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Lese- und Medienkompetenzen: Modelle, Sozialisation und Förderung

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Academic year: 2022

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LfM-Dokumentation Band 40

40 Lese- und Medienkompetenzen: Modelle, Sozialisation und Förderung

Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) Zollhof 2

40221 Düsseldorf Postfach 10 34 43 40025 Düsseldorf Telefon

0211 / 7 70 07- 0 Telefax

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http://www.lfm-nrw.de

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Dieter Isler, Maik Philipp, Friederike Tilemann

Lese- und Medienkompetenzen:

Modelle, Sozialisation und Förderung

ISBN 978-3-940929-14-3

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Modelle, Sozialisation

und Förderung

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Modelle, Sozialisation und Förderung

Dieter Isler Maik Philipp Friederike Tilemann

Beratung: Hansjakob Schneider

Zentrum Lesen, Pädagogische Hochschule FHNW

Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) Zollhof 2

40221 Düsseldorf Postfach 10 34 43 40025 Düsseldorf http://www.lfm-nrw.de

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Herausgeber:

Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) Zollhof 2, 40221 Düsseldorf

www.lfm-nrw.de

ISBN 978-3-940929-14-3

Bereich Medienkompetenz und Bürgermedien Verantwortlich: Mechthild Appelhoff Redaktion: Dr. Meike Isenberg

Bereich Kommunikation Verantwortlich: Dr. Peter Widlok

Titelfotografie:

© fotolia.com (rimmdream/Jacek Chabraszewski /Uschi Hering/Lucky Dragon)

Gestaltung: disegno visuelle kommunikation, Wuppertal Druck: Börje Halm, Wuppertal

Dezember 2010

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1 Zusammenfassung 11

2 Auftrag und Vorgehensweise 13

3 Konzeptionelle Grundlagen 16

3.1 Kompetenzen zwischen individueller Disposition und situationsbezogenem Handeln 16 3.2 Handeln als situative Herstellung von Intersubjektivität 17

3.3 Text 18

3.4 Literalität – ein disziplinen- und perspektivenintegrierendes Konzept 19

3.5 Eine Ordnungsstruktur als Analyseinstrument 20

4 Modelle von Lese- und Medienkompetenzen 23

4.1 Lesekompetenz 23

4.2 Medienkompetenz 34

4.3 Übergreifende Kompetenzmodelle („new literacies“) 41

4.4 Diskussion 47

5 Sozialisationsprozesse und ihre Bedingungen 52

5.1 Lesesozialisation 54

5.2 Mediensozialisation 62

5.3 Diskussion 69

6 Förderung von Lese- und Medienkompetenzen 71

6.1 Förderung von Lesekompetenzen 73

6.2 Förderung von Medienkompetenzen 98

6.3 Diskussion 111

7 Fazit 115

8 Empfehlungen 123

Literatur 127

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Die Entwicklung von Medienkompetenz ist eng verbunden mit der Entwicklung von Lesekom - petenz. Denn nur wer Texte verstehen kann, kann die darin enthaltene Information auch bewerten und nutzen und mit den verschiedenen Medien sinnvoll umgehen. Dabei geht Lese- kompetenz deutlich über die reine Lesetechnik hinaus. Lesekompetenz umfasst die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, sie kritisch einzuschätzen und für eigene Zwecke und Ziele im Sinne der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Wert - haltungen zu nutzen.

Die hier vorliegende Expertise „Lese- und Medienkompetenzen: Modelle, Sozialisation und Förderung“ ist im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) vom Zen- trum Lesen der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz unter Mitarbeit der Pädagogi- schen Hochschule Zürich verfasst worden. Im Rahmen der Studie geht es vorrangig darum, den Charakter des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen kompetentem Lesen als Schlüssel - qualifikation einerseits und dem souveränen, kritischen Umgang mit Medien andererseits detailliert zu untersuchen.

Die Expertise will helfen zu klären, inwieweit und in welcher Weise das Lesen eine Grundqua - lifikation für den kritisch-reflektierenden, selbstbestimmten Umgang mit Medien und deren Inhalten darstellt. Zur Beantwortung der zentralen Fragen wurde eine vergleichende Recherche und systematische Auswertung der Fachliteratur aus den Bereichen Leseforschung, Medien - pädagogik und „new literacies“ durchgeführt. Zusätzlich wurde ein spezielles Ordnungsschema entwickelt, anhand dessen die Befunde aus den Feldern Leseforschung und Medienpädagogik strukturiert zueinander in Bezug gesetzt werden konnten. Darüber hinaus ist versucht worden, für verschiedene Zielgruppen herauszustellen, wie die eine Kompetenz die andere befördern kann: Die Expertise zeigt dabei Handlungsansätze und Fördermöglichkeiten zur Unterstützung des Erwerbs von Medienkompetenz durch gezielte Maßnahmen der Leseförderung auf und lotet Optionen einer integrierten Förderung von Lese- und Medienkompetenzen aus.

Dr. Jürgen Brautmeier,

Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM)

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1 Zusammenfassung

Kompetentes Lesen gilt als Schlüsselqualifikation – auch für den kompetenten Umgang mit Medien. Dieser Zusammenhang wird häufig postuliert, aber selten wissenschaftlich untersucht.

Hier setzt die vorliegende Expertise an: Es werden die aktuellen Stände der Leseforschung und Medienpädagogik dargestellt, auf dieser Grundlage Bezüge und Grenzen zwischen beiden Feldern herausgearbeitet und Empfehlungen für die Wissenschaft, Bildungspolitik und Förderpraxis formuliert.

Bei der Ausarbeitung der Expertise waren drei Fragen leitend. Die erste betraf die theoretischen Modellierungen von Lese- und Medienkompetenzen. Die Literaturrecherche in den Feldern der Leseforschung, der Medienpädagogik und deren Schnittfeld, den „new literacies“, förderte eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Kompetenzmodelle zutage. Sie wurden mit Hilfe einer Ordnungs- struktur mit drei Bereichen (individuelle Dispositionen, situatives Handeln und Reflexionen) syste - matisiert und aufeinander bezogen. Nach diesem ersten, ordnenden Schritt konnten in einem zweiten, abstrahierenden Schritt sieben Kompetenz-Komponenten identifiziert werden, in denen eine Konvergenz von Lese- und Medienkompetenzen besteht. Im Bereich der individuellen Dispo - sitionen handelt es sich um die kognitive und die affektiv-motivationale Komponente, im Bereich des situativen Handelns um die rezeptive und produktive Komponente und im Bereich der Refle- xionen um die individuelle, die medienbezogene und die soziale Komponente. Erst auf dieser abstrakten Ebene der Komponenten ließen sich grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen den Kompetenzmodellen finden, die die Spezifik der drei Felder (Lese- und Medienkompetenz sowie new literacies) hinter sich lassen.

Die zweite Fragestellung nach der Interaktion von Lese- und Medienkompetenzen im Rahmen von Erwerbs- und Sozialisationsprozessen war ungleich schwieriger zu beantworten. Das liegt vor allem daran, dass sich die Forschungstraditionen bei Lese- und Medienkompetenzen markant unterscheiden. Die gegenwärtige Lesesozialisationsforschung wird von den Fragen angetrieben, wie die Wege zum Lesen im Kontext der Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers verlaufen und wie sie dabei durch die Einflussfaktoren der sozialen Herkunft und des Geschlechts beeinflusst werden. Die Mediensozialisationsforschung widmet sich stärker der Frage der Medien - aneignung durch die einzelnen Individuen und fokussiert damit stärker auf die Interaktion von Menschen und Medien. Diese komplementären Perspektiven werden in der Forschung bisher nicht integriert, sodass zurzeit keine ausreichende empirische Basis dafür besteht, die Interaktion des Erwerbs von Lese- und Medienkompetenz verlässlich zu beschreiben. Allerdings stimmen die Ergebnisse aus beiden Forschungsfeldern darin überein, dass die Familie als Ort der Vererbung eines spezifischen Lese-, Medien- und Bildungshabitus als wichtigste sozialisatorische Kraft zu verstehen ist und alle weiteren Sozialisationsinstanzen einen sekundären Einfluss ausüben. Auf dieser gemeinsamen Grundlage ließe sich eine stärker integrierte Lese- und Medienforschung aufbauen.

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Auch die dritte Frage nach der integrierten bzw. komplementären Förderung von Lese- und Medien - kompetenzen ist angesichts der sehr unterschiedlichen Forschungstraditionen nicht verlässlich zu beantworten. Sowohl die theoretischen Konzepte als auch die Praxis der Leseförderung und Medienpädagogik sind zurzeit noch weitgehend unverbunden. Konkret zeichnen sich drei Haupt- probleme ab: Es fehlen gemeinsame wissenschaftliche Grundlagen für die Entwicklung von Förder - maßnahmen, die Aufgaben und Zuständigkeiten der verschiedenen Bildungsorte (Krippe, Kinder- garten, Schule, Bibliotheken, medienpädagogische Initiativen) sind ungeklärt, und die bisher umgesetzten Fördermaßnahmen werden kaum auf ihre Wirksamkeit überprüft.

Aus den Antworten dieser Fragen ergeben sich Empfehlungen auf den Ebenen der Wissenschaft, der Bildungspolitik und der Förderpraxis. Eine integrierte Förderung von Lese- und Medien - kompetenzen bedarf gesicherter wissenschaftlicher Grundlagen. Dazu sind weitere theoretische Klärungen, gezielte Grundlagenforschung, die Aufklärung der Wirkmechanismen von sozialer Herkunft auf die Kompetenzentwicklung und konsequente Evaluationen von Fördermaßnahmen notwendig. Bildungspolitisch sind prioritär die horizontalen und vertikalen Übergänge zwischen den Bildungsorten zu koordinieren. Dabei sind auch die Bibliotheken als wichtige Akteurinnen der literalen Förderung einzubeziehen. Weiter muss die Medienpädagogik in der Schule verankert und die literale Förderung im Frühbereich institutionalisiert werden. Für die Förderpraxis prioritär sind Family-Literacy-Programme, Modelle und Materialien für den Frühbereich, die fächerüber- greifende Förderung von „information literacy“, die verbindliche Implementierung wirksamer Unterrichtsmodelle sowie der wechselseitige Einbezug von Lesedidaktik und Medienpädagogik bei der Ausgestaltung von medienpädagogischen Initiativen und Leseförderungsprogrammen.

