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Archiv "In der Psychiatrie ist noch nicht alles im Lot" (03.12.1987)

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TUELLE POLITIK

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

I

n der psychiatrischen Versor- gung der Bevölkerung der Bun- desrepublik werden „aus beru- fenem Munde" Erfolge vermel- det. Erst kürzlich hat die Arbeitsge- meinschaft der Träger Psychiatri- scher Krankenanstalten, Münster, als Erfolg bezeichnet, daß die Zahl der Betten in den Großkrankenhäu- sern seit Beginn der siebziger Jahre um rund ein Drittel reduziert wurde.

In einigen „Großeinrichtungen" der psychiatrischen Versorgung sei die Bettenzahl sogar halbiert worden.

Der Vorsitzende der Arbeitsgemein- schaft, Landesrat Dr. med. Wolf- gang Pittrich, berichtete: Die Dau- erhospitalisierung psychiatrisch Er- krankter bildet heute die Ausnah- me. Bis zu 75 Prozent der Patienten werden innerhalb von drei Monaten und bis zu 90 Prozent innerhalb ei- nes Jahres entlassen. Die Stationen wurden verkleinert und „nach au- ßen" geöffnet.

Zum Teil ist auch den Forderun- gen der Deutschen Krankenhausge- sellschaft (DKG) bereits Rechnung getragen, und psychiatrische Abtei- lungen sind in Allgemeinkranken- häuser integriert worden. Auch wird berichtet, daß eine stärkere Einbin- dung der psychiatrischen Kranken- häuser in gemeindenahe Versor- gungssysteme dazu geführt habe, daß die psychiatrischen Fachkran- kenhäuser immer häufer freiwillig in Anspruch genommen würden.

Zwangseinweisungen kämen nur noch selten vor, bildeten aber noch nicht die Ausnahme, so die Vertre- ter der psychiatrischen Krankenhäu- ser. Auch bei der Fortführung und finanziellen Sicherung des von der Bundesregierung vor Jahren gestar- teten „Modellversuchs Psychiatrie"

und der Durchführung des Pro- gamms in acht Regionen wird eine

Vlenge Optimismus verbreitet. Zu- nindest ist es trotz großer Wider- tände gelungen, die Anschlußfinan- ierung des Bundes für das „Modell- Togramm Psychiatrie" (das 1985 lanmäßig auslief) zu gewährleisten.

)as Sozialforschungsinstitut Pro- nos AG, Dependance Köln, ist seit ingerem im Auftrag der Bundesre- ierung tätig, um das Regierungs- aodellprogramm wissenschaftlich cii begleiten und die Ergebnisse auf-

zuarbeiten (ein Schlußbericht steht allerdings noch aus).

Auch in der ambulanten psych- iatrischen Versorgung hat sich das Blatt zum Besseren gewendet: Die Zahl der zur kassenärztlichen Ver- sorgung zugelassenen Nervenärzte und Psychiater nahm in den letzten Jahren zwischen fünf und sechs Pro- zent jährlich netto zu. Allein auf Grund dieser optimistisch klingen- den Meldungen könnte man mutma- ßen, in der psychiatrischen Versor- gung gehe es aufwärts, bald sei alles

In der

Psychiatrie ist noch

nicht alles im Lot

„im Lot". — Ganz anders hören sich Lageberichte aus der Psychiatrie selbst an: Immer noch leiden psych- iatrische Krankenhäuser unter Per- sonalmangel. Und der Streß für das Pflegepersonal ist trotz der Empfeh- lungen der Psychiatrie-Enqu&e und der vielfältigen Inititiativen seit En- de der siebziger Jahre nicht geringer geworden.

I

nsbesondere bei der stationären Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter war man in den siebziger Jahren von der euphorischen Forderung ausge- gangen, alles könne sich bessern, wenn die „Groß- und Mammutan- stalten" verkleinert würden. In wei- ten Kreisen ging man von der Er- wartung aus, daß der größte Teil psychisch Kranker heilbar oder zu- mindest besserungsfähig sei, daß er außerhalb psychiatrischer Kranken- häuser frei leben und auch teilweise voll rehabilitiert werden und wieder berufstätig sein könne. Verdrängt

wurden dabei die harten Realitäten, über die der Präsident der Deut- schen Zentrale für Volksgesund- heitspflege e. V. (DZV), Professor Dr. med. Dr. h. c. Hans-Werner Müller, vor der Presse berichtete:

