit 1881 Professor an der kurz zuvor gegründeten Stockhol- mer Hochschule. Links daneben ist seine junge Ehe- frau Signe (1861-1921) zu sehen. Es gibt im Institut Mittag-Leffier diverse Fotos von Signe, so daß an die- ser Zuordnung gar kein Zweifel besteht. Sie brachte als Tochter des finnischen Generalmajors Julius af Lindfors und vor allem seiner Ehefrau Maria Emi-

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lia ein Vermögen in die Ehe mit. Gösta und Signe hatten 1882 geheiratet. Ganz links sehen wir Anne Charlotte Leffier (1849-1892), die Schwester Mittag- Leffiers. Sie war damals in Schweden eine bekannte Schriftstellerin. Heute noch verbinden wir mit ihrem Namen die nach wie vor lesenswerte Biographie Ko- walewskajas, die sie unmittelbar nach deren so un- erwartet frühem Tod, noch ganz unter dem lebendi- gen Eindruck an die Verstorbene stehend, verfaßte.

Ein Glücksumstand, denn binnen Jahresfrist folgte sie der russischen Mathematikerirr ins Grab.

Aber wer ist der Mann auf der rechten Seite des Fotos? Ein Angehöriger der Familie Mittag-Leffiers?

Zwei Umstände werden uns auf seine Spur führen.

Wie damals üblich, findet sich auf dem Foto die Angabe des Ateliers. Danach ist die Aufnahme in Södertälje, einem Vorort südwestlich von Stockholm, entstanden. Da Kowalewskaja im November 1883 erstmals schwedischen Boden betreten hatte, ist das Foto jedenfalls nicht früher entstanden. Außerdem fällt auf, daß selbst bei Berücksichtigung der Art und Weise, wie man sich in den 80er Jahren des vori- gen Jahrhunderts zu kleiden pflegte, die äußere Er- scheinung der Mitglieder der Familie Mittag-Leffier auf einen Trauerfall hinzudeuten scheint. Tatsächlich hatte es ein solches Ereignis in der Familie (in dem hier relevanten Zeitraum) gegeben: im Juli 1884 war Mittag-Leffiers Vater Johan Olof Leffier (geboren 1813) gestorben.

Damit war der Suchzeitraum eingegrenzt. Waren Kowalewskaja und Mittag-Leffier irgendwann in den Monaten danach in Södertälje gewesen? Und tatsächlich, sie haben sich dort aufgehalten. Wie kam es dazu?

Nachdem Kowalewskaja im Frühjahr 1884 ihre er- ste Vorlesung ( ü her partielle Differentialgleichungen) mit Erfolg absolviert hatte, reiste sie im April 1884 nach St. Petersburg und von dort nach Moskau. Ende Mai (am 29. oder 30. Mai) traf sie schließlich in Ber- lin ein, wo sie etwa zwei Monate blieb. Sie dürfte in dieser Zeit ihre Arbeit über die Brechung des Lichtes abgeschlossen haben. Am 15. Juli teilte sie Mittag- Leffier aus Berlin mit, daß Weierstraß jetzt ihr Ma- nuskript erhalten hat. Weierstraß habe versprochen, den Text noch vor seiner Abreise in den Sommerur- laub durchzusehen und zu korrigieren. Zuvor hatte sie hier in Berlin die erfreuliche Nachricht erreicht, daß am 28. Juni ihre Berufung zum Professor an die Stockholmer Hochschule erfolgt war (zunächst auf 5 Jahre befristet). Ebenfalls noch in Berlin er- reicht sie am 18. Juli die Trauerbotschaft vom Tode Johan Olof Leffiers. Ursprünglich wollte Kowalewska- ja im Anschluß an ihren Aufenthalt in Berlin zusam- men mit Mittag-Leffier nach Norwegen reisen. Aber aus einem Brief, den sie am 12. August an Mittag-