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2. Auftrag und Vorgehensweise

Die vorliegende Expertise wurde von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) in Auftrag gegeben und im Zeitraum zwischen April und Juli 2010 vom Zentrum Lesen der Pädago- gischen Hochschule Nordwestschweiz unter Mitarbeit der Pädagogischen Hochschule Zürich erstellt.

Folgende Zielsetzungenwaren für die Bearbeitung wegleitend: Im Rahmen der Expertise sollte, insbesondere in Form einer vergleichenden Literaturrecherche und -auswertung, geklärt werden, inwieweit und in welcher Weise das Lesen eine Grundqualifikation für den kritisch-reflektieren- den, selbstbestimmten Umgang mit Medien und deren Inhalten darstellt. Darüber hinaus sollte für verschiedene Zielgruppen herausgestellt werden, wie die eine Kompetenz die andere beför- dern kann. Hierbei sollte der mögliche Handlungsbedarf für eine praktische Förderung der Lese- kompetenz im Kontext der Medienkompetenz herausgearbeitet werden. Dieser Auftrag wurde in Form von drei Fragestellungenoperationalisiert:

1. Wie können Lese- und Medienkompetenzen modelliert werden, und wie lassen sich diese Modelle aufeinander beziehen bzw. integrieren?

2. Wie interagieren Lese- und Medienkompetenzen im Rahmen von Erwerbs- und Sozialisa- tionsprozessen unter gruppenspezifisch unterschiedlichen Bedingungen?

3. Kann und soll der Erwerb von Medienkompetenzen durch gezielte Maßnahmen zur Lese- förderung unterstützt werden? Welche Handlungsansätze bieten sich an?

Zur Beantwortung dieser Fragen hat das Projektteam zunächst die Fachliteratur aus den Feldern Leseforschung, Medienpädagogik und „new literacies“ nach Kompetenzmodellen gesichtet und für jedes Feld die wichtigsten Ergebnisse dargestellt. Dabei wurde deutlich, dass die je spezifischen disziplinären Bezüge und Wissenschaftstraditionen der Leseforschung und Medienpädagogik erwartungsgemäß zu sehr unterschiedlichen Modellierungen von Kompetenzen geführt haben.

Außerdem erwies sich das junge Feld der „new literacies“ als sehr dynamisch, aber noch wenig konsolidiert.

Diese Befunde haben zu folgenden Konsequenzen geführt: Erstens wurde beschlossen, die Felder Leseforschung und Medienpädagogik bei der Bearbeitung der weiteren Fragestellungen weiterhin getrennt zu bearbeiten und auf ein separates Feld „new literacies“ zu verzichten. Zweitens wurde eine Ordnungsstruktur entwickelt, die es erlauben sollte, die Befunde der Leseforschung und Medienpädagogik trotz aller Disparitäten strukturiert aufeinander zu beziehen. Diese Ordnungs- struktur ist doppelt verankert: Deduktiv in theoretischen Erwägungen, die in Kapitel 3 Konzep- tionelle Grundlagen) dargestellt sind, und induktiv in den Befunden des Kapitels 4 (Kompetenz- modelle), für die eine an beide Felder anschlussfähige Ordnung gefunden werden musste.

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Auf dieser Grundlage wurden die Fragen 2 (Sozialisationsbedingungen) und 3 (Förderansätze) angegangen. Bei den Literaturrecherchen zur zweiten Fragestellung stießen wir auf folgende zwei Probleme: Zum einen setzen Lese- und Mediensozialisationsforschung sehr unterschiedliche Akzente, indem sie entweder stärker die soziale Bedingtheit (Lesesozialisation) oder aber die individuelle Aneignung (Mediensozialisation) beto-nen. Zum anderen sind Forschungsergebnisse nur bedingt anschlussfähig an die Aspekte der Lese- und Medienkompetenz-Modellierungen.

Auch die Bearbeitung der dritten Fragestellung war mit verschiedenen Herausforderungen ver- bunden. Einerseits erwiesen sich die empirischen Grundlagen der beiden Felder, aber auch der verschiedenen Bereiche innerhalb dieser Felder als ausgesprochen heterogen: Zur Förderung von Lesekompetenzen in schulischen und zunehmend auch in familialen Kontexten liegen umfang- reiche, gut gesicherte Forschungsergebnisse vor, während die Leseförderung in Bibliotheken und Einrichtungen der Jugendarbeit noch weitgehend unerforscht ist. Für die Förderung von Medien- kompetenzen sind generell kaum empirische Forschungsergebnisse verfügbar. Hinzu kommt der Umstand, dass für die Förderung von Lesekompetenzen bereits eine aktuelle Expertise des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF (Artelt et al., 2005) und – für die schulische Leseförderung – umfassende didaktische Konzeptionen (Rosebrock & Nix, 2008, Bertschi-Kauf- mann, 2007) vorliegen. Auf diese Schwierigkeiten haben wir wie folgt reagiert: Erstens wurden neben den verfügbaren empirischen Forschungsergebnissen auch lediglich normativ begründete, programmatische Fördermodelle miteinbezogen. Zweitens haben wir im Kapitel zur Leseförderung jene Bereiche eher summarisch behandelt, die in der BMBF-Expertise bereits breiter dargestellt wurden. Drittens haben wir uns bei der Aufarbeitung der schulischen Leseförderung stark auf die erwähnten lesedidaktischen Konzeptionen gestützt.

Aus diesem schrittweisen Vorgehen hat sich auch die Strukturierung der einzelnen Kapitel ergeben.

In Kapitel 3 sind die theoretischen Ansätze skizziert, die der erwähnten Ordnungsstruktur zu- grunde liegen. Kapitel 4 (Modelle von Lese- und Medienkompetenzen) ist nach den drei Feldern Lesekompetenz, Medienkompetenz und „new literacies“ geordnet. In Kapitel 5 (Sozialisations- prozesse und ihre Bedingungen) sind die beiden Teilkapitel zur Lese- und Mediensozialisation nach Altersgruppen strukturiert. Kapitel 6 (Förderung von Lese- und Medienkompetenzen) folgt der Logik der unterschiedlichen Bildungsorte (Rauschenbach et al., 2005): der informellen Bildungs- und Lernwelten (Familie, Freizeit/Peers), der non-formalen Bildungsorte (Krippen, Kindergärten, Bibliotheken, Projekte) und des formalen Bildungsorts Schule.

Aus pragmatischen Gründen mussten bei der Aufarbeitung der Forschungsstände immer wieder Priorisierungen vorgenommen und bestimmte Themen ausgeklammert werden. In Absprache mit der Auftraggeberin wurde der frühen und späteren Kindheit besonderes Gewicht gegeben. Da die LfM selbst eher im medienpädagogischen Feld angesiedelt ist, wurde das Feld der Leseforschung breiter und detaillierter aufgearbeitet.

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Die aufgearbeiteten Forschungsstände – dargestellt in den Kapiteln 3 bis 6 der Expertise – wurden von einer Expertin der Leseforschung und einem Experten der Medienpädagogik begutachtet und im Rahmen eines Hearings mit dem Projektteam diskutiert. Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Bettina Hurrelmann (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Norbert Neuß (Universität Gießen) herzlich für die differenzierten sachdienlichen und unterstützenden Rückmeldungen. Prof. Dr. Thomas Lindauer und Dr. Britta Juska-Bacher vom Zentrum Lesen haben die Expertise sehr präzise lektoriert und damit viel zum vorliegenden Resultat beigetragen. Für diese Unterstützung sind wir den Kolleg - Innen sehr dankbar. Die inhaltliche Verantwortung für den vorliegenden Schlusstext liegt selbst- verständlich bei den Autorinnen und Autoren.

Aarau, 11. Juli 2010

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3. Konzeptionelle Grundlagen

Dieses Kapitel dient einerseits der Klärung verschiedener zentraler Grundbegriffe und anderer- seits der Vorstrukturierung der nachfolgenden Kapitel. Zunächst werden die Begriffe Kompetenz (3.1), Handlung (3.2), Text (3.3) und Literalität (3.4) definiert. Anschließend erläutern wir die Ordnungsstruktur, die wir in den Kapiteln 4 und 6 verwenden werden, um die unterschiedlichen Kompetenzmodelle und Förderansätze der Lese- und Medienforschung auf einer abstrakteren Ebene zu ordnen und aufeinander zu beziehen (3.5).

3.1 Kompetenzen zwischen individueller Disposition und situationsbezogenem Handeln Im deutschen Sprachraum hat die Definition von Weinert (2001) breite Akzeptanz gefunden.

Nach diesem Verständnis sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlern - baren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Pro- blemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“

(Weinert, 2001 in Klieme et al., 2003, S. 72). Aus dieser Definition lässt sich Folgendes ableiten:

• Kompetenzen sind individuell, sie liegen als mentale Strukturen und Prozesse der einzelnen Subjekte vor und bilden ein Repertoire, auf welches diese bei Bedarf zurück- greifen können, um bestimmte Probleme zu bewältigen.

• Sie sind auf typische Problemsituationen ausgerichtet, können und müssen aber an unterschiedliche konkrete Situationen angepasst werden.

• Die situationsgerechte und erfolgreiche Nutzung dieser kognitiven Kompetenzen erfordert weitere (motivationale, volitionale und soziale) Fähigkeiten.

• Kompetenzen sind erlernbar, sie werden über sozialisatorische Prozesse erworben und können gefördert werden.

