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Archiv "Durch Irrtum zu Weltruhm: Zum 275. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau" (20.06.1987)

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JTypisch für Jean-lacques Rousseau: ipr einem seiner viel Wohnungswe4- sein, vor einer seiner unsteten Reisen?

H. Guttenberg: Kupferstich nach J. Mores

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Zurück zur Natur!

Bürgerinitiativen für Frieden und Freiheit und gegen Beton, Hö- henflug der antiautoritären Erzie- hung und Seelenblößenwahn der Tiefenpsychologie, Staatsvernei- nung und Naturschutz: Mit „Zurück zur Natur" lobpreisen wir den mut- terlosen Jean-Jacques Rousseau, der mit sechzehn seine Heimat Genf verläßt und durch Frankreich, Ita- lien, die Schweiz und Bücher vaga- bundiert, lange bei einer um drei- zehn Jahre älteren Adligen woh- nend, die er „Mama" nennt und mit anderen teilt.

Paris

1742 faßt er in Paris endlich et- was Fuß, wechselt aber ständig die Wohnung. Als Hauslehrer für adlige Fräuleins und Umkomponist eines Voltaireschen Spiels, auch als Bot- schaftssekretär sucht er ein Aus- kommen. Mit der biederen TMrese Levasseur hat er fünf Kinder, die er im Findelhaus abgibt.

Rousseau lügt. Er onaniert.

1750 überzeugt gedanklich, nicht sachlich sein mitreißender Diskurs über die Wissenschaften und Künste die Akademie von Dijon: „Die Wis- senschaften entstehen im Müßig-

gang und fördern ihn damit." Dar- aufhin finden die romantischen Aus- flüge seiner Romanfigur Die neue Hdloise in Gottes freie Natur reißen- den Absatz.

Verführerische Zauberworte im Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, dem zweiten Akade- miepreis, tragen Rousseau durch Europa. Der konvertierte Katholik wird wieder Calvinist und verstrickt sich erneut in ein Dreiecksverhältnis mit einer syphilitischen Adligen.

Rousseau entwickelt eigentüm- liche Beziehungsideen, in deren Ein- samkeit ihn „Haushälterin TMle- se" begleitet. Wenn auch die päda- gogische Utopie Emile, eine Kom- position aus romantischer Nörgelei und Lehrbuch, den Heimdenker entlarvt, sie fasziniert dennoch:

„Alles aus den Händen des Schöp- fers ist gut, alles verdirbt unter den Menschen." Er schilt auf Intellektu- elle, Literaten und Adlige. „Hätten sie keine Häuser gebaut", kontert er Voltaires Mitleid mit den Erdbeben- opfern Lissabons.

Rousseau, auch Politprophet, sagt im Gesellschaftsvertrag ( „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten") ein Jahrhundert der Revolution voraus. Dabei legt er die Freiheit in die Ketten des Gehor- sams gegen das Gesetz und ersetzt den alten Tyrannen von Gottes Gna- den durch den neuen Volkswillen der bourgeoisen Religion.

Harald Rauchfuss

Durch Irrtum zu Weltruhm

Zum 275. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau

O tez ä nos savants le plaisir de se faire 6couter, le savoir sera ne rien pour eux.

(Nehmt den Wissenden das Vergnügen ge- hört zu werden, und das Wissen ist nichts mehr für sie.)

La Nouvelle Heloise, lere partie, lettre 12

A-1842 (80) Dt. Ärztebl. 84, Heft 25/26, 20. Juni 1987

(2)

Der große „Grüne" des 18. Jahrhun- derts beim Botanisieren in Erme- nonville in seinem Todesjahr 1778 Stich von J. Dupreel nach E. Mayer

Fotos: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

Zweite Vagabondage

Das Glaubensbekenntnis des sa- voyischen Vikars im Emile überfor- dert die Toleranz der Religionshü- ter. Man weist Rousseau aus und mag ihn nirgendwo. Th&ese trägt die Verschwörung geheimnisvoller Mächte geduldig mit. Verbissen ko- piert er Musiknoten, um sich nicht von Mäzenen abhängig zu fühlen, verachtet im Wörterbuch der Musik die Franzosen, verleugnet sich zeit- raubenden Besuchern, entwirft Ver- fassungen für Papierstaaten und hei- ratet Th6rese endlich 1768.

Wieder in Paris

Voltaire wird Bürger im gelieb- ten Genf, als Rousseau die Bürger- rechte des preußischen Neuchätel annimmt In eine Pariser Mansarde zurückgekehrt, gibt er die Bekennt-

nisse heraus, deren Lesung die Poli- zei verbietet, weil er bittere Streite- reien mit angesehenen Personen und innere Wirrnisse leidenschaftlich entblößt. Fieberhafte Tätigkeiten wechseln sich mit nervösen Zusam- menbrüchen ab. Die Träumereien des einsamen Spaziergängers und Richter Rousseau über Jean-Jacques bringen nichts Neues mehr. Uner- wartet stirbt Rousseau im Haus ei- nes Edelmannes, der ihn wieder ein- mal zu Kost und Logis geladen hat.

Sprudelnder Historienquell

Urfeind Voltaire regte Refor- men an, Rousseau aber Revolutio- näre, indem er Recht und recht mischte. Irrtum und Fortschritt fin- den eben da statt, wo gegen Ge- wohnheit verstoßen wird. Wie aber konstruiert man ein Naturrecht ohne soziales Mißtrauen? Braucht Erzie- hung nicht Erzieher? Gehören nicht Mensch und Vernunft, die beiden vom Stamme „Nimm", auch zur Natur? Gewiß: Epigonenhafte Denkprofis überbieten Rousseau, aber seine Mißverständnisse leuch- ten vom Olymp des Weltruhms in die Gegenwart. 1794 brachte man seinen Sarg ins Panth6on.

Rousseaus antiautoritärer Schrei für das Kind übertönt den el- terlichen Ruf. Er schenkte der Ro- mantik die kosmische Gefühlswelt, seiner Heimat Alpinismus und Tou- rismus. Die Herrschenden müssen mit seinen Irrtümern bis heute pak- tieren. Wir lesen ihn also der revolu- tionären Einstimmung wegen. Die Freiheit als den kostbarsten Schatz unserer Vorstellungskraft aus dem Sumpf machtpolitischer Begierden bergen und den Vorfahren des Overkills vermachen — das ist Jean- Jacques Rousseau, jener extrava- gante Boh6mien im armenischen Kaftan mit Pelzmütze.

Diesen Beitrag widmet der Verfasser Pro- fessor Dr. med. Hans Heimann, Tübingen und Estavayer-le-Lac, zum 65. Geburtstag.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Harald Rauchfuss Bahnhofstraße 38

8530 Neustadt a. d. Aisch

Wild raus, Neo-Geo rein

In der Mode haben wir uns längst daran gewöhnt, warten gera- dezu auf die neuesten Farben, auf die Höhe des Rocksaums, auf das Karo der Saison (oder sind es gerade die Streifen?). Nur in der Kunst geht es etwas gemächlicher zu, obschon der Wechsel vom Stil zum Trend und von dort zum schnell verfestig- ten Kanon der Mode auch hier Ein- zug gehalten hat. Allen Unkenrufen zum Totz hat zwar die neue wilde Malerei die erste Hälfte der achtzi- ger Jahre unangefochten überstan- den — nun aber ist endgültig Schluß.

Das Pendel ist zur anderen Seite ausgeschlagen. Hier wild — dort streng, hier hitzig — dort kühl. Neue Beckmesser wollen zwar wiederum keine aus sich heraus notwendige und glaubwürdige Kunstentwicklung erkennen, aber Neo-Geo (auf das Wörtchen „neu" , egal in welcher Sprache, scheint niemand mehr ver- zichten zu können) hat längst die Galerienwände und Ausstellungs- sockel erobert. Gelobt sei der rechte Winkel, der Kreis und — welche Dy- namik — das Dreieck (eher selten).

Und irgendwie, ja irgendwie ha- ben wir Feinschmecker uns doch an den Farborgien und Kraftmeiereien der Wilden übergesehen, stimmt's?

Da mußte doch etwas Neues herauf- kommen — oder heraufgeholt wer- den (?). Und die Neo-Geoisten sind zwar nicht im Preis bescheidener, aber oft in ihren Formaten. Endlich gibt es keine Platzprobleme mehr an den Wänden. Also raus mit den Farbexplosionen und zurück zur Kühle und Strenge, im Boutiquen- und Bistro-Design der letzten Jahre schon längst durchgesetzt.

Wer nun zur Kunstmesse in Ba- sel (Art 18 vom 17. bis 22. Juni) sei- ne Wände mit den neuesten Kunst- werken aktuell einkleiden möchte, sollte allerdings auch nicht überse- hen, daß die nächste Neuauflage ei- nes kunsthistorischen Klassikers be- reits in der Tür steht: Nuovo Futu- rismo. Salute!

Hartmut Kraft A-1844 (82) Dt. Ärztebl. 84, Heft 25/26, 20. Juni 1987

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