DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
THEMEN DER ZEIT DOKUMENTATION
Die FDP setzt sich
(gesundheitspolitisch) ab
Mit Blick auf die Bundestagswahl im Frühjahr nächsten Jahres und mit einem Seitenblick auf die in den nächsten Monaten anstehen- den Landtagswahlen versucht die FDP, ihr politisches Profil stärker herauszuarbeiten. Sie setzt sich damit zugleich von ihren Koali- tionspartnern CDU und CSU ab, indem sie eindeutigere Forderun- gen stellt. Sie kann sich das ja auch eher leisten.
Teil dieses programmatischen Ab- setzmanövers sind auch die Schwerpunkte liberaler Sozialpoli- tik, ein Programmentwurf, der un- verkennbar die Handschrift der Sozial- und Gesundheitspolitike- rin Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer trägt. Das Papier hat den Bundes- fachausschuß Soziales, Jugend, Familie und Gesundheit der Partei passiert; und der FDP-Bundesvor- stand hat es zur Diskussion in die Partei freigegeben.
Über den sozialpolitischen Teil — er nimmt den größten Raum ein — ist im vorigen Heft berichtet wor- den; der Vorschlag einer Mindest- absicherung für das Alter wurde daher kritisch beleuchtet. Kenn- zeichen des gesundheitspoliti- schen Teils ist das — bei der FDP nicht überraschende Bekenntnis zur Selbstbeteiligung. Ja, im Pro- grammpapier ist die Rede von um- fassenden Selbstbeteiligungsre- gelungen. Die FDP-Programma- cher unterlaufen vorsorglich das Argument, Selbstbeteiligung im Sachleistungssystem der gesetzli- chen Krankenversicherung sei sy- stematisch nicht durchzuführen.
Die FDP will nämlich das Kosten- erstattungssystem. So können auch die gesetzlichen Krankenver- sicherungen in die Lage versetzt werden, untereinander auch in Beitragswettbewerb einzutreten.
Sie könnten nämlich Tarife mit un-
terschiedlichen Selbstbehalten anbieten. Die Liberalen erhoffen sich davon eine Abstimmung mit den Füßen, sprich: den Gang zu jenen Kassen, bei denen das Preis-/
Leistungsverhältnis stimmt.
Gewiß wird den Liberalen vorge- halten werden, unsozial und unso- lidarisch zu sein. Dem Vorwurf be- gegnen sie einmal mit der Gegen- behauptung, man definiere ledig- lich die Maßnahmen, die die Soli- darität der Versicherten unterein- ander stärke, und zum anderen mit der Mahnung an allzu liberale Marktwirtschaftler: Die Freiheit des einzelnen finde dort ihre Gren- ze, wo die Verantwortung für den Nächsten und die Gesellschaft es erfordert. Wörtlich: „Freiheit ohne Bindungen wäre unsozial." NJ
• Die entscheidenden gesund- heitspolitischen Passagen des Programmpapiers „Schwerpunkte sozialer Sozialpolitik" werden ne- benstehend dokumentiert.
Am Mikrofon (hier übrigens anläßlich ei- ner Veranstaltung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung): Dr. Irmgard Adam- Schwaetzer, die das Programmpapier wesentlich geprägt hat
Schwerpunkte der Gesundheits- politik
Aus dem Programmentwurf
„Schwerpunkte liberaler Sozial- politik" der F.D.P. (Wortlaut)
Die F.D.P. will die Bürger gegen die existentiellen Risiken, mög- lichst unabhängig vom Staat, in selbstverwalteten, selbstfinanzier- ten und sachgerecht gegliederten Risikogemeinschaften sichern.
Die F.D.P. verficht ein leistungsfä- higes, freiheitliches Gesundheits- wesen. Dieses gerät in Gefahr, un- bezahlbar zu werden.
Hauptursachen des Kostenan- stiegs sind:
> Der gewollte medizinisch-tech- nische Fortschritt,
> die Zunahme des Anteils älterer Mitbürger an der Gesamtbevölke- rung,
> die Ausweitung des Krankheits- begriffs,
> die Ausweitung der Rehabilita- tion,
> unwirtschaftliche Strukturen im Krankenhaus,
> die Zunahme der erbrachten Gesundheitsleistungen auch durch Überkapazitäten, insbeson- dere bei Krankenhäusern und Kas- senärzten,
• andauernde Zunahme des Facharztanteils bei den Kassen- ärzten,
> unzureichender Preiswettbe- werb unter den Arzneimittelher- stellern,
> unwirtschaftliches Verhalten von Leistungserbringern und Lei- stungsempfängern.
Falsche Anreize in unserem Ge- sundheitssystem sind die Hauptur- sache für die unverantwortliche Expansion der Leistungen. Bei ei- ner Strukturreform sind wirt-
Foto: Bohnert-Neusch
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 16 vom 16. April 1986 (45) 1115
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Dokumentation: FDP-Gesundheitspolitik
schaftliche und gesundheitsför- dernde Anreize zu schaffen.
Folgende fünf Prinzipien einer Strukturreform sollen dies ge- währleisten:
1. Prinzip: Sparsamer Umgang mit den Ressourcen des Ge- sundheitsystems ist Vorausset- zung für den Erhalt der freiheit- lichen Struktur.