Dieses Verständnis ist eindeutig bezüglich der Verortung und Abgrenzung von Kompetenzen als individuelle Kognitionen. Gleichzeitig wird deutlich, dass weder der Erwerb noch die Nutzung von Kompetenzen von konkreten Handlungssituationen losgelöst werden können. Hymes – ein Weg- bereiter der funktionalen Linguistik – weist darauf hin, dass erfolgreiches sprachliches Handeln (performance) unterschiedliche (nicht nur verbale) Kompetenzen erfordert und in spezifischen Situationen von den Beteiligten gemeinsam ko-konstruiert wird (Hymes, 1974, S. 93ff). Der Kom- petenzbegriff von Weinert, der sich auf individuelle Dispositionen und variable Situationen bezieht, ist diesem paradigmatischen Dilemma unterworfen.

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Neben der kognitiven Dimension des Kompetenzbegriffs ist in Weinerts Definition die Motivation eine zentrale Dimension: In der Motivationspsychologie werden Motivationen als Ergebnis des Zusammentreffens von Person und Situation beschrieben und sind damit nicht mehr situations- unabhängig. Volitionen schließlich regulieren die Wechselwirkungen zwischen Motivationen und dem konkreten Handlungsvollzug (Heckhausen und Heckhausen, 2006).

Für die kognitions- und motivationspsychologische Sichtweise bleibt dabei der Blick auf das ein- zelne Individuum – seine Fähigkeiten, Bereitschaften und Verhaltensweisen unter bestimmten situativen Bedingungen – konstituierend.

3.2 Handeln als situative Herstellung von Intersubjektivität

Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive stehen die Prozesse der situativen Sinn-Konstruk tion im Zentrum des Interesses. Dabei ist das Verhalten eines Individuums lediglich ein Element einer dreiseitigen Beziehung zwischen der Geste des einen Organismus, der Reaktion des anderen und dem weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Handlung (Mead, 1968 [1934], S. 116). Symbolische Interaktion, und dazu gehört neben dem Sprechen auch die Schrift- und Mediennutzung promi- nent (Baacke, 1973, S. 261f), ist deshalb prinzipiell nicht von der aktuellen Situation zu trennen.

Zwar müssen die AkteurInnen über individuell erworbene Wissensbestände unterschiedlichster Art verfügen (z.B. über die verwendeten Zeichensysteme und Geräte, die thematisierten Sach- verhalte, kommunikative Gattungen, soziale Positionen der AkteurInnen u.a.m.). Verstehen wird aber erst durch eine Reihe weiterer, genuin situativer Bedingungen möglich: die Kompatibilität der Wissensbestände der AkteurInnen (Gumpertz in Auer, 1999, S. 174), die implizierbaren Kon- textinformationen (Garfinkel in Auer, 1999, S. 130) und den Verlauf der Interaktion als Herstel- lungsprozess von Intersubjektivität (Sacks in Auer, 1999, S. 138). Aus soziologischer Perspektive kann soziales Handeln deshalb „nicht als regelgeleiteter Prozess begriffen werden (...), sondern als situativ zu bewältigende Koordination interpretativer Leistungen. Dabei zehren die Interpre- tationsleistungen von einem als gemeinsam unterstellten Erfahrungs- und Wissenshorizont. Die Kommunikation schafft ihre eigene Wirklichkeit“ (Schützeichel, 2004, S. 193). Dieses Verständnis ist auch auf schrift- und medienbasierte, zeitlich und räumlich zerdehnte (Ehlich, 1994) Inter- aktionen anwendbar: AutorInnen von schriftsprachlichen und multimodalen Texten müssen die Erfahrungs- und Wissenshorizonte der RezipientInnen und die Bedingungen möglicher Rezeptions - situationen vorwegnehmen und bei der Ausformung der Texte berücksichtigen, um Verstehen zu ermöglichen. Ob dies gelingt, hängt nicht nur von den einzelnen RezipientInnen ab, sondern auch vom Zusammenspiel von Text und LeserIn oder BetrachterIn im situativen Handlungsvollzug.

Die sozialwissenschaftliche Perspektive lenkt damit den Blick stärker auf die Bedingungen und den Verlauf situierter Handlungen bzw. auf die interaktiven Prozesse der Sinnkonstruktion.

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3.3 Text

Um Bezüge zwischen Lese- und Medienkompetenzen herauszuarbeiten, bedarf auch der Textbegriff noch einer vorgängigen Klärung. Das im Alltagsgebrauch vorherrschende Verständnis von Text als Schriftstück soll dabei präzisiert und erweitert werden. Aus textlinguistischer Sicht werden unterschiedliche Ebenen von Textualität unterschieden: Kohäsionmeint die formale Verknüpfung der einzelnen Textteile (Sätze, Abschnitte) durch sprachliche Mittel (z.B. Pronomina oder Kon- junktionen). Kohärenzbezeichnet den inhaltlichen Zusammenhalt eines Textes (die semantischen Bezüge zwischen Wörtern, die thematische Entfaltung von Satz zu Satz oder die Text-Makro- struktur). Während Kohäsion und Kohärenz auf den Text als statisches Produkt bezogen sind (vgl.

aber Studer, 2008 zu einer dynamischen Konzeption von Kohärenz), umfassen die weiteren Ebenen den dynamischen Textgebrauch: Textfunktionen(wie Information, Appell, Obligation, Kontakt und Deklaration) bezeichnen die Hauptzwecke von Texten in spezifischen kommunikativen Hand- lungssituationen. Textrezeption und -produktionfokussieren die Prozesse der Konstruktion men- taler Modelle beim Lesen bzw. deren Formalisierung beim Schreiben unter Einbezug von Sprach-, Welt- und (Sprach-) Handlungswissen (zusammengefasst nach Peyer, 2010). Sandig konzeptio- nalisiert Textfunktion, Kohäsion, Kohärenz/Thema und Situationalität als prototypische Kern- merkmale von Texten. Daneben können Texte weitere Merkmale wie Lautsprachbezug, grafische Gestalt oder konstante Autorenschaft in mehr oder weniger starker Ausprägung aufweisen (Sandig, 2000, S. 108). Von diesen textlinguistischen Größen sind streng genommen nur die Ko- häsionsmittel auf ein spezifisches (nämlich sprachliches) Zeichensystem ausgerichtet. Die übri- gen Kernmerkmale können auch visuelle, akustische und multimodale Ausdrucksformen aus- zeichnen. Eine solche Erweiterung des Textbegriffs wird von der Medienpädagogik seit Langem vertreten (Merz-Abt, 2005, S. 19ff) und gewinnt heute im Zuge der sich rasant entwickelnden Medienumwelt auch im sprachdidaktischen Diskurs an Dringlichkeit und Sukkurs (vgl. etwa Becker- Mrotzek, 2003; Pahl & Rowsell, 2005; Dehn, 2007). Holly beschreibt fünf Aspekte, in welchen sich durch neue Medien vermittelte Texte von gedruckten Texten unterscheiden: Interaktivität (zwi- schen technischem Gerät und NutzerIn), Virtualität (bzw. Wirklichkeitsbezug), Multimedialität (Integration mehrerer Zeichensysteme wie Schrift, Bild oder Ton), Vernetzung der AkteurInnen (und damit Verwischung der Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit) und Entlinearisie - rung (Hypertextstrukturen; Holly, 2000 S. 86ff.). Solche Aspekte können hinzugezogen werden, um unterschiedliche Textarten im Sinne von Sandigs Prototypen-Modell (s. o.) differenzierend zu beschreiben. Dabei bleiben die Kernmerkmale der Zeichenbasierung, formalen Kohäsion, thema - tischen Kohärenz, Situiertheit und kommunikativen Funktion für die Konzeptionalisierung als Text konstituierend.

Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es uns gerechtfertigt, den Textbegriff wie folgt zu er- weitern: Als Texte werden formal strukturierte (kohäsive) Artefakte verstanden, die auf gesell- schaftlichen Zeichensystemen (Bild, Klang, Sprache, Schrift und deren Kombinationen) basieren und der Kommunikation komplexer (Einzelaussagen übersteigender, thematischer, kohärenter) Sinneinheiten dienen.

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3.4 Literalität – ein disziplinen- und perspektivenintegrierendes Konzept

In den Unterkapiteln 3.1 und 3.2 wurden zwei disziplinäre Sichtweisen auf schriftsprachliche und mediale Kompetenzen skizziert: Eine psychologische, die stärker auf das Individuum und seine Dispositionen ausgerichtet ist, und eine sozialwissenschaftliche, die eher das soziale Handeln und seine situativen Bedingungen fokussiert. Zusätzlich wurde im Unterkapitel 3.3 der Textbegriff auf multimodale Texte erweitert. Das im englischen Sprachraum seit Längerem etablierte Konzept der „literacy“ (i. S. von schriftsprachlicher Handlungsfähigkeit) bietet sich an, um diese Perspek - tiven zu integrieren. Im Folgenden wird zunächst die international breit rezipierte, eher kultur- wissenschaftlich ausgerichtete Konzeption von Barton (2007) vorgestellt und anschließend der dazu teilweise komplementäre Literalitätsbegriff der deutschsprachigen Lesesozialisationsfor- schung umrissen. Barton erklärt Literalität wie folgt (Barton, 2007, S. 34f):

Synchrone soziale Perspektive:Literalität ist als soziales Handeln in konkreten (schrift- und medienbezogenen) Situationen (literacy events) zu verstehen. Dabei greifen die Ak- teurInnen auf situationsspezifische Handlungsmuster zurück, die sie in unterschiedlichen Lebensbereichen erworben haben. Handlungssituationen sind sozial und institutionell strukturiert, diese Bedingungen müssen deshalb bei der Beschreibung literalen Handelns zwingend mit einbezogen werden. Literalität bezieht sich primär auf Sprache und Schrift, ist aber immer im Ensemble aller kommunikativen Symbolsysteme (wie Geste, Bild, Klang u.a.) zu verstehen. Sie ist ein Mittel der intersubjektiven Repräsentation.

Synchrone psychologische Perspektive:Literalität dient als Symbolsystem gleichzeitig auch der mentalen, intrasubjektiven Repräsentation und ist damit ein Mittel der Kognition.