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Leffier schreibt, geht hervor, daß sie sich inzwischen in Södertälje aufhält. Damit ist unser Stichwort gefal- len! Weiter schreibt sie, sie wolle nicht mit nach Nor- wegen reisen und habe die Absicht, zwei Monate bis zum 1. Oktober in Södertälje zu bleiben. Es sei für sie wichtig, sich auf ihre Vorlesung vorzubereiten. In Ber- lin habe sie die ganze Zeit mit Arbeit und allen mögli- chen mathematischen Träumereien verbracht, so daß es jetzt notwendig sei, eine gewisse Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Im Grunde sei sie sehr zufrie- den, einige Wochen in mehr oder weniger vollkom- mener Abgeschiedenheit zu leben. Sie sei überzeugt, daß 6 Wochen ruhigen Lebens in Södertälje für sie wesentlich wichtiger seien, als eine anstrengende Rei- se, zumal sie das Reisen ohnehin schlecht vertrage ([8]; vgl. [7], S. 70). Auch Anne Charlotte erwähnt in ihrer Biografie den Stockholmer Vorort:

Mittag-Leffier und ein junger deutscher Mathemati- ker, dessen Bekanntschaft Sonja während des Som- mers in Berlin gemacht hatte, hielten sich auch hier [in Södertälje] auf und der letztere unterstützte Son- ja bei der deutschen Redaktion ihrer Arbeit [zur Lichtbrechung [9]]. [ ... ] Sie war auch damals damit beschäftigt, ihre Vorlesungen für den nächsten Kurs auszuarbeiten und trug sie nach und nach dem jun- gen deutschen Mathematiker vor, indem sie scherzhaft äußerte, daß er ihr als "Versuchskaninchen" dienen müsse - eine Obliegenheit, die sonst immer Mittag- Leffier zu teil wurde. ([11], S. 66, 67.)

Wer war der deutsche Mathematiker? Anne Charlot- te nennt seinen Namen nicht. Ist es der unbekannte Mann auf unserem Foto? Die Phantasie der Biogra- phen treibt Blüten. D. H. Kennedy schreibt:

At some time, probably during her 1883 period in Berlin, Sophia had met a German mathematician, of uncertain name, to whom over coming years she would address no less than twenty letters. It is certain that she had romantic expectations, because obviously he came under her charme as Mittag-Leffier had clone.

[ ... ] Anna Charlotte in her memories of Sophia's Swedish years discreetly avoided naming many indi- viduals and called the mathematician Mr. H- a small clue. ([6], S. 230, 232.)

W. Tuschmann und P. Hawig ziehen daraus in ihrer kürzlich erschienenen Kowalewskaja-Biographie eine Schlußfolgerung ganz eigener Art: "Offenkundig hat- te sie in der deutschen Hauptstadt ein romantisches Verhältnis zu einem dortigen Mathematiker, den sie Herrn X oder Herrn H- a [sie!] nannte [ ... ]." ([19], S. 102.) Vorsicht also beim Abschreiben!

In Wirklichkeit sind der junge deutsche Mathema- tiker und Herr H. zwei verschiedene Personen. Der Fehler der Identifizierung findet sich schon in der älte- ren biographischen Literatur (z.B. [17], S. 181-182)

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- übrigens nicht bei Anne Charlotte Leffier - und hat sich durch Abschreiben am Leben erhalten. Mir ist überhaupt keine Stelle bekannt, wo Kowalewskaja die Formulierung "Herr X" verwendet hätte. Tusch- mann und Hawig geben keine Quelle an. Vielleicht haben sie von Kennedy abgeschrieben, der behaup- tet: "Marie Bunsen, a high-bornGerman who wrote about Sophia in 1897 and published portions of her letters to the mathematician, called him Mr. X." ([6], S. 232.) Aber Bunsen ist nicht Kowalewskaja. Schlim- mer noch: im ganzen Artikel von Bunsen [3] sucht man vergeblich nach einem Mr. X! In völlig zutref- fender Weise spricht Bunsen von Kowalewskajas "lie- bem Freund, Herrn H" ([3], S. 223.). Von einem Ma- thematiker ist dabei gar keine Rede. Dies ist erst die

