Gemälde eines unbekannten Meisters aus der Schule von Fontainebleau
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
THEMEN DER ZEIT
Berliner Weg
der frauenheilkundlichen Ausbildung
Gegenseitige gynäkologische Untersuchungen
Horst Lemtis
Seit vielen Jahren stellt im deutschsprachigen Raum die Ausbildung angehender Ärzte in gynäkologischen Untersuchungstechniken ei- nen Engpaß dar, weil es an allen Universitäts-Frauenkli- niken, bezogen auf die sehr große Anzahl Studierender, an Patientinnen mangelt.
Durch Einführung freiwilli- ger gegenseitiger Untersu- chungen kann die Situation für die Teilnehmer dieser Lehrveranstaltungen we- sentlich verbessert werden, wie langjährige Erfahrungen im Klinikum Steglitz der Frei- en Universität Berlin zeigen.
S
chon während der Durchfüh- rung des ersten Praktikums für Frauenheilkunde und Ge- burtshilfe nach der neuen Ausbil- dungsordnung vor elf Jahren schlugen mehrere Studentinnen in Berlin vor, sich im Rahmen des gynäkologischen Kurses unter An- leitung gegenseitig zu untersu- chen. Ein solches Ansinnen er- schien damals so ungewöhnlich, daß eine derartige Erweiterung des Lehrangebots abgelehnt wur- de. Da der Wunsch nach gegen- seitiger Untersuchung jedoch in jedem Semester erneut an den Kursleiter herangetragen wurde, organisierten wir im Winterseme- ster 1979/1980 einen Probelauf, dessen Ergebnis sehr über- raschte.Bis dahin hatte man angenom- men, daß die Studentinnen, die sich gegenseitig untersuchen wollten, besonders „fortschritt- liche" Außenseiter seien, und daß nur sie sich in die ausgelegten Einschreibelisten eintragen wür- den. Die Untersuchungstermine waren jedoch nach Ankündigung im Kolleg noch am gleichen Tage ausgebucht. Bereits eine Woche später war auch eine lange Warte- liste gefüllt.
Zuerst galt es, die versicherungs- rechtliche Seite abzuklären. Es mußte geprüft werden, ob die Stu- dentinnen, die sich von unerfahre- nen Kolleginnen untersuchen las- sen, vollen Versicherungsschutz genießen. Wie vermutet, war dies nicht der Fall. Nach einigen Ver- handlungen war der Haftpflicht- versicherer der Freien Universität jedoch bereit, das bei der gegen- seitigen Untersuchung entstehen- de (in diesem Fach relativ gerin- ge) Risiko durch eine verhältnis- mäßig unbedeutende Erhöhung der Gesamtprämie mit abzudek- ken. Für jede Studentin, die sich von einer Kollegin untersuchen
läßt, zahlt die Freie Universität Berlin eine Versicherungsprämie von etwa zehn Mark.
Da die gegenseitigen Untersu- chungen sehr zeitraubend sind, wurde die Vorsorgeuntersuchung der Mammae von der gynäkologi- schen Untersuchung abgetrennt.
Die meisten Studentinnen trugen sich übrigens für beide Untersu- chungstermine ein.
Auf einem Monitor kann die unter- suchte Studentin die Befundser- hebung verfolgen, was sie sehr ablenkt und somit ausgezeichnet entspannt.
Zunächst
ausführliche Anamnese
Vor Beginn der Untersuchung muß jede Praktikantin eine aus- führliche Anamnese bei ihrer Kol- legin erheben, die intensiv be- sprochen beziehungsweise korri- giert wird.*) Nach Abschluß der Untersuchungen wird die Studen- tin angehalten, (auch bei unauffäl- ligem Genitale) einen lückenlosen Befund schriftlich zu formulieren.
Selbst bei relativ unbedeutenden Abweichungen des Befundes von
Für den Kurs wurde ein beidseitig be- drucktes Anamneseblatt und für die Auf- zeichnung der Befunde ein ebenfalls zwei- seitiges Formular entwickelt, die der Autor auf Wunsch zur Verfügung stellt.