Darüber hinaus wird literales Handeln durch Aufmerksamkeit, Haltungen und Wertorien- tierungen gesteuert.

Diachrone Perspektive:Die individuell verfügbaren Wissensbestände und Handlungsmus- ter sind im Kontext zahlreicher konkreter Situationen ontogenetisch erworben worden.

Der Auf-, Aus- und Umbau dieser Ressourcen ist ein lebenslanger Prozess. Die Handlungs- muster, die in den verschiedenen Lebensbereichen das soziale Handeln strukturieren, sind das (vorläufige) Ergebnis sozialer und institutioneller Entwicklungen.

Inzwischen hat die deutschsprachige Lesesozialisationsforschung den Begriff „Literalität“ ent- deckt und ihn in Bezug zur Lesesozialisation und Deutschdidaktik gesetzt (Bertschi-Kaufmann &

Rosebrock, 2009). Dabei besteht Konsens darüber, dass Literalität eine sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Komponente besitzt (Bertschi-Kaufmann & Rosebrock, 2009; Hurrelmann, 2009). Aus gesellschaftlicher Sicht ist mit Literalität eine historisch variable schriftkulturelle Ver- fasstheit gemeint. Diese bringt es mit sich, dass individuelle literale Kompetenzen als notwendig gelten, um an diesen schriftbasierten Gesellschaften teilzuhaben. Literalität bezeichnet also nicht nur deskriptiv, wie Gesellschaften hinsichtlich ihrer Schriftkultur beschaffen sind, sondern

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gibt den Mitgliedern normativ vor, dass sie lesen und schreiben können müssen. Legitimiert wird dies über die Zielidee eines gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts, die von Hurrelmann (2002b, 2009) mit Bezug auf Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns für die Medien- und Lesekompetenz erarbeitet wurde.

Damit stellt das Konzept der Literalität verschiedene Schnittstellen für interdisziplinäre Bezüge zur Verfügung: Es ist anschlussfähig an die Kognitions- und Motivationspsychologie, sozialwissen- schaftliche Interaktions- und Sozialisationstheorien, einen erweiterten Textbegriff und kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. Diese Eigenschaften sind für die Zielsetzung dieser Expertise wichtig.

3.5 Eine Ordnungsstruktur als Analyseinstrument

In den nachfolgenden Kapiteln werden Konzepte der Lese- und Medienpädagogik vorgestellt und diskutiert. Dabei geht es um Modelle der Lese- und Medienkompetenzen und „new literacies“

(Kapitel 4), gesellschaftliche Sozialisationsprozesse (Kapitel 5) und pädagogische Förderansätze (Kapitel 6). Das oben skizzierte Verständnis schriftsprachlicher und medialer Kompetenzen als (multimodale, rezeptive und produktive, auf gesellschaftliche Handlungsfähigkeit ausgerichtete) Literalität liegt allen drei Kapiteln zugrunde: So soll vermieden werden, dass im Kapitel 4 (Kompe - tenzen) „nur“ der psychologische Dispositions- und in Kapitel 5 (Sozialisation) „nur“ der sozial- wissenschaftliche Handlungsaspekt berücksichtigt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, verwenden wir ergänzend zur formalen Kapitelstruktur eine zweite, inhaltliche Ordnungsstruktur. Sie beruht einerseits auf den theoretischen Grundlagen, die wir oben (3.1 bis 3.4) diskutiert haben. Andererseits berücksichtigt sie auch die Einsichten aus den Recherchen und Diskussionen zum Kapitel 4 (Kompetenzmodelle): Weil Leseforschung und Medienpädagogik theoretisch und empirisch sehr unterschiedlich orientiert sind, musste eine Ordnungsstruktur gewählt werden, die die Kernkonzepte beider Felder zu integrieren vermag. Die im Folgenden dargestellte Ordnungsstruktur ist damit das Produkt eines kombinierten deduktiven und induktiven Vorgehens: Die Bereiche der individuellen Dispositionen und des situativen Handelns sind aus den oben referierten Theorien abgeleitet. Der dritte Bereich der Reflexionen ermöglicht den Einbezug der zentralen Kompetenzdimensionen der kritischen Reflexion und Bewertung von Texten, Medien und ihrer Nutzung. Er ist in der Ordnungsstruktur quer zu den beiden anderen Bereichen angelegt, um zu verdeutlichen, dass die hier aufgeführten Kompetenzkomponenten einen metakognitiven oder kritisch-bewertenden Charakter aufweisen, indem sie sich explizit auf Aspekte von Dispositionen und Handlungen (aber auch von gesellschaftlichen Phänomenen) beziehen.

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Individuelle Dispositionen

•Wissensbestände und Prozeduren für lese- und medienbezogene Verarbeitungsprozesse

•Lese- und medienbezogene Motivationen und Identitäten

•Strategiewissen

•Habitualisierte Handlungsmuster

Situatives Handeln

•Vertrautheit mit der Situation (Handlungs - muster, Medien, AkteurInnen)

•Anpassung an die Situation

(Motivationen/ Volitionen, Selektion von Wissen und Strategien)

•Rollenübernahme und -ausgestaltung

•Aushandeln von Intersubjektivität

•Aushandeln sozialer Positionen (Zugang, Anerkennung)

Reflexionen

•Monitoring bei der Mediennutzung

•Thematisierung von Schrift und Medien

•Thematisierung der (eigenen) Schrift- und Mediennutzung

•Anschlusskommunikationen

•Kritisch-bewertende Haltung, normative Orientierungen

Die drei Kompetenzbereiche – individuelle Dispositionen, situatives Handeln und Reflexionen – kommen in mehr oder weniger stark abweichenden Ausformungen in den holistischen Kompe- tenzmodellen der Leseforschung und der Medienpädagogik vor (s. unten, Kapitel 4.1 und 4.2).

Sie werden im Folgenden verwendet, um die wichtigsten Befunde systematisch zu bündeln und aufeinander zu beziehen. Weil dieses Vorgehen für die Expertise konstituierend ist, soll es noch etwas genauer expliziert werden:

Die Ordnungsstruktur kommt in den Kapiteln 4 (zu Modellen der Lese- und Medienkompetenz) und Kapitel 6 (zur Förderung von Lese- und Medienkompetenz) zum Einsatz. Im Kapitel 4 ver- wenden wir sie zunächst, um die Dimensionen der disziplinenspezifischen Modelle von Lese- kompetenz (4.1), Medienkompetenz (4.2) und „new literacies“ (4.3) zu bündeln. Hier bewegen wir uns auf einer beschreibenden, ordnenden Ebene. In der abschließenden Diskussion (4.4) setzen wir die Ordnungsstruktur ein, um die disziplinenspezifischen Konzepte auf einer abstrakten Ebene aufeinander zu beziehen und gemeinsame Merkmale abzuleiten. Um diese beiden Ebenen mög- lichst deutlich voneinander zu unterscheiden, sprechen wir auf der disziplinenspezifischen Ebene von Dimensionen, auf der abstrahierten, disziplinenintegrierenden Ebene dagegen von Kompo- nenten.

Tabelle 1: Ordnungsstruktur für die Integration von Kompetenzaspekten

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Im Kapitel 5 kommt die Ordnungsstruktur nicht zum Einsatz, weil es nicht möglich war, Sozialisa - tionsfragen auf einzelne Kompetenzdimensionen zu beziehen. Dieses Kapitel ist nach der Logik der verschiedenen Altersgruppen strukturiert.

In Kapitel 6 greifen wir die unter 4.4 entwickelten, abstrahierten Komponenten wieder auf. Zu- nächst nutzen wir sie, um für die Lese- (6.1) und Medienkompetenzen (6.2) spezifische Förder- ansätze beschreibend zu ordnen und zu bündeln. In der abschließenden Diskussion (6.3) führen wir – wiederum mit Hilfe der Komponenten – die Förderansätze beider Felder abstrahierend zu- sammen.

Schließlich werden in Kapitel 7 die beiden Ebenen – die disziplinenspezifische (beschreibende) und die disziplinenintegrierende (abstrahierende) – nochmals erläutert und die gemeinsamen (Teil-)Komponenten von Lese- und Medienkompetenz herausgestellt.

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4. Modelle von Lese- und Medienkompetenzen

Wie können Lese- und Medienkompetenzen modelliert werden, und wie lassen sich diese Modelle aufeinander beziehen bzw. integrieren? Das Kapitel 4 dient der Bearbeitung dieser ersten Frage - stellung. Dazu werden für die Felder der Leseforschung (4.1), der Medienpädagogik (4.2) und der

„new literacies“ (4.3) Konzepte beschrieben und diskutiert, die eine Strukturierung von Kompetenz - bereichen der Schrift- und Mediennutzung selber vornehmen oder zu extrapolieren erlauben. Die

„new literacies“ bilden in verschiedener Hinsicht eine Schnittmenge zwischen der Leseforschung und der Medienpädagogik und befinden sich in einem sehr dynamischen Konstituierungs prozess.

Sie werden in diesem Kapitel separat bearbeitet, um der Frage nach übergreifenden neuen Kom- petenzmodellen genügend Raum zu geben.

Die drei Unterkapitel sind in verschiedener Hinsicht heterogen: Sie unterscheiden sich bezüglich der einbezogenen Diskurse, der disziplinären Bezüge, der empirischen Fundierung, der Fokussie - rung von Altersgruppen und der Differenziertheit. Diese Heterogenität reflektiert die sehr unter- schiedlichen Wissenschaftstraditionen der drei Felder und rückt damit neben den Ergebnissen der Wissensproduktion deren Bedingungen in den Blick, die für eine Integration zwingend mit berück- sichtigt werden müssen. Bei der Lektüre ist allerdings zu berücksichtigen, dass im Unterkapitel 4.1 zur Lesekompetenz weitgehend empirisch gesichertes Wissen dargestellt wird, während die Unterkapitel 4.2 zur Medienkompetenz und 4.3 zu den „new literacies“ primär auf theoretischen Grundlagen beruhen. Um die unterschiedlichen Kompetenzmodelle trotz dieser Heterogenität aufeinander beziehen zu können, werden die Befunde am Ende jedes Unterkapitels sowie in der zusammenfassenden Diskussion (4.4) mit Hilfe der Ordnungsstruktur gebündelt und aufeinander bezogen.