Dazu sind Solidarität und Eigen- verantwortung aller Beteiligten gefragt. Sie müssen gestärkt wer- den. Eine verbesserte Wirtschaft- lichkeitsprüfung und materielle Anreize für Leistungserbringer führen verstärkt zu wirtschaft- licher Verordnungsweise. Umfas- sende Selbstbeteiligungsregelun- gen schaffen, wenn sie richtig ein- gesetzt werden, den notwendigen Anreiz zu sparsamem Verhalten bei den Patienten. Dabei muß die Selbstbeteiligung steuernd wir- ken, sozial tragbar sein und im Er- gebnis einen niedrigen Beitrags- satz bewirken. So wird mehr Ent- scheidungsfreiheit auf den einzel- nen übertragen, ohne ihn zusätz- lich finanziell zu belasten. Das Ko- stenerstattungssystem mit prozen- tualem Selbsterhalt ist ein Ansatz für ein besseres Steuersystem.
Die Krankenversicherung ist kein Selbstbedienungsladen und kein Ersatz für mangelnde Sozialbin- dungen in der Gesellschaft.
2. Prinzip: Wir brauchen mehr Wettbewerb in der Krankenver- sicherung
Dazu wollen wir die gegliederte Krankenversicherung und ihre Selbstverwaltung stärken. Unter- schiede im Mitgliedschaftsrecht sollten nur dort gemacht werden, wo sie sich aus Sachgründen (z. B.
Betriebskrankenkasse) ergeben.
Dazu müssen die Wettbewerbsbe- dingungen der Kassen verbessert werden, so beim Beitragseinzug,
bei der Mitgliederwerbung, beim Risikoausgleich für bestimmte zu- geteilte Mitglieder.
Eine „Abstimmung mit den Fü- ßen" setzt den heilsamen Zwang zum Leistungswettbewerb — dann wohl nicht mehr darum, wer die meisten Kuren bewilligt, sondern wer gute Leistung zum niedrigsten Beitragssatz anbietet.
3. Prinzip: Mehr Transparenz ist Voraussetzung für sparsame Nutzung der Leistungen.
Dies gilt für die Abrechnung der Leistungen im ambulanten und stationären Bereich. Deshalb wol- len wir das Kostenerstattungssy- stem einführen.
Um auf dem Arzneimittelmarkt die notwendige Transparenz zu errei- chen, halten wir einen sinnvollen Preisvergleich für notwendig. Die Preisvergleichsliste des Bundes- ausschusses Ärzte-Krankenkas- sen ist daraufhin zu überprüfen, ob sie die ärztliche Therapiefrei- heit nicht beschränkt und de facto nicht zu einer Positivliste wird.
4. Prinzip: So viel ambulant wie möglich, so viel stationär wie nötig.
Deshalb sollen sich die Vergü- tungssysteme mehr an der Quali- tät erbrachter Leistungen als an ihrer Quantität ausrichten. Die Freiberuflichkeit und die freie Arztwahl sowie das Prinzip der Selbstverwaltung der eigenen An- gelegenheiten müssen hierbei un- bedingt gewahrt bleiben.
Das neue Krankenhausfinanzie- rungsrecht und die Bundespflege- satzverordnung geben vielfältige Möglichkeiten, die von Kassen und Krankenhausträgern konse- quent genutzt werden müssen, um einen Abbau von Überkapazitäten im stationären Bereich endlich an- zugehen.
Überkapazitäten sind auch in der ambulanten, ärztlichen Versor- gung festzustellen. Die kassen- ärztliche Bedarfsplanung ist daher um eine Überversorgungsrege- lung zu erweitern.
Die finanzielle Ausstattung des ambulanten Sektors muß ausrei- chen, um den medizinisch-techni- schen Fortschritt auch in der kas- senärztlichen Versorgung zu rea-
lisieren.
5. Prinzip: Auch in Zukunft soli- darische Absicherung all derje- nigen Krankheitsrisiken, die für den einzelnen nicht tragbar sind.
Um dies auch in der Zukunft si- cherzustellen, muß der Leistungs- katalog der GKV überprüft werden und ein Krankheitsbegriff definiert werden, der einer Industriegesell- schaft angemessen ist und nicht die Organisation des Systems sprengt.
Den Selbstverwaltungen ist hin- sichtlich ihres Versicherungsum- fangs mehr Handlungskompetenz zu geben.
Das Prinzip der Solidargemein- schaft ziehen wir nicht in Zweifel.
Wir definieren Maßnahmen, die die Solidarität der Versicherten untereinander stärken. Der Gene- rationsausgleich, der leistungsge- rechte Ausgleich zwischen krank und gesund ist die Verpflichtung einer aktiven Sozialpolitik.
Wir wissen allerdings auch, daß die Freiheit des einzelnen, sein Le- ben nach seinen Maßstäben zu führen, dort ihre Grenzen findet, wo die Verantwortung für den Nächsten und die gesamte Gesell- schaft es erfordert. Freiheit ohne Bindung wäre unsozial.
Deshalb müssen wir der Entsolida- risierung Einhalt gebieten, die Verantwortung des einzelnen für sich und die Gemeinschaft her- ausfordern und stärken. ❑ 1116 (46) Heft 16 vom 16. April 1986 83. Jahrgang Ausgabe A