"Leistung" späterer Biographen. Ein Vergleich mit den Briefen, die Gustav Hansemann an Kowalewska- ja geschrieben hat (diese befinden sich im Archiv des Institutes Mittag-Leffier), zeigt eindeutig, daß er mit

"Herrn H." identisch ist. Hansemann (1829-1902), Sohn des deutschen liberaldemokratischen Politikers und Unternehmers David Hansemann, war als Indu- strieller und Physiker im Rheinland und in Berlin tätig. Er sorgte bei Kowalewskajas Aufenthalten in Berlin für ihre Zerstreuung. Wie Anne Charlotte be- richtet, lernte Sofja bei ihm Tanzen und Schlittschuh- laufen. Man unternahm auch gemeinsame Ausflüge.

Der seltsame "Mr. X" könnte dadurch entstanden sein, daß in russischen Publikationen der betreffen- den Kowalewskaja-Briefe der deutsche Buchstabe H zuweilen mit dem russischen Buchstaben X wiederge- geben wird (z.B. [18], S. 282), aus dem dann unglück- licherweise das englische bzw. deutsche X geworden ist.

Nun aber endlich zu jenem "jungen deutschen Ma- thematiker". Tatsächlich gibt es einen, der sich im Spätsommer 1884 in Södertälje aufhielt: Carl Run- ge (1856-1927). Ist er der Mann auf unserem Foto?

Die in der Literatur publizierten Runge-Porträts sind alle wesentlich später aufgenommen worden, bis auf das Porträt in dem Fotoalbum, das Weierstraß zu sei- nem 70. Geburtstag am 31. Oktober 1885 übergeben wurde ([2], Foto 13.6 [hier mit freundlicher Genehmi- gung der Staatlichen Museen zu Berlin, Kunstbiblio- thek, wiedergegeben]). Es sieht so aus, als hätten wir unseren Mann gefunden! Jedenfalls paßt er genau in unser Puzzle. Tatsächlich erhält Runge im Februar 1885 zwei Fotos von Mittag-Leffier ([13]). Leider ließ sich nicht ermitteln, ob unser Foto dabei war.

Kowalewskaja und Runge hatten sich im Sommer 1883 (nicht erst 1884, wie Anne Charlotte angibt) in Berlin persönlich kennengelernt. Runges Toch- ter Iris berichtet, daß die russische Mathematike- rin in ihrem Vater "freundschaftliche Empfindungen"

geweckt hatte. Wahrscheinlich wird Kowalewskaja

Mittag-Leffier von Runges Untersuchungen über ana- lytische Funktionen berichtet haben. Mittag-Leffier habe Runge persönlich kennenlernen wollen und ihn nach Stockholm eingeladen. ([16], S. 43.) Am 3. Sep- tember 1884 schreibt Runge aus dem englischen East- burne an Kowalewskaja, daß er voraussichtlich am 10. September mit einem Dampfer aus London in Stockholm eintreffen werde. Einem vom 15. Okto- ber datierten BriefRungesan Mittag-Leffier läßt sich entnehmen, daß er seit dem 9. Oktober wieder in Ber- lin ist. Das heißt für unser Foto, daß es irgendwann in den dazwischen liegenden vier Wochen entstanden sein muß. Runge war damals 28 Jahre alt. Damals kann von einer Beeinträchtigung des freundschaftli- chen Verhältnisses zwischen Kowalewskaja und Run- ge noch keine Rede sein (im Unterschied zu [4], S.107). Von Anne Charlotte haben wir bereits etwas über jene Tage in Södertälje erfahren. Weitere Ein- zelheiten enthält ein Brief, den Kowalewskaja an den russischen PhysikerS. I. Lamanski (1841-1901) am 10. Oktober 1884 schreibt ([18], S. 285). Der Vorle- sungen wegen sei man dreimal in der Woche mor- gens um 6 Uhr aufgestanden und in die Stadt [Stock- holm] gefahren, was sehr ermüdend war. Die Vor- bereitung auf die Vorlesungen habe viel Zeit bean- sprucht. Außerdem habe sie eine "große Arbeit" [die schon erwähnte Abhandlung zur Lichtbrechung] fer- tiggestellt, deren letzte Blätter gerade an die Drucke- rei abgeschickt worden seien. Niemand ahnt, daß die Arbeit einen gravierenden Fehler enthält. Die von Kowalewskaja angegebene Lösung der von G. Lame (1795-1870) aufgestellten Gleichungen zur Bestim- mung der Schwingungsbewegung des Lichtäthers in einem kristallinen Medium genügt in Wirklichkeit nicht diesen Differentialgleichungen. Weierstraß hatte Kowalewskaja bereits vor längerer Zeit zum Studium dieser Gleichungen angeregt. Der leitende Gedanke war, eine Methode zur Integration partieller linearer Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, die er mehr als zwanzig Jahre zuvor entwickelt hat- te, auf das Lichtbrechungsproblem anzuwenden. Bei den Absprachen über die Aufnahme einer Lehrtätig- keit in Stockholm hatte Weierstraß Mittag-Leffier ge- genüber die Ansicht ausgesprochen, daß Kowalewska- ja sich zuvor durch eine "Arbeit von Bedeutung" legi- timieren müsse, wofür ihm ihre Untersuchungen zur Lichtbrechung, die "nur noch gehörig ausgearbeitet"

