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Archiv "Deutsches Gesundheitswesen: Gut für die gesunden Kranken" (06.06.2008)

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A1276 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 236. Juni 2008

A

m besten funktioniert das deutsche Gesundheitswesen für die gesunden Kranken. Also für die Menschen, die eine oder auch zwei klar definierte Krankheiten ha- ben und gesund genug sind, die Vielzahl der dafür zuständigen Ärz- te aufzusuchen. Menschen, die an Diabetes leiden, hohen Blutdruck haben oder denen eine Nieren- schwäche droht, können einen Ser- vice auf hohem Niveau genießen. Es gibt genug Fachärzte, die eine um- fassende und regelmäßige Diagnos- tik betreiben können, sie können ohne Einschränkungen die neues- ten Medikamente bekommen; und wenn einmal eine ernste Komplika- tion eintritt: Der Notarzt ist nach wenigen Minuten zur Stelle, das nächste Krankenhaus hat ein Bett frei und versorgt die sich verstop- fenden Herzkranzarterien mit einem Stent neuester Bauart. Die Ärzte mögen überarbeitet sein, sie sind aber bestens qualifiziert, eine mo- derne Medizin zu garantieren.

Das war in Norwegen anders:

Der nächste Diabetologe hatte erst in vielen Monaten Termine frei, der

Notarzt war ich, und das Kranken- haus hatte Platz für neue Betten nur noch auf dem Korridor. Neue, noch wenig gut dokumentierte Medika- mente durften nur mit Zustimmung eines Facharztes auf Kosten der Krankenkasse verschrieben werden.

Und Menschen, die eine vorüberge- hende Krankheit hatten, wie eine Halsentzündung, mussten ihre Me- dikamente ganz aus der eigenen Ta- sche bezahlen.

Acht Minuten für ein Gespräch Das norwegische Gesundheitswesen funktioniert am besten für die kran- ken Gesunden – für die Menschen al- so, die Angst haben, Darmkrebs zu bekommen, deren Darm in den letz- ten Jahren aber schon zweimal ge- spiegelt wurde. Menschen, die jeden Laut des komplexen Körpers verstär- ken und in ein bedrohliches Konzert umdeuten. Für diese Menschen ist das deutsche Gesundheitswesen le- bensgefährlich. Der Hausarzt weiß sich beim vierten Besuch im Laufe weniger Wochen nicht anders zu hel- fen, als doch noch mal zum Röntgen, zur Szintigrafie und zum Gastroen-

terologen zu überweisen. Und ir- gendwann finden diese Fachleute auch etwas, das im nächsten Quartal kontrolliert werden muss. Im schlimmsten Fall findet man nichts mit den modernsten Geräten, dann findet sich sicher ein anderer Arzt, dem etwas Neues einfällt – eine Pilz- infektion als Ursache oder eine ge- störte Energiebalance.

In Norwegen hat der Hausarzt Zeit innezuhalten, gemeinsam mit dem Patienten zu erforschen, was der Körper erzählen will. Vielleicht will er ja auch gar nichts erzählen und einfach in Ruhe gelassen wer- den. Dann muss sich der Mensch wichtigeren Dingen zuwenden – nur was ist, wenn es die nicht gibt? Aber auch das kann ein wichtiges Thema im Gespräch zwischen Arzt und Pa- tient sein. In Deutschland dauert dieses Gespräch durchschnittlich knapp acht Minuten. In Norwegen war ich erschöpft, wenn ich mit 25 Menschen im Laufe eines Tages gesprochen habe. In meiner deut- schen Hausarztpraxis sitzen an den schlimmen Tagen mehr als 50 Men- schen vor meinem Schreibtisch. Da DEUTSCHES GESUNDHEITSWESEN

Gut für die gesunden Kranken

Betrachtungen eines Allgemeinarztes nach der Rückkehr aus Norwegen Harald Kamps

Foto:

laif

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wird es schwierig, Energie zu mobi- lisieren für die schwierigen Ge- spräche. Seit ein paar Wochen macht dann auch noch eine neue Gebührenordnung den letzten Rest meiner Motivation kaputt, wenn sie mir beibringt, dass das 2-Minuten- Gespräch genauso viel Geld ein- bringt wie das 20-Minuten-Gespräch.

Gesund auf der Hausarztliste Ähnlich verhält sich es sich mit den gesunden Gesunden. Denen geht es in Norwegen gut. Sie haben einen Hausarzt. Zumindest wissen sie um einen, denn sie haben sich einen aus- gewählt und stehen auf seiner Liste.

Wenn sie gesund bleiben oder nur einmal zwischendurch eine Halsent- zündung bekommen, dann treffen sie ihn höchstens im Supermarkt. Der Arzt freut sich über die gesunden Gesunden, die nie in die Praxis kommen. Mit 1 500 solcher Gesun- den auf seiner Liste kann er sicher sein, dass seine Praxisunkosten be- glichen sind, bekommt er doch für jeden ein Honorar – für seine Bereit- schaft, Arzt zu sein für diesen Men- schen. Der Arzt kann sich seine Arbeitsbelastung wählen. Manche muten sich nur 1 500 Menschen auf ihrer Liste zu, andere 2 500 Men- schen. Mehr mutet die Krankenkasse niemanden zu, da übermüdete Ärzte schlechte Ärzte sind. Da wird eher eine neue Stelle freigegeben.

In Deutschland müssen die ge- sunden Gesunden, die doch mal krank werden, oft zehn Ärzte anru- fen, um einen zu finden, der sein volles Wartezimmer für noch einen Kranken öffnet. Oder man fährt gleich in die Rettungsstelle des Krankenhauses, wartet dort hoch- fieberhaft viele Stunden auf einen Arzt, der sich besser mit dem Kran- kenhaus und seinen Möglichkeiten auskennt als mit den banalen Krank- heiten da draußen. Da wird schnell mal eine Blutuntersuchung oder ein Röntgenbild zu viel gemacht – so zur Sicherheit.

Die gesundheitsbewussten gesun- den Gesunden gehen alle zwei Jahre zum Check-up und sichern sich so einen Hausarzt, der dann auch im Krankheitsfall ihr Arzt sein kann.

Sie erkaufen sich das mit einem Ein- griff in ihre Lebenswelt, der ihnen

ungewollt neue Krankheiten be- scheren kann, um die sie nicht ge- beten haben – zum Beispiel zu hohe Cholesterinwerte im Blut. Ab dann wird jeder genussvolle Biss in einen Camembert ein nagender Biss ins Gewissen. Bisher hat niemand auf der Welt den Nutzen dieser Gesund- heitsuntersuchung wissenschaftlich nachgewiesen. Sie sichert nur dem Arzt ein paar willkommene Einkom- menspunkte, dem gesunden Gesun- den einen Arzt und dem kranken Ge- sunden vielleicht eine Krankheit, die dem Apotheker ein regelmäßiges Rezept einbringt, aber dem Gesun- den keinen zusätzlichen Lebens- monat. Rausgeworfenes Geld also.

Mittlerweile haben kluge All- gemeinmediziner der Universitäten Marburg und Düsseldorf ein Bera- tungsprogramm (Arriba) entwickelt,

das anschaulich klar macht, dass hohe Cholesterinwerte oder hoher Blutdruck keine Krankheiten sind, sondern Risikofaktoren, die nur im Zusammenhang mit dem Alter des Menschen, seinen Lebensgewohn- heiten und seiner Familiengeschich- te aussagefähig sind. Diese Bera- tung verhindert, dass aus gesunden Gesunden mit einem Risikofaktor (Risikanten) Patienten werden.

Gefährlicher ist dieses Gesund- heitswesen für die gesunden Frauen, die sich bereits ab dem 20. Lebens- jahr einer Früherkennungsuntersu-

chung unterwerfen, die nachweis- lich erst ab dem 25. Lebensjahr ei- nen kleinen Gewinn bringt, und die mit Vorteil sehr viel seltener an- geboten werden sollte. Im besten Fall bildet nämlich der Körper Vor- stufen zu einer Krebserkrankung des Gebärmutterhalses selbstständig zurück – regelmäßig bei den ganz jungen Frauen und oft auch bei den älteren. Im schlimmsten Fall findet der übereifrige Arzt dann Verände- rungen, die aufwendig behandelt werden und dann der Frau vermit- teln, dass der Arzt wieder einmal ein Leben gerettet hat. Im aller- schlimmsten Fall entwickelt sich der Krebs ungehindert weiter, weil die Frau es leid ist, immer wieder zum Arzt zu gehen – „30 Jahre ist ja nichts passiert“.

In Norwegen ist das Rezept für die Antibabypille zwei Jahre gültig. In Deutschland müssen die gesunden jungen Frauen viermal im Jahr zum Arzt und sich zu oft einer über- flüssigen Untersuchung unter-

ziehen.

Ein gutes Gesundheits- wesen beweist sich im Umgang mit den kran- ken Kranken. „Zeige mir, wie du mit den Sterbenden umgehst, und ich sage dir, wer du bist.“ In Deutsch- land sterben 80 Pro- zent aller Menschen im Krankenhaus, in Nor- wegen etwa 20 Prozent.

In Norwegen wurden alle Fachleute im Gesundheits- wesen, von der Hilfsschwes- ter im Pflegeheim bis zum Chef- arzt der onkologischen Abteilung, in den vergangenen 15 Jahren in den internationalen Standards der lin- dernden Medizin geschult – ohne Zertifikate und teure Ausbildungen, eher über eine kontinuierliche Dis- kussion um die Möglichkeiten, das Sterben für alle Beteiligten erträg- lich zu machen. Um auch die Hausärzte zusätzlich zu motivieren, wird der Hausbesuch bei einem Sterbenden deutlich besser bezahlt.

Und Angehörige können sich vier Wochen krankschreiben lassen, oh- ne dass dies den Arbeitgeber Geld kostet. In Norwegen heißt es auch

Foto: Photothek

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nicht „palliative Medizin“, sondern

„Fürsorge am Ende des Lebens“.

Diese Fürsorge ist nicht perfekt, aber sie ist deutlich besser als noch vor 15 Jahren. In Deutschland muss alles gleich so perfekt wie möglich sein: Mit neuen palliativen Spezialis- tenteams, mit mehrwöchigen Kur- sen für die Ärzte. Ohne die Chance auf eine flächendeckende Versor- gung aller sterbenden Menschen.

Das Lebensende wird im deut- schen hyperaktiven Gesundheitswe- sen ausgeblendet. Hier werden Krankheiten behandelt, unabhängig vom Alter, fast – möchte man mei- nen – unabhängig von den Men- schen, die sie haben. Das Persönli- che der kranken Kranken bleibt auf der Strecke, die persönlichen Sorgen und Lebensziele verbleiben im Dun- keln. Nicht alle Menschen wollen um jeden Preis ein paar Jahre länger leben, andere würden alles über sich ergehen lassen, um noch ein paar Monate Lebenszeit zu gewinnen.

Viele deutsche Universitäten versa- gen hier, wenn sie den angehenden Ärzten kaum Kompetenz vermitteln, wie sie solche schwierigen Ge- spräche zur gemeinsamen Entschei- dungsfindung führen sollen. Im hek- tischen Krankenhausalltag ist es dann für ein Umdenken zu spät.

Hausaufgaben nicht gemacht Und wenn der kranke Kranke es ge- schafft haben sollte, zum Facharzt zu kommen, dann entdeckt er, dass im Wartezimmer viele gesunde Kranke sitzen, die verhindern, dass der Facharzt ihn mit seiner ganzen Kompetenz behandeln kann. Die Hausärzte haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht – nämlich zu ent- scheiden, wer dringend weiterge- hender Diagnostik oder Behandlung bedarf oder wer eher das neugierige, erforschende Gespräch mit dem Hausarzt braucht.

Aber auch den kranken Kranken, die zu Hause sind, geht es im deut- schen Gesundheitswesen schlecht.

Sie kommen mit ihrem Rollstuhl nicht mehr die Treppe hoch in den zweiten Stock zum Diabetologen, und der Neurologe macht keine Hausbesuche. Jetzt ist er auf die Kompetenz des Hausarztes angewie- sen. Aber dieser hat die Entwicklung

seiner eigenen Kompetenz mit dem gelben Überweisungsschein an den Facharzt abgegeben. Er kennt nicht mehr die Prinzipien der Insulinthera- pie, weiß nicht, wie er das Morphium angemessen dosieren muss, hat die Tricks der modernen Wundbehand- lung nie erlernt. Wenn er nicht weit draußen auf dem Lande wohnt, wo die Wege zum Facharzt genauso beschwerlich sind wie die zwischen den norwegischen Fjorden.

Es tut sich viel im deutschen Ge- sundheitswesen. Zwischen Ärzten und Krankenkassen werden neuarti- ge Verträge verhandelt. Kranken- kassen glauben, ihren Mitgliedern

mit mehr Wellness mehr Gesundheit zu schenken, oder sie vertrauen auf Callcenter nach amerikanischem Muster, um die asthmakranken Mit- glieder an die korrekte Einnahme ihrer Sprays zu erinnern. Bankbera- ter machen den Ärzten weis, dass sie ohne private Dienstleistungen nicht überleben können und dass die Qua- lität einer Praxis verbessert wird, wenn der Kunde König ist.

Aus meiner täglichen Erfahrung als Hausarzt und mit 20 Jahren ei- nes anderen Gesundheitswesens im Hinterkopf habe ich einige Wün- sche an die Gesundheitspolitik:

>Wir brauchen ein Gesundheits- wesen, in dem die kranken Kranken die beste Betreuung bekommen. Al- le und überall. Nicht nur in den Städten und Bezirken, in denen sich viele Mitglieder der privaten Kran- kenkassen befinden. Die kranken Kranken sind oft nicht die Wunsch- patienten: Sie sind zu dick, rauchen zu viel, sind arm, haben es nicht zu ausreichender Bildung geschafft, sind arbeitslos und sind nicht an den schönen Wellness- und Vorsorgean- geboten interessiert. Gerade deswe- gen brauchen sie ein von Solidarität geprägtes Gesundheitswesen. Alle Änderungen im Gesundheitswesen müssten sich daran messen lassen, ob sie diese Priorität fördern.

>Wir brauchen ein Gesundheits- wesen, in dem die kranken Gesun- den vor unnötiger Diagnostik und

Behandlung beschützt werden. Dies kann nur geschehen, wenn Arzt und Patient innehalten, um über Ängste und Befürchtungen nachzudenken oder um die Bedeutung von körper- lichen Lebenserfahrungen auszulo- ten. Das geht nicht in acht Minuten, erspart aber vielen den Weg zum Psychotherapeuten. Das erfordert aber, dass alle Ärzte den Dialog mit den Patienten üben. Bisher versagen hier die Universitäten.

>Wir brauchen ein Gesundheits- wesen, das die gesunden Gesunden davor schützt, zu gesunden Kranken zu werden. Vorsorge- und Früher- kennungsuntersuchungen dürfen

nur angewendet werden, wenn ihre Bedeutung wissenschaftlich erwie- sen ist oder erwiesen werden soll.

Menschen dürfen nicht leichtfertig zu Patienten werden. Jeder Mensch soll- te einen Hausarzt haben, auch wenn er gesund ist – und ihn viele Jahre lang nicht aufsucht. Menschen brau- chen Informationen, die sie stärken, um gewöhnliche Gesundheitsproble- me selbstständig zu lösen. Sie brau- chen einen Hausarzt, der kein ökono- misches Interesse hat, dass sie jedes Quartal in seine Praxis kommen.

>Wenn dann noch Zeit ist, dann kann das Gesundheitswesen das Angebot für die gesunden Kranken effektiv organisieren. Hier helfen Leitlinien und wissenschaftlich basierte Diagnostik- und Behand- lungsempfehlungen. Die gesunden Kranken freuen sich auch über die Betreuung von speziell ausgebilde- ten Krankenschwestern oder Phy- siotherapeuten. Die gesunden Kran- ken geben vielleicht auch Geld aus für Angebote, deren Wert zweifel- haft ist. Die gesunden Kranken sind das kleinste Problem – genießen aber im deutschen Gesundheitswe- sen die größte Aufmerksamkeit.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(23): A 1276–80

Anschrift des Verfassers Harald Kamps Hausarzt Möllendorffstraße 45 10367 Berlin

Hier werden Krankheiten behandelt, fast – möchte man

meinen – unabhängig von den Menschen, die sie haben.

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