724 (44) Heft 11 vom 13. März 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
DEUTSCHES itß.ZTEBLATT
Gegenseitige Untersuchungen
der Norm findet eine ausführliche differentialdiagnostische Diskus- sion statt. Dadurch hat jede Unter- suchung den Charakter eines in- tensiven Kolloquiums, wie es mit dieser Gründlichkeit bei stationä- ren oder paliklinischen Patientin- nen infolge der Belastung nur sel- ten durchgeführt werden kann. ln den Versicherungsschutz wur- den auch kleinere zusätzliche dia- gnostische sowie kleinere thera- peutische Maßnahmen an den un- tersuchten Studentinnen mitein- bezogen. Besteht bei einer Pro- bandin beispielsweise eine Ekto- pie an der Portio, so wird diese im Rahmen der erweiterten Kolpo- skopie mit dreiprozentiger Essig-
säure betupft. Bei einer Umwand- lungszone wird die praktizierende Kollegin angeleitet, eine Schiller- sehe Jodprobe vorzunehmen. Be- steht eine Kolpitis, erhält die un- tersuchte Studentin nach Ab- schluß der Untersuchungen ein Scheidenbad mit einem Medika- ment. Zufällig vorhandene Rhaga- den am Scheideneingang werden natürlich mit einer Wundsalbe ab- gedeckt.
Der gegenseitigen Vorsorgeunter- suchung der Mammae geht ein ausführliches theoretisches Kollo- quium voraus, das mit einem Vi- deo-Film über die vollständige Untersuchung der Brüste abge- schlossen wird. Für den Film hat
Programm der gegenseitigen gynäkologischen Untersuchung
~ Inspektion der Vulva mit ausführlicher Rekapitulation wichtiger anatomischer Daten, da die Kenntnisse auf diesem Gebiet durchweg sehr zu wünschen übriglassen.
~ Spekulum-Einstellung von Scheide und Portio mittels des zwei- blättrigen Spekulums nach Kristeller und manchmal zusätzlich mit- tels eines Selbsthaite-Spekulums nach Cusco beziehungsweise Tre- lat oder mittels eines Röhrenspekulums.
~ Kolposkopie, die natürlich von einem erfahrenen Kollegen vorge- nommen wird, wobei die praktizierende Studentin durch eine ange- setzte Lehroptik die Portio mitbeurteilt oder aber beide Studentinnen den Vorgang auf einem Monitor miterleben können.
~ Abstrich auf Tumorzellen, Trichomonaden, Soor und Gonokokken sowie Hormonabstrich, wobei die Entnahme von Sekret aus der Ure- thra natürlich nur simuliert wird. Darstellung des Ausführungsganges der Skenesehen Drüsen und des Ausführungsganges der Bartholin- sehen Drüsen, wo bekanntlich zuweilen ebenfalls ein Abstrich erfor- derlieh ist.
~ Palpatorische Untersuchung der Regio inguinalis beiderseits.
~ Touchieren der Scheide und der Portio; dabei Prüfung, ob ein Schiebeschmerz der Portio besteht.
~ Bimanuelle Untersuchung des inneren Genitale; hierbei gründ- liehe Rekapitulation der anatomischen Verhältnisse im kleinen Bek- ken.
~ Rektale Untersuchung.
~ Rektovaginale Befunderhebung.
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sich übrigens eine Kursstudentin zur Verfügung gestellt. Im zweiten Teil dieser Lehrveranstaltung wer- den eigens hierfür angefertigte Mamma-Phantome untersucht, in die Tumoren definierter Größe eingebaut wurden. Erst im dritten Abschnitt findet dann unter Anlei- tung die gegenseitige Untersu- chung der Mammae statt.
Natürlich fühlten sich die Studen- ten ihren Kommilitoninnen ge- genüber benachteiligt und äußer- ten bald ihren Unmut. Deshalb wird auch ihnen seit zehn Seme- stern Gelegenheit gegeben, sich an diesen Untersuchungen zu be- teiligen. Allerdings müssen sie selbst eine Absprache mit einer Kursstudentin treffen oder aber ihre Ehefrau beziehungsweise ei- ne andere Probandin dazu. bewe- gen, sich unter Anleitung untersu- chen zu lassen. Auch in diesen Fällen besteht voller Versiche- rungsschutz für alle Frauen, die untersucht werden.
Termine für Untersuchungen außerordentlich begehrt
Bis heute sind Termine für gegen- seitige Untersuchungen außeror- dentlich begehrt. Während jedes der elf Semester, über die hier be- richtet wird, waren alle zur Verfü- gung stehenden Plätze unmittel- bar nach dem Ende der ersten Kollegstunde vergeben, in der je- weils die Bedingungen erläutert wurden. Seit der zweiten Lehrver- anstaltung werden sogar fünfwö- chige Kurse während der Seme- sterferien durchgeführt, damit auch die Studierenden, die sich in die Wartelisten eingetragen ha- ben, an diesem Kursus teilneh- men können.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med.
Horst Lemtis
Frauenklinik im Klinikum Steglitz der Freien Universität Berlin Hindenburgdamm 30 1000 Berlin 45