4.1 Lesekompetenz

Ausgehend von einer Begriffsklärung und einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der inter- nationalen Leseforschung werden in diesem Unterkapitel zunächst Modelle von Lesekompetenz als individuelle Disposition dargestellt und anschließend erweiterte Konzeptionen präsentiert, die auch Aspekte des situativen Handelns einbeziehen.

Einführung

Unter Lesekompetenzverstehen wir im Folgenden das Ensemble der Dispositionen, die bei der Rezeption schriftbasierter Medien situativ handelnd und reflektierend genutzt werden können.

Lesen umfasst nicht nur hierarchieniedrige Dekodierprozesse, sondern auch hierarchiehöhere Prozesse des Textverstehens und der Selbststeuerung, lesebezogene Haltungen und Bereitschaften sowie intra- und intersubjektive Reflexionen (Groeben, 2002 S. 12, Hurrelmann, 2007 S. 23ff.).

Zu den schriftbasierten Medien gehören sowohl erzählende, literarische als auch darstellende, sachbezogene Texte, die ausschließlich oder maßgeblich als schriftliche Sprache kodiert sind.

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Lesekompetenz ist damit ein komplexes, kulturbezogenes und deshalb sozial (nicht biologisch) tradiertes Bündel individueller Ressourcen (Groeben, 2002, S. 13; Tomasello, 2006, S. 72).

Da das Lesen nicht in allen Gesellschaften die gleiche Bedeutung hat, wirken sich Normen und ihre historische Veränderung grundlegend auf das Verständnis (und damit auch auf die Modellie - rung) von Lesekompetenz aus. Hurrelmann (2004a) nennt für den deutschen Sprachraum drei lese - bezogene Bildungsnormen: Lesen als a) rationale Selbstbestimmung, b) existenzielle Persönlich - keitsbildung und c) Erlebnisgenuss. Sie sind alle auf den Nutzens des Lesens ausgerichtet, den es für das Individuum und die Gesellschaft hat, und erklären den besonderen Stellenwert des lite ra - rischen Lesens in der europäischen bzw. genauer: der deutschen Bildungstradition. Das anglo - amerikanische Literacy-Konzept ist dagegen primär auf den gesellschaftlich-pragmatischen Bedarf und in seiner Operationalisierung bei PISA auf Sachtexte ausgerichtet (Hurrelmann, 2007, S. 22f). Barton definiert Literacy allerdings deutlich breiter (s. o., Unterkapitel 3.3), die angloamerikanische Lesesozialisationsforschung hat eine große Vielfalt gesellschaftlicher Funk- tionen des Lesens und Schreibens zu Tage gefördert (u.a. Heath, 1983, PurcellGates, 1996, Rowe, 2008), und das Verhältnis des instrumentellen (efferent) und literarischen (aesthetic) Lesens wird auch theoretisch bearbeitet (u.a. Rosenblatt, 2004).

Hurrelmanns Vorbehalte (2009) gegenüber den großen Leistungsstudien wie PISA und PIRLS/

IGLU sind u. E. vor allem in der Auseinandersetzung mit Bildungsidealen wichtig: Nicht das einseitig pragmatische angloamerikanische Literacy-Konzept, sondern die aktuelle Dominanz der Psychometrie im bildungspolitischen Diskurs führt heute weltweit dazu, dass komplexe Kompetenz modelle zerlegt und nur ihre operationalisierbaren Teile empirisch bearbeitet werden (Alexander & Fox, 2004, S. 54f; Spinner, 2005, S. 12).

Um diese aktuelle Tendenz historisch zu kontextualisieren, wird im Folgenden die Geschichte der internationalen Leseforschung von 1950 bis 2004 in groben Zügen nachgezeichnet. Dabei stüt- zen wir uns auf die Darstellungen von Alexander und Fox (2004, S. 33–68) sowie Gillen und Hall (2003, S. 3–12).

1950–1965: Konditioniertes Lernen.Im Zusammenhang mit der behaviouristischen Lern - theorie wird das Lesen erstmals zum Gegenstand empirischer Forschung. Im Zentrum steht dabei die Unterscheidung einzelner Teilprozesse: die Identifikation von Buchstaben, die Zu- ordnung von Buchstaben zu Lauten, die Verbindung von Lauten zu Wörtern und der Aufbau von Phrasen und Sätzen. Diese Prozesse können durch geeignete Umweltstimuli und Wieder- holung konditioniert werden. Diagnoseinstrumente und Trainingsprogramme ermöglichen die Steuerung des Kompetenzerwerbs von außen, die Lernenden spielen dabei keine aktive Rolle.

1966–1975: Natürliches Lernen.Durch Chomskys Theorie der angeborenen Grammatik - fähigkeiten verschiebt sich das Interesse von der Außensteuerung der Lernprozesse hin zu den universellen Regeln der Entfaltung sprachlicher Fähigkeiten. Erkenntnisse der funktio -

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na len Linguistik (etwa Halliday, 1973) zum frühen Spracherwerb werden auf die Schrift- sprache übertragen: Lernende erwerben Lese- und Schreibfähigkeiten quasi beiläufig und selbstgesteuert, wenn sie genügend schriftsprachliche Kommunikationsan gebote erhalten.

Die kommunikative Kraft und die Ästhetik des Lesens kommen nur in natürlichen, komplexen Handlungssituationen zur Wirkung. Gleichzeitig beginnen sich SoziolinguistInnen stärker für den alltäglichen Sprachgebrauch in unterschiedlichen sozialen Milieus zu interessieren.

Lernende werden als aktive Kommunikationspartner verstanden, die durch Nutzung unter- schiedlicher Informationsquellen aktiv Sinn kons truieren. Fehler (z.B. Verlesungen) sind keine Defizite, sie geben Hinweise auf subjektive Konstruktionsprozesse.

1976–1985: Lesen als Informationsverarbeitung.Die Kognitionspsychologie und mit ihr das Interesse an Strukturen und Prozessen des menschlichen Denkens sowie die theoretische und empirische Grundlagenforschung bestimmen die Lese- und Schreibforschung. Im Zen- trum steht das individuelle Denken, das Verstehen (und Verfassen) von Texten als Problem- lösen. Die interaktiven Prozesse zwischen wissens- und textbasierten Informationen werden untersucht. Kognitive Ressourcen wie Vorwissen, Gedächtnis und strategische Steuerung, aber auch Texteigenschaften wie Erzählstruktur (story grammar), Kohärenz oder Textsorten - merkmale werden als Faktoren des Leseverstehens erkannt. Die Schema-Theorie erklärt die Anlage und Ausdifferenzierung von Wissensbeständen bei NovizInnen und ExpertInnen.

Lernende müssen kognitive Strukturen und Prozesse aktiv aufbauen, sie können aber durch Vermittlung von Lese- und Schreibstrategien dabei unterstützt werden. Lesen und Schreiben rücken konzeptionell näher zusammen. Diese pointiert kognitionspsychologische, individua- listische Perspektive führt aber auch zu Gegenpositionen zugunsten des ästhetischen Lesens und Schreibens (Rosenblatt, 2004).

1986–1995: Soziokulturelles Lernen.Die Einsicht, dass Lese- und Schreibleistungen maß- geblich durch externe Faktoren wie soziale Herkunft, Unterrichtsbedingungen oder Medien - angebote beeinflusst werden, rückt die Kontexte sprachlichen Handelns und Lernens wieder stärker ins Zentrum. In ethnografischen Studien werden die alltagskulturellen Deutungs- und Handlungsmuster unterschiedlicher sozialer Gruppen und deren Passung mit schul - kulturellen Mustern untersucht. Mikroanalysen von Lehr-Lerninteraktionen erhellen die Komplexität von Ko-Konstruktions- und Positionierungsprozessen im Unterricht. Sozial- konstruktivistische Lernkonzepte (cognitive apprenticeship, scaffolding) eröffnen neue pädagogische Handlungsräume für die Anregung und Unterstützung von Erwerbsprozessen.

Die Schule ist eine soziale Institution mit spezifischen (nicht nur pädagogischen) gesell- schaftlichen Funktionen.

1996–20041: Engagiertes Lernen. Die rasant zunehmende Bedeutung neuer Medien (und da- mit auch neuer Text- und Nutzungsformen), aber auch die aufschlussreichen Ergebnisse der Motivationsforschung (zu Interessen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Selbstregulation und Engagement) rücken die Lernenden als motivierte und engagierte LeserInnen wieder

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stärker in den Vordergrund. Sie werden als aktive Wissenssammler (knowledge seekers) ver- standen, die Texte unterschiedlichster Art unter Hinzuziehung kognitiver und motivationa- ler Ressourcen gezielt nutzen. Sprache und Schrift werden vermehrt in Bezug zu anderen Zeichensystemen verstanden, die den NutzerInnen für unterschiedliche kommunikative Aufgaben zur Verfügung stehen und oft multimodal kombiniert werden. Lesekompetenz ist unter dieser Perspektive nicht mehr grundsätzlich von Medienkompetenz zu trennen, und ihre Entwicklung wird zu einem lebenslangen Prozess. Dieses Verständnis steht in scharfem Kontrast zum aktuellen, bildungspolitisch (nicht fachlich) motivierten Trend, Bildungssys- teme und Individuen möglichst rationell zu diagnostizieren und zu behandeln. Standards und Tests erfordern klare Operationalisierungen und begünstigen damit die wissenschaft- lich überholten Vorstellungen der Konditionierungs-Phase. Es besteht damit die Gefahr einer „Rekonditionierung“ (re-conditioning) der Leseforschung und -förderung (Alexander

& Fox, 2004, S. 54f).

