Zum Verhältnis der Wissenschaften Mathematik und Didaktik des
Mathematikunterrichts
Hans‐Dieter Sill, Universität Rostock
Gliederung
1. Phänomene 2. Ursachen
3. Konsequenzen
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Phänomene
• Studenten, Lehrer und Didaktiker mögen die Mathematik.
• Abschlussklausur zur Lehrveranstaltung Analysis I für das Lehramt an Haupt- und Realschulen: Aufgaben
• Auffassungen zur Schulbezogenheit:
– Den Studenten muss genau gezeigt werden, warum man mit reellen Zahlen rechnen kann. (Hauptbeispiel Prof. für Analysis) – Ich weigere mich, an der Uni noch einmal den Schulstoff
durchzunehmen. (fast alle Professoren)
– "In der Geometrievorlesung im 5. Semester habe ich zum ersten Mal das Wort 'Schule' gehört" (ein Gy-Lehrerstudent)
• Einstellungen zu Studienanfängern:
– "Mathematische Vorkenntnisse aus der Schule sind nützlich, aber nicht wirklich wichtig.“ (Prof. für Algebra)
– Die Studenten haben unzureichende Schulkenntnisse und sind nicht bereit, sich wirklich anzustrengen. (Prof. für Analysis)
Phänomene
• Auffassungen zum Lernen:
– Analysis I und II (Ba und Gy): 6 SWS Vorl., 2 SWS Übung – Zur Angabe der Ziele einer Lehrveranstaltung reicht es aus,
die fachlichen Inhalte anzugeben.
– Lernen heißt, in der Vorlesung gut zuhören, sich alles
einzuprägen und möglichst selbst die Übungsaufgaben lösen.
– Die Übungsaufgaben müssen schwer sein.
– Man kann in kurzer Zeit viel lernen: Bsp.: Lineare Algebra I
• Auffassungen zur Didaktik:
Mathematikunterricht ist im Wesentlichen eine „didaktische Vereinfachung“ der Mathematik.
Für guten Unterricht ist die erfolgreiche Absolvierung der Fachausbildung sowie pädagogische Geschick und
Fähigkeiten zur Motivierung der Schüler hinreichend.
Die Didaktik ist keine eigenständige Wissenschaft.
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Resultate
• Hohe Abbruchquoten in den ersten Semestern ohne
Reflexion der eigenen Arbeit, Bsp.: Abschlussklausur zur Analysis I für Haupt- und Realschullehrer: von 77
Studienanfängern haben 64 teilgenommen: Ergebnisse
• Es finden meist unvollständige Lernprozesse statt.
Bsp.: 1. Übungsserie Lineare Algebra
• Es wird oft gegen grundlegende pädagogische und didaktische Prinzipien verstoßen, z.B. gegen folgende
– Die Lernenden müssen dort abgeholt werden, wo sie sich befinden, man muss an ihre kognitive Struktur anknüpfen.
– Die Anforderungen müssen schrittweise gesteigert werden.
– Die Leistungserhebungen müssen transparent sein.
• Die Lehre besteht primär aus Vorträgen des Lehrenden.
• Es findet meist eine hauptsächliche Orientierung an den
Inhalten und ihrer "didaktischen" Aufbereitung statt.
Ursachen
1. Die Mathematik und der Mathematikunterricht sind grundlegend verschieden:
Die Mathematik ist ein theoretisches System im Kopf von Mathematikern, der Mathematikunterricht ist ein Prozess der Entwicklung psychischer Eigenschaften im Kopf von Lernenden.
2. Die Gegenstände der Wissenschaften sind grundlegend verschieden.
– Gegenstand der Mathematik: abstrakte Zeichensysteme – Gegenstände der Didaktik des Mathematikunterrichts:
A: Funktionen, Ziele und Stoffe des Mathematikunterrichts (Ziel- und Stoffdidaktik)
B: Unterrichtsmittel und Unterrichtsmethoden des
Mathematikunterrichts (Mittel- und Methodendidaktik) C: Alle lokalen und globalen psychischen Entwicklungs-
prozesse mathematischer Leistungs- und damit
verbundenen Verhaltenseigenschaften bei Lernenden in
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Ursachen
3. Die Denk- und Arbeitsweisen in beiden Wissenschaften sind grundlegend verschieden.
in der Mathematik:
vorwiegend analytisch, axiomatisch, deduktiv, vollständig
Begriffe durch Definitionen festgelegt, Beweisbarkeit fast aller Aussagen, sehr konzentrierte Darstellungen möglich
in der Didaktik des Mathematikunterrichts:
vorwiegend synthetisch, reduktiv, beispielhaft
Begriffe als Wechselverhältnis inhaltlicher und formaler Aspekte, kaum allgemeingültige Zusammenhänge, Erörterungen nötig
4. Die Wissenschaften werden von unterschiedlichen Personengruppen genutzt.
Mathematische Erkenntnisse werden von Mathematikern, vielen weiteren Wissenschaftler und Mathematiklehrern benötigt.
Die Didaktik des Mathematikunterrichts ist die Berufswissen- schaft von Mathematiklehrkräften.
Konsequenzen und Vorschläge
• Alle Hochschullehrer sind auch Lehrer und brauchen eine grundlegende pädagogisch-fachdidaktische Ausbildung.
• Die Fachdidaktiker müssen als Experten für das Lehren und Lernen von Mathematik akzeptiert werden.
• Es sollte eine klare Abgrenzung der beiden Wissenschaften bei gegenseitige Akzeptanz der spezifischen Kompetenzen erfolgen.
• Zur Betonung der Spezifik der beiden Wissenschaften und Vermeidung von Missverständnissen sollte anstelle von
"Didaktik der Mathematik" die Bezeichnung
"Didaktik des Mathematikunterrichts" verwendet werden.
• Es sollte die Gründung einer "Gesellschaft für Didaktik und Methodik des Mathematikunterrichts in
Deutschland" erfolgen, die Didaktiker, weitere Lehrerbildner
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