werden müssen, geeignet erschienen. Wenn sie "ihrer Arbeit die nöthige Ausfeilung angedeihen lässt, so kann dieselbe als Habilitationsschrift mit Ehren sich sehen lassen" (Brief vom 5. August 1885, in [1], An- hang 2). Weierstraß bemerkt den Fehler nicht. Run- ge, der im Oktober und November 1884 die Korrek- turbögen liest ([14]), macht einige Verbesserungsvor- schläge, die zum Teil in die gedruckte Version ein- gehen, fügt aber auch hinzu, daß ihm die Zeit fehle,

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einzelne Formeln nachzurechnen. Der Fehler entgeht allerdings auch ihm. Beide haben offenbar die Ab- handlung nicht gründlich studiert (vgl. [4], S. 136).

Erst Jahre später bemerkt V. Valterra (1860-1940) den Fehler und teilt dies in einem vom 3. Juni 1891 datierten Brief, also kurz nach Kowalewskajas Tod, Mittag-Leffier mit (ein Auszug aus diesem Brief fin- det sich in englischer Übersetzung in: [4], S. 173- 174). 1892 publiziert Valterra die korrekte allgemeine Lösung in den Acta Mathematica ([20]).

Carl Runge (aus dem Weierstraß zum 70. Geburtstag über- reichten Fotoalbum [2])

Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Kowalews- kaja und Runge war nicht von langer Dauer. Der letzte an Kowalewskaja gerichtete Brief Runges, den ich im Institut Mittag-Leffier habe finden können, ist datiert vom 11. Januar 1885. Einige Monate später weist Runge in einem Brief vom 30. Juni 1885 ([15]) Mittag-Leffier auf Arbeiten von A. L. Cauchy (1789- 1857) über die Lösbarkeit partieller Differentialglei- chungen bei analytischen Anfangsbedingungen durch analytische Funktionen hin (nicht schon 1884 vor sei- nem Besuch in Södertälje, wie in [4], S. 107, an- gegeben). Bekanntlich besteht der Hauptinhalt von Kowalewskajas Dissertation (aus dem Jahr 1874) im Nachweis der Existenz solcher Lösungen für den von Kowalewskaja eingeführten Typ der "normalen"

Gleichung. Runge fügt hinzu: "Die Methode ist im

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Wesentlichen dieselbe, wie bei Frau Kowalevski. Wei- erstrass wusste hiervon nichts." Mir ist leider keine Äußerung von Weierstraß zu der von Runge mitge- teilten Entdeckung bekannt. Mittag-Leffier war eben- falls überrascht. In seinem Brief vom 9. Juli 1885 an Kowalewskaja geht er darauf ein und bemerkt: "Wei- erstraß war sehr erstaunt." ([12]; russische Überset- zung des Briefes in [7], S. 105). Es ist mir nicht klar, wie Mittag-Leffier zu dieser Formulierung kommt.

In Runges Brief ist sie jedenfalls nicht zu finden.

Ist es lediglich eine Vermutung? Mittag-Leffier be- findet sich seit Mai 1885 in der Schweiz und Weier- straß ist in Berlin. Wir können auch ausschließen, daß Mittag-Leffier kurzfristig nach Berlin gereist ist, da er einen solchen Besuch sicherlich in seinen Briefen an Kowalewskaja erwähnt hätte. Ein diesbezüglicher Hinweis fehlt aber in diesen Briefen, die, jedenfalls für den hier interessierenden Zeitraum, vollständig vorhanden sind (siehe [7]). Kowalewskaja, die sich in Rußland befindet, antwortet am 15. Juli 1885.

Merkwürdigerweise ergibt sich aus ihren Äußerungen bezüglich Weierstraß ein anderes Bild. Es sei über- haupt keine Neuigkeit für sie, daß Cauchy vor ihr über die Lösbarkeit partieller Differentialgleichungen gearbeitet hat. In der Tat sei es ein "großer Fehler"

gewesen, daß weder sie noch Weierstraß davon etwas wußten, als sie an ihrer Dissertation schrieb. Cauchys diesbezügliche Arbeiten waren 1842 in den Comp- tes rendus erschienen (weitere Einzelheiten findet man in [4], S. 23ff). Es ist seltsam, daß Weierstraß, der seine Schülerin immer wieder auch auf Arbei- ten Cauchys hingewiesen hat (vgl. seine in [1] edier- ten Briefe), diese Ergebnisse Cauchys nicht kann- te. Überhaupt scheinen Weierstraß' Kenntnisse des Standes der reellen Analysis im frühen 19. Jahrhun- dert nicht vollständig gewesen zu sein (siehe dazu [10]). Allerdings hätte Weierstraß "seinerzeit" (dans le temps) Ch. Hermite (1822-1901) gegenüber er- klärt, daß weder Cauchy noch G. Darboux (1842- 1917) die wesentlichen Bedingungen für die Existenz einer Lösung bemerkt hätten und sogar nicht geahnt hätten, daß überhaupt Beispiele der Nichtlösbarkeit durch analytische Funktionen, wie das von ihr ange- gebene, existierten. Darin habe aber Weierstraß stets die eigentliche Bedeutung ihrer Arbeit gesehen. ([7], S.108.) Als im Frühjahr 1885 Hj. Holmgren (1822- 1885) vom Stockholmer Polytechnikum schwer er- krankt, beginnt man, nach einem geeigneten Nach- folger zu suchen. Insbesondere wird Runge in die engere Wahl gezogen (weitere Kandidaten sind H.

Hertz (1857-1894) und Hj. Mellin (1854-1933)). Von Mittag-Leffier zu einer Stellungnahme aufgefordert, antwortet Kowalewskaja in einem vom 11. Septem- ber 1885 datierten Brief, daß ihre Beziehung zu Run- ge ein wenig abgekühlt sei. Einige Umstände hätten ihr bewiesen, daß sein Hang zur Eitelkeit so maßlos

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entwickelt sei, wie bei den meisten Deutschen. Sie müsse auch zugeben, daß es ihr persönlich nicht an- genehm wäre, ihn in Stockholm zu sehen, weil sie früher sehr freundschaftlich mit ihm verkehrt habe, später aber ihre Ansicht über ihn geändert habe. In derartigen Fällen würden die persönlichen Beziehun- gen stets sehr schwierig und gespannt. ([8]; russische Übersetzung des Briefes ist in [7], S. 124-125, enthal- ten; ein Briefauszug findet sich in englischer Über- setzung in [5], S. 34.) Tatsächlich wird der schwe- dische Astronom und Physiker A. Lindstedt (1854- 1939) zum Nachfolger von Holmgren an das Polytech- nikum berufen. Mittag-Leffier hätte allerdings nach wie vor am liebsten Runge auf dieser Stelle gesehen.