Aus dieser Entwicklung lässt sich unschwer als erste Tendenz eine Pendelbewegung zwischen stärker psychologisch und stärker sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Perspektiven ablesen. Dieses Spannungsverhältnis scheint die Leseforschung zu energieren und in dialekti- scher Weise voranzutreiben, wobei die jeweils neuen Einsichten der verschiedenen Phasen inte- griert werden und so zu einer kontinuierlichen Ausdifferenzierung des Verständnisses von Lese- kompetenz und ihren Erwerbsbedingungen beitragen. Wie weit dies auch für die aktuelle Tendenz der „Rekonditionierung“ zutrifft, bleibt abzuwarten.

Eine zweite Tendenz betrifft die zunehmende Integration unterschiedlicher Zeichensysteme in übergreifende Modelle zeichenbezogener Kompetenzen und Kommunikationen und damit auch eine sich abzeichnende Konvergenz von Leseforschung und Medienpädagogik. In diesem Kontext erhält die vorliegende Expertise besondere Aktualität und Relevanz: Sie kann dazu beitragen, diese Entwicklung genauer zu beleuchten und ihre zukünftigen Potenziale begründet einzu- schätzen.

Theoretische Modelle der Lesekompetenz

Im Kontext der sich entwickelnden Leseforschung sind zahlreiche theoretische Modelle der Lese - kompetenz entstanden. Rudell und Unrau unterscheiden mehrere Wellen der Modellbildung (s. Ruddell & Unrau, 2004a, S. 1119ff): Bottom-up-Modelle, die Lesen als sequenzielles Entschlüsseln der Wort-, Satz- und Textbedeutungen aus Schriftinformationen verstehen; Top-down-Modelle, die das Wissen über Textmuster und die Nutzung des Hintergrundwissens fokussieren; interaktive Bottom-up/Top-down-Modelle, die davon ausgehen, dass text- und wissensbasierte Prozesse beim Lesen in komplexer Weise zusammenspielen, sowie Weiterentwicklungen solcher interaktiver Modelle, die zusätzlich den Aufbau stabiler (Offline-)Textrepräsentationen beschreiben oder den soziokulturellen Kontext als weitere Ressource der Sinnkonstruktion mit einbeziehen.

1 Alexander und Fox haben ihren Aufsatz 2004 publiziert, aus ihrer Perspektive reicht diese Phase also bis in die Gegenwart. Damit ist nicht gesagt, dass diese Phase im Jahr 2004 abgeschlossen sei.

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Die interaktiven Modelle bilden heute eine gemeinsame konzeptionelle Basis der kognitionspsy- chologischen Lesekompetenzforschung: Es besteht weitgehender Konsens darin, dass beim Le- sen kognitive Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen und unterschiedliche Wissensbestände in komplexer Weise miteinander interagieren, und dass Lesekompetenz nicht als klar abgrenzbares Konstrukt, sondern als ein Bündel unterschiedlicher text- und wissensbezogener Fähigkeiten zu verstehen ist (Richter & Christmann, 2002, S. 49). Dabei werden folgende Prozesse unterschie- den (zusammengefasst nach Schnotz & Dutke, 2004, S. 80ff):

Hierarchieniedrige Prozesse, die stärker textbasiert sind und eher automatisch ausgeführt werden:

• Bildung der Textoberflächenrepräsentation (Wahrnehmungsprozesse, Worterkennung)

• Konstruktion der propositionalen Textbasis (Bildung von Propositionen durch syntaktische Dekodierung, Herstellung lokaler Kohärenz)

Hierarchiehohe Prozesse, die stärker wissensbasiert sind und eher gezielt ausgeführt werden:

• Mentale Modellkonstruktion (Bildung globaler Kohärenz, Aufbau einer vom Text abstra- hierenden Struktur)

• Repräsentation der Kommunikationssituation und des Textgenres (situations- und genre- bezogene Leseziele, Lern- und Lesestrategien, Metakognition und Monitoring des Verste- hensprozesses).

Die Unterschiede zwischen den aktuellen Modellen kognitiver Lesekompetenzen sind gering. Sie betreffen einerseits den Einbezug von Wahrnehmungsprozessen (bei Schnotz & Dutke, 2004) und andererseits die etwas stärkere Akzentuierung von textbezogenen Tiefenstrukturen (bei Richter

& Christmann, 2002) bzw. situations- sowie handlungsbezogener Metakognition (bei Schnotz &

Dutke, 2004). Als zentrale Faktoren der interindividuellen Differenz von Lesekompetenzen nen- nen die AutorInnen übereinstimmend die Effizienz von Worterkennungsprozessen, die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie das inhaltliche Vorwissen (Richter & Christmann, 2002, S. 48;

Schnotz & Dutke, 2004, S. 81–85). Geringere Fähigkeiten auf der Ebene der hierarchieniedrigen Prozesse können durch eine intensivere Nutzung der hierarchiehohen Prozesse zumindest teil- weise kompensiert werden. Umgekehrt gilt dieser Zusammenhang allerdings nicht: Effiziente hierarchieniedrige Prozesse können zwar zusätzliche Kapazitäten für hierarchiehohe Prozesse freistellen, diese aber nicht ersetzen (Richter & Christmann, 2002, S. 48). Komplexe Fähigkeiten im Hinblick auf textgeleitetes und textbezogenes Problemlösen bilden deshalb den Kernbereich der kognitiven Lesekompetenz.

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Die bisher vorgestellten Modelle beschreiben Prozesse kompetenter LeserInnen. Daneben werden heute vermehrt sogenannte Vorläuferfähigkeiten untersucht. Im Hinblick auf hierarchieniedrige Prozesse ist die phonologische Bewusstheit von großer Bedeutung: Hier geht es um die Fähig- keit zur Identifikation von sprachlichen Einheiten der gesprochenen Sprache wie Wörter, Silben oder Phoneme (im letzten Fall wird spezifischer von phonemischer Bewusstheit gesprochen) (Schneider, 2004, S. 17; Ehri & Roberts, 2006 S. 118ff.). Für diese Teilkompetenz konnte ein deutlicher Zusammenhang mit den Leseleistungen in den ersten zwei Schuljahren gefunden werden, phonologische Bewusstheit gilt deshalb heute als wichtige Vorläuferfähigkeit des Lesens und wird z.T. mittels spezifischer Programme instruiert. Daneben spielen auch die frühe Buch - sta ben kenntnis und der Wortschatz für das Lesenlernen eine wichtige Rolle (Schneider, 2004, S. 18, Ehri & Roberts, 2006, S. 122ff, Lonigan, 2006, S. 85, Sénéchal et al., 2006, S. 180). Vor- läuferfähigkeiten hierarchiehoherProzesse wurden bisher weniger systematisch erforscht, es liegen aber Hinweise auf verschiedene frühe text- und handlungsbezogene Fähigkeiten vor. Dazu gehören das Wissen um kommunikative Funktionen und Muster textbezogener Handlungen (Scheerer-Neumann, 2003, Pätzold, 2005, Isler & Künzli, 2008), sprachliche Repräsentation dis- tanter, abstrakter oder imaginierter Sachverhalte (Andresen, 2004, Pätzold, 2005, Isler & Künzli, 2008), Nutzung von Versatzstücken aus (z.B. vorgelesenen) Texten in der mündlichen Kommu- nikation (Pätzold, 2005), Aufmerksamkeitsverschiebungen von der Mikro- zur Makroebene sprachlicher Äußerungen (Pätzold, 2005) und Thematisierung bzw. spielerische Veränderung von Sprache (Andresen, 2004).

Abschließend soll in gebotener Kürze auf einige Theorien eingegangen werden, die auf je unter - schiedliche Art die Beschränkung auf kognitive Aspekte überwinden:

Einbezug motivationaler Aspekte:Die erste PISA-Studie hat gezeigt, dass neben kognitiven Merkmalen auch die intrinsische Lesemotivation sowie das Leseselbstkonzept mit der Lese- leistung korrelieren (Möller & Schiefele, 2004, S. 118). Auch Guthrie et al. konnten in meh- reren Studien Zusammenhänge zwischen Lesemotivation, Lesemenge und Leseleistung (comprehension) nachweisen (Guthrie et al., 2004, S. 947). Es liegt deshalb nahe, die Beziehungen zwischen motivationalen und kognitiven Faktoren der Lesekompetenz auch theoretisch zu modellieren. Möller und Schiefele haben ein Modell entwickelt, das die Ein- flüsse der sozialen Umwelt auf das Individuum beschreibt. Konkret wirkt laut diesem Modell die Umwelt auf das Individuum durch dessen subjektive Interpretation der Leseumwelt. Die daraus resultierenden motivationalen Überzeugungen, Wert- und Erwartungshaltungen bilden die Basis für die Lesemotivation, aus denen sich Leseverhalten und -verstehen spei- sen. In diesem Modell bleiben die Kognitionen weitgehend unberücksichtigt (Möller &

Schiefele, 2004, S. 105). Mathewson modelliert den Einfluss von lesebezogenen Haltungen (Gefühlen, Werturteilen und Handlungsbereitschaft) auf die Leseintention, den Lesevor- gang und die daraus resultierenden kognitiven und emotionalen Erträge (die ihrerseits auf die lesebezogenen Haltungen und ggf. auch auf die ihnen zugrunde liegenden Werte, Ziele und Selbstkonzepte zurückwirken) (Mathewson, 2004, S. 1448). Die Adaption unterschied-

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licher Modelle der Lernmotivation (den Modellvergleich von Urhahne, 2008) auf das Lesen erscheint als ein vielversprechender Weg zur theoretischen Klärung der Lesemotivation. Da- neben sind in den theoretischen Arbeiten von Wigfield und Guthrie eindeutige Tendenzen zu erkennen, die Funktionalität von ex- und intrinsischen Lesemotivationen für das Lese- verstehen aus theoretischer und empirischer Sicht herauszuarbeiten (Wigfield, 1997; Guthrie

& Coddington, 2009).