A

uch heute bedürfen die Tausende von Alters-, Langzeit- und Defektkran- ken einer professionellen Behandlung und pflegerischen Ver- sorgung — losgelöst von modernen, ideologisch verbrämten Bildern der Psychiatrie. Nach den Beobachtun- gen der Zentrale für Volksgesund- heitspflege sind die Erfolge, die mit den Empfehlungen der Psychiatrie- EnquAte und den inzwischen einge- leiteten (politischen) Maßnahmen verknüpft wurden, nicht so groß, wie die Erwartungen gesteckt wa- ren. Müller: Auch die moderne Psychiatrie kennt Langzeit- und chronisch Kranke. Dabei handelt es sich nicht, wie vielfach unterstellt wird, überwiegend um Neurosen, sondern um dauerbehandlungsbe- dürftige Psychosen. Auch ist man heute noch weit von dem politisch verkündeten Ziel entfernt, psychisch und somatisch Kranke einander an- zunähern und in die Gesellschaft zu

„integrieren".

Müller: „Man wird es kaum als einen Fortschritt bezeichnen kön- nen, wenn man Langzeitkranke, ins- besondere ältere Menschen, mit psy- chischen Defekten und ohne engere familiäre Bindungen in weit abgele- gene Einrichtungen auch anderer Bundesländer verlegt. Man wird die- se Aktionen kaum als besonders hu- man bezeichnen können. Auch pas- sen sie nicht in den Rahmen der mit Recht geforderten ,gemeindenahen Psychiatrie', wonach der psychisch Kranke möglichst in der Nähe seiner Familie behandelt werden soll."

Vielfach werde auch übersehen, daß gerade bei der Behandlung und Dauerbetreuung psychisch Kranker eine enge interdisziplinäre Koopera- tion niedergelassener Psychiater und Nervenärzte mit dem Pflege- und Betreuungspersonal erfolgen muß und daß das Feld der ambulanten psychiatrischen Versorgung nicht al- lein Heil-Hilfsberufen, Pädagogen und Sozialhelfern überlassen werden Dt. Ärztebl. 84, Heft 49, 3. Dezember 1987 (13) A-3353

(2)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Mit „Tatütata" in die Strukturreform

Mit „Tatütata" begrüßte der Bundesminister für Arbeit und So- zialordnung über eine große PR-An- zeige (veröffentlicht in überregiona- len Tageszeitungen und in Boule- vardzeitungen) die Bundesbürger am Samstag, dem 14. November 1987 (siehe verkleinerte Ausschnitt- wiedergabe unten). Da mußten wie- der einmal Steuergelder locker ge- macht werden, um mit Hilfe einer professionellen Werbeanzeige noch vor Veröffentlichung des Blümschen Sparpaketes für publizistischen Flankenschutz zu sorgen. Wie ge- habt wird mit „Tatütata" und in vorwurfsvollem Ton den Kranken- häusern angekreidet: „Von der Auf- nahme bis ,geheilt entlassen' verge- hen 4184 Mark durchschnittlich."...

Dem Patienten und steuer- wie beitragszahlenden Bundesbürger wird aber gleichzeitig

suggeriert, ehe er er- neut zur Kasse gebe- ten werden soll: Für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ist das Teuerste gerade gut genug! Jeder Bürger müsse am medizini- schen und medizi- nisch-technischen Fortschritt — ohne Rücksicht auf sein Einkommen — sofort und ohne Einschrän- kung teilhaben. Mit

„Tatütata" soll aus dem Füllhorn ausge- teilt werden. Von der teuren Herzoperation und der Luftrettung bis zum lebenswichti- gen Medikament. Für sage und schreibe 4184 Mark, durch- schnittlich!

Dazu nur ein ak- tueller Vergleich aus den Selbstkostenblät- tern der Krankenhäu- ser: Bereits die Be- handlung einer akuten

Appendicitis in einem Durch- schnittskrankenhaus (nicht im preis- werteren Belegkrankenhaus) kostet bei einer Verweildauer von 15 Ta- gen und einem Tagespflegesatz von 278,60 Mark 4179 Mark; bei einem Pflegesatz von 304,65 Mark sogar 4569,75 Mark.

Und da will uns die Werbe- Agentur des Arbeitsministeriums weismachen, daß mit „Tatütata"

auch Herzoperationen unter dem Appendicitis-Durchschnittspreis zu haben wären .. .