Schauen wir noch einmal auf unser Foto. Anne Char- lotte schreibt:

Als ich sie nach der Rückkehr von meiner Reise hier besuchte, war ich erstaunt, sie verjüngt und verschönt zu finden. Ich dachte zuerst, daß es die Ablegung der Trauer war, die das bewirkte, denn schwarz stand ihr sehr schlecht, und sie selbst haßte es, schwarz geklei- det zu sein. Das lichtblaue Sommerkleid, das sie jetzt trug, ließ ihren Teint reiner erscheinen, und zugleich trug sie ihr reiches, kastanienbraunes Haar in Locken.

([11], S. 66.)

Können wir vielleicht etwas von Anne Charlottes Be- schreibung auf unserem Foto wiedererkennen?

Quellen-und Literaturverzeichnis

[1] R. Bölling: Briefwechsel zwischen Karl Weierstraß und

Sofja Kowalewskaja. Berlin: Akademie Verlag 1993.

[2] R. Bölling: Das Fotoalbum für Weierstraß. Braun- schweig, Wiesbaden: Vieweg 1994.

[3] M. v. Bunsen: Sonja Kowalevsky. Illustrierte Deutsche Monatshefte 82 (1897), S. 218-232.

[4] R. Cooke: The Mathematics of Sonya Kovalevskaya.

New York: Springer 1984.

[5] R. Cooke: Sonya Kovalevskaya's place in nineteenth- century mathematics. Contemporary Mathematics 64 (1987), S.17-51.

[6] D. H. Kennedy: Little Sparrow: A Portrait of Sophia Kovalevsky. Athensand London: Ohio University Press 1983.

[7] P. Ja. KoCina and E. P. Ozigova: Die Korrespondenz zwischen G. Mittag-Leffler und S. Kowalewskaja [rus- sisch]. Moskau: Nauka 1984.

[8] S. Kowalewskaja: Briefe an G. Mittag-Leffier. Institut Mittag-Leffier, Djursholm (Schweden). [Russische Über- setzung in [7].]

[9] S. Kowalevski: Über die Brechung des Lichtes in cristal- linischen Mitteln. Acta mathematica 6 (1885), S.249- 304.

[10]

[11]

[12]

[13]

[14]

[15]

[16]

[17]

[18]

[19]

[20]

D. Laugwitz: "Das letzte Ziel ist immer die Darstellung einer Funktion": Grundlagen der Analysis bei Weier- straß 1886, historische Wurzeln und Parallelen. Historia mathematica 19 (1992), S.341-355.

A. Ch. Leffier: Sonja Kovalevsky. Aus dem Schwedi- schen übersetzt von H. Lenk. Leipzig: Reclam 1894.

G. Mittag-Leffier: Briefe an S. Kowalewskaja. Institut Mittag-Leffier, Djursholm (Schweden). [Russische Über- setzung in [7].]

G. Mittag-Leffier: Brief an C. Runge vom 23. Februar 1885. Deutsches Museum (Archiv HS 1948-86).

C. Runge: Briefe an S. Kowalewskaja. Institut Mittag- Leffier, Djursholm (Schweden).

C. Runge: Briefe an G. Mittag-Leffier. Institut Mittag- Leffier, Djursholm (Schweden).

I. Runge: Gart Runge und sein wissenschaftliches Werk.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1949.

S. Ja. Straich, S. Kowalewskaja [russisch]. Moskau 1935.

S. Ja. Straich, S. V. Kowalewskaja, Erinnerungen und Briefe [russisch]. Moskau: AN SSSR 1961.

W. Tuschmann and P. Hawig: Sofia Kowalewskaja: Ein Leben für Mathematik und Emanzipation. Basel, Bo- ston, Berlin: Birkhäuser 1993.

V. Volterra: Sur !es vibrations lumineuses dans !es milieux birefringentes. Acta mathematica 16 (1892), S.153-215.

Adresse des Autors Prof. Dr. Reinhard Bölling Universität Potsdam Institut für Mathematik Postfach 60 15 53 14415 Potsdam

boelling@rz. uni-potsdam.de

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