Lesen (und Schreiben) als Transaktion:Rosenblatt postuliert ein radikal anderes Verständnis des Leseprozesses. Sie versteht den Text und den Leser bzw. die Leserin nicht als unabhän- gige Entitäten, sondern als Aspekte eines dynamischen (transaktionalen) Prozesses der Sinnkonstruktion (Rosenblatt, 2004, S. 1369): „ Reader and text are involved in a complex, nonlinear, recursive, self-correcting transaction. The arousal and fulfillment – or frustration and revision – of expectations contribute to the construction of a cumulative meaning“

(ebd. S. 1371). Dabei ist die Lesehaltung (the reader's stance) entscheidend: Sie wird durch das Verhältnis von öffentlichen und privaten Bedeutungsaspekten bestimmt und bewegt sich auf einem Kontinuum zwischen „efferent“ (zweckrational, ergebnisorientiert) und

„aesthetic“ (wahrnehmungsoffen, prozessorientiert). Ein solches Verständnis lässt sich theoretisch gut auf aktuelle Interaktionstheorien zurückführen und öffnet Zugänge zu per- sonalen, ästhetischen Lesehandlungen.

Einbezug des Unterrichtskontexts:Ruddell und Unrau versuchen mit ihrem Modell, das Wissen über psychologische und situativ-handlungsbezogene Aspekte des Lesens zu inte- grieren. Leserseitig unterscheiden sie zwischen affektiven und kognitiven Voraussetzungen, dem Vollzug der Lesehandlung, der dabei entstehenden mentalen Textrepräsentation und den Monitoring- und Steuerprozessen. Lehrerseitig sind dieselben Modellkomponenten nicht auf den zu lesenden Text, sondern auf den anzuleitenden Lehr-Lernprozess ausgerichtet, und es entsteht entsprechend eine mentale Repräsentation des Unterrichtsgeschehens. Diese Elemente interagieren im Kontext des Unterrichtssettings von Text, Aufgabenstellung, Rollen und soziokulturellem Wissen. Die Autoren beanspruchen nicht, mit diesem Modell eine exakte theoretische Modellierung zu leisten, sondern wollen die Komplexität des Lesens im Unter- richtskontext ausschildern (s. Ruddell & Unrau, 2004b, S. 1465).

Entwicklung der Lesekompetenz

Die theoretischen und empirischen Grundlagen für die Modellierung von Erwerbsverläufen des Lesens sind uneinheitlich. Während der Erwerb von hierarchieniedrigen Lesekompetenzen ins- besondere in den frühen Phasen (der Alphabetisierung im engeren Sinn) gut dokumentiert ist, ist das Wissen über spätere Erwerbsphasen hierarchieniedriger und insbesondere den Erwerb hierarchiehoher Kompetenzen nur punktuell vorhanden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll und möglich sei, den Entwicklungsverlauf eines so viel - dimen sionalen Fähigkeitenkomplexes (Richter & Christmann, 2002, S. 48) in Entwicklungs- schritten zu beschreiben. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Darstellung der Entwicklung

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hierarchieniedriger Prozesse und einige Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen der hierarchie - niedrigen und der hierarchiehohen Ebene.

Für die Modellierung der Entwicklung hierarchieniedriger Prozessespielt die von Frith 1985 und 1986 publizierte Konzeption eine zentrale Rolle: Sie wurde von verschiedenen anderen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt (Günther, 1995, S. 99; Scheerer-Neumann, 2003, S. 516). Frith hat ein sechsstufiges Modell vorgestellt, bei dem die Lese- und Schreibentwicklungen stark und systematisch interagieren und den Schriftspracherwerb alternierend vorantreiben (Scheerer- Neumann, 2003, S. 517). Diese enge Verzahnung von Lesen- und Schreibenlernen wird heute allerdings problematisiert (Becker, 2008, S. 87f). Was die Leseentwicklung betrifft, besteht zurzeit weitgehender Konsens. Sie verläuft in fünf bis sieben Phasen, die von verschiedenen Autor In nen zwar leicht unterschiedlich beschrieben und abgegrenzt werden, aber grundsätzlich sehr gut kompatibel sind. Die folgende zusammenfassende Darstellung stützt sich auf Ehri und McCormick (2004), Scheerer-Neumann (2003) sowie Niedermann und Sassenroth (2002):

1. Präliteral-symbolische Phase (Symbole erkennen, Umgang mit Bilderbüchern, erste Konzepte von Schrift)

2. Voralphabetische Phase (Erkennen von vertrauten Emblemen und Sichtwörtern anhand einzelner Merkmale unter starker Nutzung der Kontextinformationen)

3. Teilalphabetische Phase (zunehmende Orientierung an Buchstaben, Kenntnis einzelner Grapheme und Laut-Buchstabenzuordnungen)

4. Vollalphabetische Phase (Kenntnis aller wichtigen Laut-Buchstabenzuordnungen, Erlesen unbekannter Wörter, Kontextinformationen werden eher gemieden) 5. Konsolidierte alphabetische Phase (Erkennung und Verarbeitung von Buchstaben -

gruppen, zunehmender Sichtwortschatz)

6. Automatische Phase (schnelle, mühelose, sichere Worterkennung, großer Sichtwort- schatz, Leseverständnis im Zentrum der Aufmerksamkeit)

Der frühe Erwerb hierarchieniedriger Lesekompetenzen scheint theoretisch weitgehend geklärt zu sein. Mit dem Konzept der Leseflüssigkeit (fluency)liegt außerdem ein Ansatz vor, der eine Weiterentwicklung von Lesefertigkeiten in Richtung automatisiert ablaufender Verarbeitungs- prozesse auf der lokalen Ebene zu modellieren erlaubt. Grundlage dieses Konzepts ist die Automa tisierungstheorie von Samuels (2006, S. 34ff). Gemäß dieser Theorie unterscheiden sich ungeübte und geübte LeserInnen u.a. darin, dass Erstere beim Lesen mehr Kapazität des Arbeits - gedächtnisses für hierarchieniedrige Prozesse (Dekodieren) einsetzen müssen und deshalb weni ger Kapazitäten für hierarchiehohe Prozesse (globales Textverständnis und Monitoring) zur

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Verfü gung haben. Diese Theorie erklärt, warum automatisierte Wort- und Satzerkennungspro- zesse den Aufbau eines Textmodells zwar nicht ermöglichen, aber begünstigen, und weshalb gute LeserInnen durch eine intensive Lesepraxis ihre hierarchiehohen Fähigkeiten besser weiterent- wickeln können als schwache. Leseflüssigkeit wird dabei als Fähigkeit definiert, gleichzeitig zu dekodieren und zu verstehen, wobei diese Fähigkeit immer von situativen Bedingungen wie Lesbar - keit des Texts oder Thema beeinflusst wird. Leseflüssigkeit kann anhand von Tempo, Korrektheit und prosodischer Phrasierung beim Lautlesen eingeschätzt werden, diese Maße sind aber nur Indi - katoren für den Automatisierungsgrad von Dekodierprozessen und nicht als eigene Kompetenzen zu verstehen (Samuels, 2006, S. 39). Rosebrock und Nix haben dieses in der Deutschdidaktik lange kaum beachtete Konzept aufgearbeitet und für den Unterricht zugänglich gemacht (Rosebrock &

Nix, 2006, S. 90ff). Empirische Ergebnisse zeigen auch in Deutschland ermutigende Effekte ins- besondere von Lautleseverfahren (Rosebrock et al., 2010), die sich außerdem gut einordnen in den entsprechenden angelsächsischen Diskurs (Yang, 2006).

Zur Entwicklung des Textverstehensliegen bisher kaum verlässliche Kenntnisse vor. Auch in den Handbüchern der internationalen Leseforschung (Theoretical Models and Processes of Reading, Handbook of Reading Research)finden sich keine längerfristigen Entwicklungsmodelle. Die em- pirisch entwickelten Niveaubeschreibungen der großen Leseleistungsstudien (PIRLS/IGLU, PISA, Element, DESI) können diese Lücke nicht füllen, sie wurden a posteriori (beim Interpretieren der Daten, genauer: beim Erklären von Aufgabenschwierigkeiten) erarbeitet (Bos et al., 2007, S. 94f).

Außerdem wurden in diesen Surveys (mit Ausnahme von DESI) keine längsschnittlichen Daten er- hoben, die Aussagen über Entwicklungsverläufe von Individuen erlauben würden. Wir verzichten deshalb hier auf eine Darstellung der Niveaubeschreibungen (die den Erhebungen zugrunde lie- genden kognitiven Kompetenzmodelle sind mit den bereits dargestellten identisch oder weitge- hend kompatibel).

Zu den Wechselwirkungenhierarchieniedriger und -hoher Kognitionen im Entwicklungsverlauf fehlen bislang gesicherte Modelle, es liegen aber verschiedene interessante empirische Befunde vor: Worterkennung und Textverstehen entwickeln sich zwischen Kindergarten und 2./3. Klasse relativ unabhängig (Whitehurst & Lonigan, 2001, S. 18). In der 1. Klasse korreliert phonologische Bewusstheit noch höher mit der Leseleistung als mündliche Sprachfähigkeiten; in der 3. Klasse aber verliert sie ihre Vorhersagekraft, während der Zusammenhang von Leseleistung und Sprach- fähigkeiten weiter zunimmt (Schneider, 2004, S. 30; Leseman & van Tuijl, 2006). Diese Hinweise stützen die Annahme, dass die Entwicklung des Textverstehens bereits in der frühen Kindheit einsetzt und sich parallel zum Schriftspracherwerb weiter fortsetzt. Im Hinblick auf die Leseför- derung ist deshalb vor einer Vernachlässigung hierarchiehoher Prozesse im Vor- und Grund- schulalter dringend zu warnen.