Was soll also das Lamentieren über die steigenden Beitragslasten der Sozialversicherten und ihrer Ar- beitgeber, über die „Kostenexplo- sion"? Die Heilungskosten im Kran- kenhaus werden mit „Tatütata"

weiter hochschießen — mit oder ohne Strukturreform, mit oder ohne PR- Anzeigen-Flankenschutz. HC Verkleinerter Ausschnitt aus der PR-An- zeige des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (ohne Bestell-Coupon)

1. Jeden Bürger am medizini- schen Fortschritt teilhaben lassen - ohne Rücksicht auf sein Ein-

kommen.

2. Neue Aufgaben angehen- etwa in der Vorsorge, bei der häuslichen Pflege oder der Bekämpfung der großen Volks- krankheiten.

3. Den hohen Stand der Medizin- technik und Forschung sichem.

4. Die Leistungen auf das medi- zinisch Notwendige konzentrie- ren und gesundheitsbewußtes Verhalten belohnen.

Dabei müssen alle Beteiligten helfen.

Damit unsere Kranken-

versicherung gesund bleibt! tlt

Wohl nirgends auf der Welt wird kranken Menschen besser gehol- fen als bei uns. Hervorragende Leistungen der Gesundheits- berufe und moderne technische Einrichtungen werden für jeden Patienten eingesetzt. Das gilt für die teure Herzoperation oder die Luftrettung ebenso wie für das lebenswichtige Medikament.

Dafür müssen alle Beitragszahler kräftig zahlen, heute bereits 340 Millionen Mark pro Tag. Das ist zehnmal soviel wie noch 1963, obwohl der Arbeitnehmer seit- dem nur fünfmal soviel verdient.

Das bedeutet: Immer weniger bleibt vom Lohn übrig, immer mehr werden die Betriebe be- ' lastet.

Deshalb: Wenn unsere Kranken- versicherung leistungsfähig und finanzierbar bleiben soll, müssen wir sie reformieren:

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung

Von der Aufnahme bis zu "geheilt entlassen"

vergehen 4.184 Mark. Durchschnittlich.

kann, so Müller Hinzu kommt - Die Trennung von Behandlungs- und Pflegefällen schafft erhebliche Pro- bleme insbesondere für Patienten, die zum Pflegefall „deklariert" wer- den. Sie müssen dann ihr Vermögen oder ihr Einkommen (Rente) einset- zen, oder sie werden zum „Sozialhil- fefall". Die ambulanten sozialpsy- chiatrischen Dienste neigen oft dazu, sich in Konkurrenz zu den niederge- lassen Ärzten um Neurotiker sowie jüngere Leichtkranke zu kümmern.

Die chronisch Kranken werden dabei weitgehend vernachlässigt.

D

ie Finanzierung der Unter- bringung in semi-stationä- ren Einrichtungen ist nicht eindeutig geregelt. Auch stimmt das Konzept nicht immer Eine strikte Trennung Tages-/

Nachtklinik ist nicht immer möglich.

Hinzu kommt. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen für die Tagesklinik die Pflegekosten, für die Nachtklinik jedoch nicht. Trotz Er- füllung der gesetzlichen Bestimmun- gen ist es im Einzelfall oft nicht mög- lich, einen Kostenträger zu finden.

DZV-Präsident Müller kündigte ein acht Punkte umfassendes Pro- gramm der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege (Münchener Straße 48, 6000 Frankfurt/Main) an, das ein Ausschuß „Seelische Gesund- heit" in enger Kooperation mit dem Bundesgesundheitsministerium und anderen Spitzenorganisationen in Angriff nehmen will: Gleichstellung der psychisch und somatischen Kran- ken, Dimensionen der Integration medizinischer und sozialer pflegeri- scher Versorgung, Integration zwi- schen ambulanter und stationärer Versorgung unter Berücksichtigung der komplementären Dienste, Ver- knüpfung professioneller und Laien- versorgung, regionale Möglichkeiten der psychiatrischen Versorgung, Qualifikationsmerkmale der Ge- sundheitsberufe, sozialrechtliche und finanzielle Voraussetzungen einer Verbundfinanzierung, „Prävention—

Rehabilitation" in der Psychiatrie.

Zu Beginn der einzelnen Ar- beitsvorhaben will die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege Umfragen und Expertenhearings veranstalten. Dr. Harald Clade

A-3354 (14) Dt. Ärztebl. 84, Heft 49, 3. Dezember 1987

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