Abbildung 1:
Megabloblasten mit Vakuolen im Zytoplasma aus dem Knochenmark eines chronischen Alkoholikers
DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
ÜBERSICHTSAUFSÄTZE:
Blut und Alkohol Zeitsymptom:
Konzentrationsstörungen bei Schulkindern
Gesprächsführung bei Schwangerschafts- konflikten
Die akute Virushepatitis:
Diagnostische Abgrenzung des Typs B
KONGRESS- NACHRICHTEN:
Narkolepsie ist nicht nur
„Schlafsucht"
Der unbekannte Krebs Zentrales Endokrinium:
Keine Altersveränderungen Testosteronschwund bei alternden Mann
MERKBLATT DES BUNDES-
GESUNDHEITSAMTES:
Tollwut
TECHNIK
IN DER MEDIZIN:
Computer lösen Laborprobleme Zählgerät für die Blutbild-Differenzierung
Blut und Alkohol
Jürgen Heck und Günther Gehrmann
Daß chronischer Alkoholismus auch hämatologische Schädigun- gen zur Folge haben kann, ist noch vergleichsweise wenig bekannt.
Eine Erklärung hierfür mag die spontane Rückbildungsfähigkeit unter Abstinenz sein. Abwegigkei- ten des roten Blutbildes sind bei chronischem Alkoholismus jedoch
keineswegs selten. Angaben zur Häufigkeit lassen sich Tabelle 1 entnehmen. Anämie und Thrombo- zytopenie sind weitaus häufiger als eine Leukozytopenie.
Die Pathogenese ist teils aus offen- sichtlich direkter Toxizität der chronischen Äthanoleinwirkung, Aus der Medizinischen Klinik im Klinikum Barmen
der Stadt Wuppertal (Direktor: Professor Dr. G. Gehrmann)
Chronischer Alkoholkonsum kann zur Anämie führen, zur Vermin- derung der Thrombozytenzahl und selten auch zur Leukozytopenie.
In der Pathogenese spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Alle hä- matologischen Auswirkungen des Alkoholismus erweisen sich — so- fern keine Leberzirrhose vorliegt — als spontan rückbildungsfähig, sobald Abstinenz eingehalten wird. Entzug ist also die einzige ratio- nelle Therapie.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 46 vom 13. November 1975 3175
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Abbildung 2: Ringsideroblasten im Sternalmarkausstrich eines chronischen Alkoholikers (Berlinerblaufärbung)
teils aber auch aus mangelhafter Ernährung und aus Leberschädi- gung verständlich.
Hämatologische Befunde bei Leberzirrhose
Für die hämatologischen Befunde bei Leberzirrhose bedeutet es kei- nen Unterschied, ob die Erkran- kung aus alkoholischer oder aus anderer Ursache entstanden ist.
Das rote Blutbild kann eine Hyper- chromie und eine Makrozytose zei- gen, meist allerdings nur in mäßi- ger Ausprägung. Im Blutausstrich werden nicht selten Targetzellen beobachtet. Die Zahl der Blutzellen ist vornehmlich dann vermindert, wenn eine Splenomegalie vorliegt, wobei eine Thrombozytopenie am häufigsten und eine Leukozytope- nie seltener ist.
Zum pathogenetischen Verständ- nis der peripheren Zytopenie bei splenomegaler Leberzirrhose ha- ben radioaktive Zelletikettierungen entscheidend beigetragen. Die Theorie der splenomegalen Mark- hemmung hat sich dabei nicht be- stätigt. Vielmehr hat sich zumin- dest für die Thrombozyten und für die Erythrozyten belegen lassen, daß die vergrößerte Milz vermehrt Blutzellen speichert und diese da- durch der Zirkulation entzieht. Die- se Vermehrung der Blutzellspei- cherung in der Milz hat sich auch für Splenomegalien aus anderer Ursache als Leberzirrhose nach- weisen lassen. Die lienale Zyto- stase vermag die Blutzellen durch metabolische Alterationen zum vor- zeitigen Untergang vorzubereiten,
so daß eine — in aller Regel nur leichte — Verkürzung der Throm- bozyten- und Erythrozyten-Überle- bensieit von allerdings nur akzes- sorischer Bedeutung für die peri- phere Zytopenie sein kann.
Hat sich eine Leberzirrhose ausge- bildet, ist die Reversibilität von An- ämie, Thrombozytopenie und Leu- kozytopenie im Gegensatz zu Blut- bild- und Knochenmarksbefunden bei Trinkern ohne Leberzirrhose selbst unter Abstinenz nicht mehr sicher, da die hämatologische Symptomatik in diesem Fall ja nicht mehr allein Folge von direk- ter Alkoholeinwirkung und/oder Fehlernährung ist, sondern auch von den Verhältnissen im Pfort- aderkreislauf abhängt.
Pathogenese
der Alkoholikeranämie
Wie ein Blick auf Tabelle 2 zeigt, ist die Pathogenese der Alkoholi- keranämie multifaktoriell. Die symptomatologische Penetranz der einzelnen Faktoren ist individuell unterschiedlich, ohne daß die Gründe hierfür definitiv klar wären.
Reine Biertrinker dürften allerdings kaum zum Folsäuremangel neigen, weil Bier im Gegensatz zum Schnaps Folsäure enthält. Im allge- meinen werden hämatologische Störungen nur bei erheblichem Al- koholkonsum produziert (200 bis 600 g/d; 400 g Äthanol sind rund gerechnet in einem Liter Schnaps beziehungsweise in einem Kasten Bier enthalten).