Didaktische Modelle der Lesekompetenz

Die Modelle der Grundlagenforschung sind eine wichtige Basis für die Förderung von Lesekompe - tenzen. Daneben sind auch die durch langfristige Erfahrungsbildung, Diskussion und Weiterent-

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wicklung gesicherten Konzepte der Lese- und Literaturdidaktik zu berücksichtigen: In diesem Feld wurde über Jahrzehnte ein Wissensbestand aufgebaut, der durch die Ergebnisse der empi- rischen Forschung nicht ersetzt, sondern weiter entwickelt werden sollte. Deshalb schließen wir dieses Unterkapitel mit der Darstellung von zwei Konzeptionen ab, die – aus unterschiedlichen Perspektiven – Lesekompetenz im Hinblick auf Leseförderung beschreiben:

Einbettung kognitiver Kompetenzen in personale und soziale Bedingungen. In der aktuellen Lesedidaktik sind zwei Modelle sehr einflussreich, die neben kognitiven Kompetenzen auch personale und soziale Bedingungen des Lesens berücksichtigen. Hurrelmann unterscheidet drei Dimensionen von Lesekompetenz: 1. Kognitionen (hier übernimmt sie das oben darge- stellte Verständnis von Richter und Christmann (2002) bzw. Schnotz und Dutke (2004)), 2. Motivationen und Emotionen (im Sinne von lesebezogenen Bereitschaften und Energie- rungen) sowie 3. Reflexionen und Anschlusskommunikationen von bzw. über Verstehens- prozesse/n, Texte/n und Lektüreerfahrungen (Hurrelmann, 2002a, S. 277ff). Rosebrock und Nix (2008) folgen in ihrem didaktischen, umsetzungsorientierten Modell dieser Strukturie- rung weitgehend: Die Prozessebene umfasst dieselben lesebezogenen Kognitionen, die Subjektebene weitere personale Ressourcen (neben Motivation und Beteiligung auch Weltwissen und Reflexionen; Rosebrock und Nix betonen hier auch die milieuspezifische lerngeschichtliche Prägung dieser Merkmale), die soziale Ebene schließlich verweist auf verschiedene Sozialisationsinstanzen als Rahmen je spezifischer lesebezogener Anschluss- kommunikationen (Rosebrock & Nix, 2008, S. 17ff). Die beiden Modelle unterscheiden sich marginal, indem Hurrelmann alle drei Dimensionen konsequent auf individuelle (kognitive, sozialemotionale und soziale) Fähigkeiten bezieht, während Rosebrock und Nix die Perfor- manz des Leseaktes, die dazu benötigten nicht lesebezogenen individuellen Ressourcen (dar- unter auch weitere Kognitionen) und die Handlungs- und Sozialisationskontexte akzen tuieren.

Ausdifferenzierung hierarchiehoher (auch kognitionsübergreifender) Kompetenzen um ästhe- tische Aspekte. Auch Spinner schließt an den bereits mehrfach erwähnten kognitionspsy- chologischen Lesekompetenzbegriff an, erweitert ihn aber im Hinblick auf den Umgang mit literarischen Texten um sieben weitere Teilkompetenzen: 1. die Fähigkeit, beim Lesen Vor- stellungen zu entwickeln (Imagination), 2. die Fähigkeit, die Gefühle und Einstellungen von Figuren empathisch nachzuvollziehen (Alterität), 3. die subjektive Beteiligung beim Lesen, 4. die Sensibilität für sinnliche Sprachqualitäten, 5. das Wissen über literarische Textsorten, 6. das Verständnis von literarischen Symbolen und Bildern und 7. die Fähigkeit und Bereit- schaft, subjektive Lektüreerfahrungen im Gespräch auszudrücken und zu verstehen (Spinner, 2006, S. 9ff; Anordnung und Nummerierung durch die AutorInnen). Diese Teilkompetenzen lassen sich weiter in folgende Gruppen zusammenschließen: Erschließung imaginierter Welt (als eines eigenen referentiellen Raums), Selbstwahrnehmungen und -reflexionen während des Lesens, literaturspezifisches Wissen und Anschlusskommunikationen. Damit können Spinners Teilkompetenzen durchaus auf die Prozesse, Dimensionen und Ebenen der oben referierten Modelle bezogen werden und leisten dabei substanzielle – normativ fundierte –

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Differenzierungen. Spinners Konzeption schließt zudem an das Transaktionsmodell von Rosenblatt (2004) an, indem sie das Ereignis eines singulären, vieldimensionalen Verste- hens durch die Interaktion von Subjekt und Text stärker als die übrigen Modelle akzentuiert.

Auf die hier vorgestellten didaktischen Modelle wird im Kapitel 6 im Zusammenhang mit der Förderung von Lesekompetenzen wieder Bezug genommen.

Fazit und Ordnungsstruktur

Wie angekündigt werden die Ausführungen zum Thema Lesekompetenz nun mit Hilfe der in Kapi tel 3 entwickelten Ordnungsstruktur gebündelt und den drei Bereichen „individuelle Dispositionen“,

„situatives Handeln“ und „Reflexionen“ zugeordnet. Die geschieht entlang der folgenden Leit- frage: Wie werden die Bereiche der Ordnungsstruktur durch die hier referierten Lesekompetenz- modelle abgedeckt?

Individuelle Dispositionen

• Hierarchieniedrige Kognitionen (Textoberflä- chenrepräsentation, lokale Kohärenzbildung)

• Hierarchiehohe Kognitionen (globale Kohä- renzherstellung, Bildung von Superstrukturen)

• Handlungswissen (sinnvoller Umgang mit (Bilder-) Büchern, Zeichengebrauch, Funktio- nen der Schriftverwendung, kommunikative Funktionen und Handlungsmuster, Gebrauch schriftsprachlicher Versatzstücke)

• Nicht lesebezogene Ressourcen (Arbeitsge- dächtnis, inhaltliches Vorwissen/Weltwissen, Repräsentation distanter Sachverhalte, Imagination, Empathie)

• Einstellungen (motivationale Überzeugungen, Wert-/Erwartungshaltungen, Leseselbstkonzept)

Situatives Handeln

•Repräsentation der Kommunikationssituation

•Ziele, Motivationen (Leseerwartungen und Leseziele, aktuelle Lesemotivation)

•Handlungsvollzug (subjektive Beteiligung, aktuelles Leseverhalten, (transaktionale) Sinnkonstruktion, Interaktion mit Text, kulturelles Wissen, Wahrnehmung sinnlicher Sprachqualitäten)

Reflexionen

•Metakognition (Monitoring und Steuerprozes- se, Selbstwahrnehmungen und reflexionen)

•Bewertung des Leseverhaltens

•Medienreflexion (Thematisierung von Sprache, Vorstellungen von Schrift)

•Kommunikationen (Ausdruck und Verstehen subjektiver Lektüreerfahrungen, Anschluss- kommunikationen)

Tabelle 2: Ordnungsstruktur mit Dimensionen von Lesekompetenz

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In den drei Feldern finden sich die Kompetenzdimensionen wieder, die sich aus den verschiede- nen Traditionen der Leseforschung entwickelt und als unterschiedlich (auf kognitive, motivatio- nale, kommunikative, kontextbezogene und selbstreflexive Dimensionen) fokussierte Modelle ausdifferenziert haben. Deren Zusammenspiel wird in neueren Konzeptualisierungen des Lese- verstehens stark betont und ist für die Förderung der Lesekompetenz essenziell. Während die Modelle zur Struktur von Lesekompetenz sowie zur Entwicklung hierarchieniedriger Kognitionen empirisch und theoretisch gut abgesichert sind, liegen für die übrigen lesebezogenen Aspekte (darunter auch die Entwicklung hierarchiehoher Kognitionen) erst punktuelle empirische Hin- weise vor.

4.2 Medienkompetenz

Dieses Unterkapitel beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Medienpädago- gik. Anschließend werden eine allgemeine Definition und vier unterschiedliche Konzeptionen von Medienkompetenz mit ihren Teildimensionen vorgestellt. Diese Konzeptionen werden dann auf einem höheren Abstraktionsniveau vergleichend systematisiert und schließlich in die Ord- nungsstruktur überführt, die in Kapitel 3 entwickelt wurde.

Geschichtlicher Kontext des Medienkompetenzbegriffs

Der Begriff der „Medienkompetenz“ und seine differenzierte Auslegung ist in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Baacke eingeführt worden. Im historischen Rückblick sind bereits zuvor pädagogische Bemühungen in dieser Richtung erkennbar. Sie lassen sich jedoch weit über wiegend als bewahrpädagogische Ansätze klassifizieren. Zum Aufkommen (fast) jedes neuen Mediums entwickelten sich deutliche kritische Strömungen, die vor den „schädigenden Wirkungen“

des neuen Mediums warnten. Die Heranwachsenden sollten jeweils vor den mit den Medien ver- bundenen Gefährdungen geschützt und ihnen sollte ein Schonraum eingeräumt werden (Hoff- mann, 2008, S. 42). Lediglich die auditiven Medien, wie z.B. das Radio, lösten weniger Besorgnis aus. Besonders den visuellen und audiovisuellen Medien wurde eine schädigende Wirkung unter- stellt. Für die pädagogischen Bemühungen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg verwendet Tulod- ziecki den Begriff der „behütend-pflegende[n] Medienerziehung“ (Tulodziecki, 1989, S. 36). Sie besteht aus zwei miteinander verbundenen Dimensionen. Die erste möchte Kinder durch das Fernhalten von Medien vor schlechten Einflüssen bewahren und behüten. Hierfür werden gesetz - liche Regelungen erlassen und Medienkontroll- und Begutachtungsorgane wie z.B. die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) eingeführt. Die zweite Dimension möchte Heranwach- sende durch qualitativ hochwertige Medienprodukte und an die Rezeption anschließende Gespräche zu einem „guten“ Medienumgang erziehen. Hierfür werden die Produkte zuvor von Erwachsenen auf ihre Qualität hin überprüft. In der späteren Entwicklung der Medienpädagogik blieb der Schutzgedanke zwar auch weiterhin erhalten, trat jedoch im kritischen Aufbruch der 1960er Jahre in den Hintergrund (Hoffmann, 2008, S. 46). Die Erkenntnisse der Medienwir- kungsforschung, die keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge hervorbrachten, und

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