Der multifaktoriellen Pathogenese entspricht ein Spektrum knochen- Tabelle 1: Die Häufigkeit von
Blutbildbefunden bei chroni- schem Alkoholismus (Sam- melstatistik aus Literaturmit- teilungen sowie eigenen
Beobachtungen)
Befund Häufigkeit
Anämie 38 °/0 402 Thrombo-
zytopenie 26 °/0 402 Leuko-
zytopenie 4 Vo 230
Tabelle 2: Pathogenetische Faktoren der Alkoholikeran- ämie
Toxische Suppression der Hämatopoese
Eisenmangel und Eisenver- wertungsstörung
Folsäuremangel und Folsäu- reverwertungsstörung Verkürzung der Erythrozyten- Überlebenszeit
Speicherung von Erythrozy- ten in der Milz
Tabelle 3: Knochenmarks- morphologische Befunde bei chronischem Alkoholismus Vakuolen
Megaloblasten Ringsideroblasten Schaumzellen
3176 Heft 46 vom 13. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Abbildung 3:
Schaumzelle (lipoidspeichernde Retikulumzelle) im Sternalmark- ausstrich eines Patienten mit Zieve-Syndrom Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Alkohol
-Anämie
marksmorphologischer Befunde, die in recht wechselhafter Konstel- lation auftreten können (Tabelle 3 und Abbildungen 1 bis 3). Eine ge- wisse Abhängigkeit zum durch- schnittlichen Äthanolkonsum zeigt die Ausbildung von Vakuolen, die man vor allem im Zytoplasma der
Erythroblasten, weniger auch bei myeloischen Vorstufen finden kann. Die Vakuolen sind als Aus- druck einer toxischen Suppression der Hämatopoese zu deuten, zumal sie auch unter Einwirkung von Chloramphenicol oder von Pyrazin- amid gesehen werden (Abbildung 1). Mit einer Eisenverwertungsstö-
rung — die viel häufiger bei Trin- kern vorkommt als Eisenmangel — ist das Auftreten von Ringsidero- blasten in Zusammenhang zu brin- gen (Abbildung 2). Hierbei handelt es sich um Erythroblasten, in deren Zytoplasma sich ringartig um den Kern angeordnet eine Ablagerung von nicht hämoglobinisierbarem Eisen in Form feiner Körnchen fär- berisch darstellen läßt. Das kno- chenmarkmorphologische Substrat von Folsäuremangel und Folsäure- verwertungsstörung ist das Auftre- ten von Megaloblasten. Die Mega- loblastose kann übrigens ebenso wie die Vakuolenbildung auch ohne Anämie vorhanden sein.
Eine hämolytische Anämie gibt es bei chronischem Alkoholismus ge-
meinsam mit Hyperlipidämie und Ikterus, welcher gewöhnlich auf eine Fettleberhepatitis zurückgeht (Zieve — Syndrom). Der Knochen- markausstrich zeigt dabei in 28 Prozent Schaumzellen (fettspei- chernde Retikulumzellen) (Abbil- dung 3).
Die Retikulozytose, welche ein Al- koholiker nach Hospitalisierung nicht selten bietet, ist allerdings nur selten Ausdruck einer hämoly- tischen Anämie, sondern viel häufi- ger auf eine Erholung der Erythro- zytopoese unter Alkoholentzug zu- rückzuführen.
Alkoholische
Thrombozytendepression
Wird ein Potatorium abrupt unter- brochen, so pflegt die Thrombozy- tenzahl im Blut anzusteigen.
Ein Maximum, das mit passagerer Thrombozytose verbunden sein kann, wird nach 5 bis 21 Tagen er- reicht. Dieser Anstieg der Throm- bozytenzahl ist oftmals auch dann nachweisbar, wenn sie anfangs nur niedrignormal und nicht erniedrigt ist. Kommt es unter chronischem Alkoholismus zur Thrombozytope- nie, werden nur selten Werte er- reicht, die hinsichtlich einer hä- morrhagischen Diathese kritisch sind.
Auf Grund von eigenen Studien der
51Cr-Plättchenkinetik ist die Pa- thogenese der alkoholischen Thrombozytendepression komplex.
Der häufigste und auch quantitativ am stärksten wirksame Pathome- chanismus ist eine als toxisch zu deutende Hemmung der Thrombo- zytenproduktion. Daneben kann im Einzelfall ein Hypersplenie-Syn- drom bei alkoholischer Leberschä- digung zur Thrombozytopenie bei- tragen.
Alkoholwirkungen auf die Leukozyten
Eine Leukozytopenie ist bei Trin- kern wesentlich seltener als eine Anämie oder eine Thrombozytope- nie. Im übrigen ist über die Alko- holwirkungen auf die Leukozyten vergleichsweise wenig bekannt.
Experimentelle Untersuchungen zeigten, daß die Einwanderung von neutrophilen Granulozyten in ent- zündete Gewebe unter Alkoholein- fluß gestört ist. Möglicherweise bietet dies eine Erklärung für die ärztliche Empirie, das Trinker be- sonders in bronchopulmonaler Hin- sicht infektanfälliger erscheinen als die Durchschnittsbevölkerung.
Anschrift der Verfasser:
Chefarzt Dr. med. Jürgen Heck 582 Gevelsberg
Städtisches Krankenhaus, Innere Abteilung
Professor
Dr. med. Günther Gehrmann 56 Wuppertal 2
Klinikum Barmen Medizinische Klinik
3178 Heft 46 vom 13. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT