© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 4, August 1996, S. 289-303 289
„Heute ernähren uns unsere Töchter“
Frauen und Marktwirtschaft: Eine Fallstudie in einem taiwanesischen Fischerdorf
Susanne Brandtstädter
Institut für Ethnologie, Freie Universität Berlin, Drosselweg 1-3, D-14195 Berlin
Z u s a m m e n fa s s u n g : Der Artikel zeigt anhand der Ergebnisse einer ethnographischen Feldstudie, daß die weit ver
breitete These einer „Marginalisierung“ bzw. „Hausfrauisierung“ von Frauen sich in dem taiwanesischen Fischerdorf Niaoyu als falsch erweist, wenn wirtschaftlicher Wandel auf lokaler Ebene kontextualisiert wird. Soziale und kulturelle Dynamiken interagierten in Niaoyu im Zuge von Kommerzialisierung und Industrialisierung solchermaßen, daß im Ver
lauf dieses Prozesses Frauen eine Schlüsselrolle in wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb und zwischen Familien ein- nahmen; mehr noch, Beziehungen über Frauen wurden zu den wesentlichen Bausteinen der Dorfgemeinschaft. Als Fol
ge dieser Entwicklung unterstützen Frauen auch noch nach ihrer Heirat ihre Geburtsfamilien und nutzen die daraus re
sultierenden engeren Beziehungen zu ihrer Geburtsfamilie später häufig zur Durchsetzung eigener Interessen. Der Artikel wendet sich insbesondere gegen Studien, die eine direkte, mechanische Beziehung zwischen „Weltmarkt“ und den Mikrodynamiken von Geschlechter- und Familienbeziehungen herstellen wollen. Sie vernachlässigen zumeist den lokalen Kontext und damit auch, Veränderungen in der sozialen und kulturellen Einbettung von Geschlechterbeziehun
gen in ihre Analyse einzubeziehen.
1 Einleitung
Mit den globalen sozialen Veränderungen infolge von Industrialisierung und Weltmarktanbindung nimmt seit den siebziger Jahren auch die Frage nach der sich verändernden Situation von Frauen in ländlichen Regionen einen zunehmenden Stel
lenwert in der feministischen, sozialanthropologi
schen und entwicklungssoziologischen Diskussion ein. Die Fragen, denen dabei nachgegangen wird, sind zumeist: „Welchen Einfluß hat die wirtschaft
liche Entwicklung auf die Arbeit und den Status von Frauen? Wie verändert sich die geschlechtli
che Arbeitsteilung? Werden Frauen in immer stär
kerem Maße auf die „häusliche Sphäre“ be
schränkt? Gibt die Beteiligung von Frauen an Lohnarbeit ihnen größere persönliche Autonomie und Kontrolle? Wie lassen sich all diese Faktoren mit Klasse, kulturellen Unterschieden und den un
terschiedlichen Arten an Arbeit, in die Frauen in
volviert sind, korrelieren?“ (Moore 1988: 82-83).
Die bahnbrechende und bis heute wohl meistzi- tierte Studie zu diesem Thema ist Ester Boserups
„Women’s Role in Economic Development“
(1970). Boserups besonderer Verdienst war es, erstmals systematisch auf den negativen Einfluß von Weltmarktanbindung und Technisierung in Verbindung mit kolonialen Vorstellungen über die geschlechtliche Arbeitsteilung auf die Stellung von Frauen in Ländern der „Dritten Welt“ hinzuwei
sen und damit der bis dato weitverbreiteten Mei
nung entgegenzutreten, „Modernisierung“ würde quasi automatisch zu egalitären Familienbezie
hungen führen. In dem Gros der Arbeiten, die auf Boserup’s Studie folgten, wurde die These der Ver
drängung von Frauen infolge von Mechanisierung und Professionalisierung, die „Feminisierung der Subsistenzwirtschaft“, immer wieder anhand von empirischen Beispielen belegt, so daß sie heute in der „Frauen und Entwicklungs“-Literatur als „all
gemein akzeptierte Tatsache“ (Lachenmann 1992a) gilt. Für viele Autoren impliziert der An
schluß an Weltmarktstrukturen damit einen Ver
lust der Frauen an Autonomie und „traditionel
len“ Rechten, auch wenn einige Kritikerinnen dar
auf hingewiesen haben, daß auch in der vorkapita
listischen Ära Frauen nicht unbedingt ein hohes Maß an Autonomie besaßen (Huntington 1975, Afonja 1981; zitiert in Moore 1988: 74). Einfluß
reich als Basis einer Erklärung dieses Phänomens wurden in der Entwicklungssoziologie insbesonde
re Dependenz- und Weltsystemtheorien (Frank, Wallerstein), da sie dem Entwicklungs-Optimis
mus (unilinearer) Modernisierungstheorien den - offensichtlich realitätsnäheren - Pessimismus ei
ner „Entwicklung der Unterentwicklung“ entge
genstellten. Wallersteins Einteilung der Welt in Zentrum und Peripherie ermöglichte darüber hin
aus, die andauernde Andersartigkeit der Produk
tionsweisen in Zentrum und Peripherie als „ab
hängig kapitalistische Entwicklung“ auf ihre Lage im kapitalistischen Weltsystem zurückzuführen, und nicht, wie Modernisierungstheorien, auf sich der Entwicklung widersetzende „Traditionalis- men“ (Wallerstein 1979a). Hier ergab sich die Möglichkeit, die vielen negativen Einzelbeispiele
zum Thema „Frauen und Entwicklung“ auf einen gemeinsamen, supernationalen bzw. -kulturellen Nenner zurückzuführen: den Weltmarkt.
Wichtigste Einheit der kapitalistischen Weltwirt
schaft bildet der Haushalt als Einheit von Produk
tion und Konsumption. Als Ort der Reproduktion der Arbeitskraft, und nicht als Hort der „Tradi
tion“, ist er auch für das Geschlechterverhältnis entscheidend. Er wird als solcher in seiner Form als durch und durch „modern“ begriffen, die „pa
triarchale Hierarchie“, Grundlage der Beziehun
gen zwischen Haushaltsmitgliedern, als „eine durch und durch moderne Angelegenheit und eine der fundamentalen politischen Komponenten der modernen Weltwirtschaft.“ (Smith et al. 1984:13).
Folge der abhängigen Entwicklung ist, daß Frauen in zunehmendem Maße von ihrem Ehemann ab
hängig, „unsichtbar“, bzw. „hausfrauisiert“ wer
den, wie es die in Deutschland auch unter dem Stichwort „Hausfrauisierungstheorie“ bekannte feministische Variante des Bielefelder Ansatzes in der Entwicklungstheorie postuliert (siehe z.B.
Werlhof et al. 1983). Andere Stimmen haben in dieser Diskussion jedoch darauf hingewiesen, daß für die Möglichkeiten von Frauen, wirtschaftliche Chancen wahrzunehmen, der jeweilige kulturelle oder soziale Kontext ausschlaggebend ist (Lenz 1988, 1992), bzw. sich im Wandel befindende au
ßereuropäischen Gesellschaften trotz Weltmarkt
anschluß ihre eigenen, davon unabhängigen histo
rischen und kulturellen Dynamiken aufweisen (Leie 1986).1
Im folgenden möchte ich diese Kritik aufnehmen und am ethnographischen Beispiel des Fischerdor
fes Niaoyu, Taiwan, zeigen, daß auch eine ganz an
dere Entwicklung des Geschlechterverhältnisses infolge von Kommerzialisierung und Technisie
rung möglich ist. Auch hier wurden Frauen des Dorfes zwar infolge der Technisierung der Fische
reiwirtschaft von ihren Arbeitsplätzen in der Fi
schereiwirtschaft verdrängt (die sie übrigens durch eine andere Entwicklung dreißig Jahre zuvor erst erhalten hatten), im Rahmen der weiteren Ent
wicklung wurden die Frauen jedoch nicht margina- lisiert, sondern konnten, ganz im Gegenteil, Schlüsselpositionen innerhalb der dörflichen Wirt
schaft einnehmen. Insbesondere die Stärkung von
1 s. z.B . Yoon (1990), die die Marginalisierung koreani
scher Frauen im heutigen Südkorea aus der koreanischen Ideologie einer „Supermutter“ ableitet und damit die Vor
stellung kritisiert, die Koreaner hätten mit dem Kapitalis
mus sang- und klanglos die Idee der europäischen Haus
frau des 19. Jahrhunderts übernommen.
Verwandtschaftsbeziehungen sowohl zwischen Fa
milien als auch innerhalb der Familie, die dem do
minanten ideologischen Modell zuwiderlaufen, er
möglicht es vor allem jungen Frauen der Insel, so
wohl einen größeren Einfluß und eine größere Kontrolle über ihr eigenes Leben auszuüben, als auch, sich in diesem Prozeß eine neue, positivere Identität als Tochter zu erkämpfen.
Diese Entwicklung ist keine mechanische Folge ei
ner zunehmenden Einbindung der dörflichen Wirtschaft in Weltmarktstrukturen und wird nicht allein durch die sozio-ökonomischen Strukturen der Haushalte bestimmt. Ebenso bedeutsam für die Richtung der Entwicklung sind die sozialen, kulturellen und ökonomischen Einbindungen der Haushalte und Individuen in ihrem lebensumwelt
lichen Kontext. Dieser ist nicht allein „reaktiv“, sondern, wie ich zeigen möchte, „kreativ“ an die
sem Wandel beteiligt.
2. Die Insel Niaoyu: Dörfliche Wirtschaft und geschlechtliche Arbeitsteilung im Wandel
Die Insel Niaoyu ist mit nur 0,26 qkm Fläche eine der kleinsten bewohnten Inseln des Penghu-Archi
pels, einer Gruppe von 64 Inseln, die sich in der Meeresstraße von Taiwan über ein Gebiet von 240 qkm zu beiden Seiten des Wendekreises des Kreb
ses erstrecken. Seit 1950 bilden die Inseln zusam
men mit Taiwan die „Republik China auf Taiwan“
unter nationalchinesischer Regierung. Die Distanz zwischen Penghu und Taiwan beträgt etwa 60 km, zwischen Penghu und der Provinz Fujian des chi
nesischen Festlands etwa 180 km. 1991 lebten in dem einzigen, gleichnamigen Dorf der Insel Niao
yu 857 Menschen, 440 Männer und 417 Frauen, in 201 Haushalten.2 Die Bewohner verteilen sich auf sieben Abstammungsgruppen. Sie gehören wie die meisten Bewohner Taiwans zur Gruppe der Hok- kien (Minnan yu) sprechenden hanchinesischen Bevölkerung des südlichen Fujians. Aufgrund der geringen Größe der Insel basiert die dörfliche Wirtschaft fast ausschließlich auf der Wasserwirt
schaft, insbesondere der Fischerei. Der historische
2 D iese und alle folgenden, nicht besonders gekennzeich
neten statistischen Daten entstammen meinem eigenen Zensus. Offizielle Statistiken, insbesondere bezüglich der Einwohnerzahl und der Größe der Haushalte, stellten sich als ungenau heraus, da viele der früheren Bewohner Niao- yus inzwischen nach Taiwan ausgewandert waren ohne je
doch ihren offiziellen Wohnsitz zu ändern.
Susanne Brandtstädter: „Heute ernähren uns unsere Töchter“ 291 Wandel der Fischereiwirtschaft in Niaoyu bildete
den Motor für wesentliche Veränderungen inner
halb der Dorfgemeinschaft.
Niaoyu wurde im Jahre 1793 von Familien der nächstliegenden größeren Insel, Baisha, als perma
nenter Fischereistützpunkt besiedelt. Bis 1933 wurde die Fischerei hauptsächlich mit steinernen Fischdämmen betrieben, deren Besitz sich alle Fa
milien auf Anteilsbasis teilten. Anteile an Fisch
dämmen wurden in männlicher Linie in den Fami
lien weitervererbt. Da Landwirtschaft nur in gerin
gem Maße existierte, waren die Bewohner der In
sel niemals wirtschaftlich autark, sondern immer auf den Tausch wichtiger Grundnahrungsmittel mit benachbarten Bauerndörfern angewiesen.
Während die Fischerei traditionell3 eine Arbeit von Männern aller Altersstufen war, waren die Frauen der Insel hauptsächlich als Sammlerinnen von Muscheln und anderen Schalentieren sowie in der Landwirtschaft tätig (Chen 1992:124). Typisch für die Penghu-Inseln insgesamt war eine strikte geschlechtliche Arbeitsteilung, in der Männer für die Fischerei, Frauen für die Landwirtschaft zu
ständig waren (Hu 1961 [1770]: 304). Die Fischerei in Penghu war historisch immer auch immer eine Produktion für den Markt.4
Durch die Entwicklung der taiwanesischen Wirt
schaft unter japanischer Kolonialherrschaft (1895- 1945) erlebte ab 1920 die Fischerei in Penghu ei
nen Aufschwung, was bedeutete, daß in zuneh
mendem Maße ein Markt für Fische sowie ge
trockneten Oktopus, ein Produkt der Frauen der Insel, in Magong entstand. Im Jahre 1930 betrug das Durchschnittseinkommen aus der Fischerei in 3 Die Verwendung des Wortes „traditionell“ ist proble
matisch, da darunter oft ein statischer Zustand in der Ver
gangenheit verstanden wird. Die Alternative „alt“ besitzt jedoch nicht die Konnotation der Autorität, die eine „Tra
dition“ als Handlungsorientierung und Interpretations
grundlage neuer Entwicklungen für die Betroffenen in der Gegenwart besitzt. Wenn ich im folgenden „traditionell“
verwende, so meine ich damit nicht das ein Zustand „im
mer so gewesen“ sein muß (das ist nicht nachprüfbar), sondern daß er von der Betroffenen so empfunden wird und dadurch ein bestimmtes Gewicht in der Gegenwart erhält.
4 D ie Besiedlung der Penghu-Inseln ist historisch eng mit der Entwicklung der kommerziellen Fischerei verknüpft.
So waren die ersten Siedler zu Beginn der nördlichen Song-Dynastie (10. Jhd n. Chr.) Fischer des benachbarten Südfujians, die auf den Penghu-Inseln semipermanente Fischereicamps einrichteten. Fisch sowie Fischereipro
dukte, insbesondere Öl, wurden auf den großen Märkten Fujians verkauft (vgl. Wilkerson 1990: 88ff).
Niaoyu 80 yuan, aus weiblicher Sammeltätigkeit 15 yuan. Im Unterschied zu den Produkten aus weib
licher Sammeltätigkeit konnten die Produkte der Fischerei auch in Taiwan abgesetzt werden. Dazu gab es 1930 fünf Segelschiffe im Ort, die zwischen Niaoyu und der Westküste Taiwans pendelten und dort den Fisch auf Kommissionsbasis verkauften (Chen 1992:124-126).
Der Zeitpunkt der ersten wirklichen Umstruktu
rierung der dörflichen Wirtschaft war das Jahr 1933, als eine Methode zum Fang von dingxiang, einer Sprottenart, eingeführt wurde. Die Fische
rei von dingxiang, auf die sich im Laufe der Zeit die meisten Haushalte spezialisierten, stellt seit dieser Zeit die wichtigste Einnahmequelle in Niaoyu dar. Der entscheidende Unterschied zu zuvor war die gezielte Produktion für den Markt, eine neue Organisation der Fischerei in Boots
gruppen, sowie eine verstärkte wirtschaftliche Stratifizierung der Dorfgemeinschaft. Erstmals wurden Familien, die sich kein Boot leisten konnten und nicht an einer der - zu Beginn - we
nigen Bootsgruppen beteiligt waren, von dieser in zunehmendem Maße an Bedeutung gewinnen
den Einkommensquelle ausgeschlossen, das An
teilssystem sicherte darüber hinaus den Boots
eigentümern die größeren Gewinne.
Unter der nationalchinesischen Regierung wurde die Industrialisierung Taiwans forciert, so daß Tai
wan zu Beginn der siebziger Jahre die Schwelle von einer Agrargesellschaft zu einer vom industri
ellen Sektor dominierten Gesellschaft überschritt (Ho 1978:130). Auch die Fischerei in Niaoyu wur
de weiter entwickelt. Bereits 1940 hatten einige Fi
scher der Insel eine neue Methode des Fischfangs eingeführt, mit der in größerer Tiefe gefischt wer
den konnte, so daß sie eine höhere Effizienz als die erste Methode aufwies. Da die neue Methode je
doch mehr Boote und damit eine größere Investi
tion in die Ausrüstung verlangte, konnte sich die zweite Methode erst 1960 vollständig im Dorf durchsetzten. Dies brachte neben einer Steigerung des Ertrags auch einen Bruch mit der zuvor starren geschlechtlichen Arbeitsteilung zwischen Män
nern und Frauen mit sich: Ab 1960 waren erstmals Frauen an den Bootsgruppen und damit an der kommerziellen Fischerei beteiligt, auch weil nun wesentlich mehr Arbeitskräfte in den Bootsgrup
pen benötigt wurden.
1982 übernahmen die Fischer Niaoyus eine neue Methode zum Fang von dingxiang von Fischern des Bezirks Pingdong an der Westküste Taiwans.
Im Zuge der Durchsetzung dieser Methode in
Niaoyu wurden sämtliche Schiffe der Insel zum er
sten Mal mit moderner Fischereitechnik ausgestat
tet. Die Technisierung der Fischerei hatte zwei di
rekte Folgen auf Arbeits- und Besitzverhältnisse innerhalb der Bootsgruppen: Während insbeson
dere die Mechanisierung des Netzeinholens die Zahl der Mitarbeiter einer Bootsgruppe drastisch verringerte (von vorher 24 auf 11 Personen), ver
langte die höhere Investition, die die Ausrüstung mit moderner Fischereitechnologie erforderte, meist die Aufteilung des Eigentums an einem Schiff auf mehrere Familien. Die Mitarbeiter, die aufgrund der Mechanisierung ihren Platz in den Bootsgruppen verloren, waren zumeist Frauen, die zuvor beim Einholen des Netzes geholfen oder kleine Aufgaben, wie das Sortieren der Fische übernommen hatten.
An den Bootsgruppen der Insel sind heute etwa 130 Haushalte des Dorfes beteiligt, eine sekundäre und individuelle Verdienstmöglichkeit stellt dane
ben das Angeln vom eigenen Boot dar. Bootsgrup
pen bestehen aus einem Netzboot und drei bis vier kleineren Begleitbooten, die nachts mit Hilfe von starken Lampen die Fische in das Netz locken. Der Verdienst der Mitglieder einer Bootsgruppe ent
stammt auch heute nicht einem festen Lohn, son
dern einem Anteil am Erlös des Fangs; Sinn des Anteilssytems ist es, daß alle Beteiligten und nicht nur die Bootsbesitzer das wirtschaftliche Risiko der Fischerei tragen. Das Anteilssystem trägt den Besitzverhältnissen in einer Bootsgruppe Rech
nung, indem zwischen Arbeitsanteilen und Besitz
anteilen unterschieden wird; bis zur Hälfte aller Anteile wird an die Bootsbesitzer ausgezahlt.
Die wichtigste Einnahmequelle von Frauen der In
sel ist eine bestimmte Muschelsorte, die sie an ei
nen Händler im Dorf verkaufen. Daneben arbei
ten Frauen auf Lohnbasis im Hausbau oder trock
nen Fisch, etwa 20 nehmen noch an den Boots
gruppen teil, einige betätigen sich als Fischhändle
rinnen. Im Winter bildet eine zusätzliche Einnah
mequelle von Frauen das Sammeln von Seetang als Tagelöhnerinnen auf einigen unbewohnten In
seln im Norden von Niaoyu. Neben den auf Ver
dienst ausgerichteten Arbeiten und der Familien
subsistenz dienenden Sammeltätigkeiten besteht Frauenarbeit zu einem Großteil aus Hausarbeit und der Sorge für die Kinder. Daneben beteiligen sich in Zeiten hohen Arbeitsaufkommens aus
schließlich Frauen an einem unbezahlten, rezipro
ken Arbeitsaustausch zwischen den Haushalten des Dorfes. Diese Unterstützung findet oft und spontan statt, und man erwartet, daß sie früher oder später erwidert wird.
Die Technisierung der Fischereiwirtschaft machte offensichtlich die vormalige stärkere Einbezie
hung von Frauen in die kommerzielle Fischerei rückgängig. Anstatt jedoch „hausfrauisiert“, von der weiteren Entwicklung marginalisiert und „un
sichtbar“ gemacht zu werden, ermöglichten, wie ich im folgenden zeigen möchte, die sich daran an
schließenden sozialen Veränderungen den Frauen des Dorfes eine Schlüsselstellung in der Entwick
lung und banden sie in einem stärkeren Maße in die öffentliche Sphäre des Dorfes ein. Um diese Entwicklung und ihre Bedeutung für die Frauen der Insel zu erfassen, ist es notwendig, den sozialen und kulturellen Kontext, in dem diese Verände
rungen sich abspielten, etwas genauer zu untersu
chen.
3. Autoritätstrukturen in Familie und Dorf Die kleinsten wirtschaftlichen und sozialen Ein
heiten sind die Haushalte in Niaoyu. Im Kontext von Patrilinearität und Ahnenkult bildet die typi
sche chinesische Familie eine religiöse, wirtschaft
liche und soziale Einheit, deren Charakteristikum der gemeinsame Besitz wirtschaftlicher Ressour
cen sowie eine gemeinsame Kasse ist, in der der wirtschaftliche Beitrag aller Mitglieder „gepoolt“
wird. Von Familienmitgliedern wird erwartet, daß sie ihre Loyalitäten auf die Familie konzentrieren und eigene Interessen den Interessen der Familie als solcher unterordnen. Grundlage der Beziehun
gen zwischen Familienmitgliedern ist eine andro- und gerozentrische Hierarchie, die den Alten for
melle Autorität über Junge, Männern Autorität über Frauen gibt. Höchste Autorität innerhalb der Familie besitzt der Vater, der als Verwalter des in väterlicher Linie vererbten Familienbesitz den Status des Familienoberhaupts (jiazhang) innehat und die Familie nach außen vertritt. Seine Söhne sind Anwärter auf einen Teil des Familieneigen
tums, das im Falle einer formellen Haushaltstren
nung zu gleichen Teilen unter ihnen aufgeteilt wird. Frauen sind keine Teilhaberinnen am Fami
lienbesitz und haben kein Anrecht auf Erbe. Sie verlassen in der Regel mit der Heirat ihre Geburts
familie und werden Mitglied der Familie ihres Ehemannes, wobei Rechte an ihrer Arbeitskraft und ihren Kindern auf die Familie des Ehemannes übergehen. Ihre ambivalente Position in den Fami
lienstrukturen ist mit ein Grund dafür, daß Frauen im Unterschied zu Männern traditionell von dem Zugang zu formellen Autoritätspositionen inner
halb der Familie ausgeschlossen sind. Daß die for
male Stellung von Frauen in der Familie nicht un
Susanne Brandtstädter: „Heute ernähren uns unsere Töchter“ 293 abhängig, sondern männlichen Strukturen „beige
ordnet“ ist, zeigt auch die Tatsache, daß, während die Seniorität der im Haushalt lebenden Männer aus ihrer Geburtsfolge resultiert, die Seniorität der im Haushalt lebenden verheirateten Frauen sich nicht aus ihrer eigenen, sondern aus der Geburts
folge ihrer Ehemänner ableitet.
Da im Unterschied zu vielen anderen Dörfern in Südostchina die sieben Abstammungsgruppen in Niaoyu nicht über permanente institutionelle Strukturen verfügen und politisch weitgehend un
bedeutend sind, ist die nächste relevante soziopoli- tische Einheit jenseits von Haushaltsgrenzen das Dorf selbst. Als Mitglied der Dorfgemeinschaft wird in China nicht das Individuum, sondern der einzelne Haushalt begriffen, vertreten durch den (in der Regel männlichen) Haushaltsvorstand. Im Niaoyu bilden alle Haushalte des Dorfes die Tem
pelkorporation (simiao gongsi), wobei der Tempel Symbol der Gemeinschaft und politisches Zen
trum im Dorf ist. Der Tempelkorporation stehen sechs Dorfälteste vor, die ihr Amt auf Rotations
basis für jeweils ein Jahr übernehmen und für Or
ganisierung und Durchführung der jährlichen reli
giösen Feste verantwortlich sind.
Der Tempel finanziert sich aus den jährlichen pari
tätischen Abgaben der Haushalte. Diese finanziel
len Abgaben stehen zugleich für Nutzungsrechte der Dorfbewohner an den wirtschaftlichen Res
sourcen der Insel. Während sich Boote und Fang
geräte im Privatbesitz der Familien befinden, ist die Tempelkorporation der Eigentümer der Mee
reszone um Niaoyu, in der die Fanggründe der Fi
scher liegen, des Küstenstreifen, auf dem Mu
scheln und Schalentiere gesammelt werden, und einiger unbewohnter Inseln im Norden, auf denen die Bewohner Niaoyus im Winter Seetang sam
meln.5 Im Unterschied zu Korporationen westli
cher Prägung ist das Eigentum des Tempels unver
äußerlich, er investiert nicht selbst auf dem Markt, ist jedoch durch seine Finanzierung über die Haus
halte auf den Markttausch angewiesen (Wilkerson 1995). Seit Anfang der achtziger Jahre finanziert sich der Tempel in Niaoyu als Zeichen der zuneh
menden Kommerzialisierung der Wirtschaft nun nicht mehr zum überwiegenden Teil aus den jährli
chen Abgaben aller Haushalte, sondern aus der einmaligen Versteigerung der Sammelrechte am Seetang innerhalb des Dorfes. Nur Mitglieder der Tempelkorporation können mitbieten.
5 Land stellt eine Ausnahme dar, ist aber ökonomisch in Niaoyu von untergeordnetem Interesse.
Jeder Haushalt besitzt formell gleiche Rechte an der Ausbeute der wirtschaftlichen Ressourcen.
Die Idee gleicher Nutzungsrechte findet ihren Ausdruck auch in einer monatlichen Verlosung der zum Eigentum des Tempels gehörenden Fisch
gründe unter den Bootsgruppen - was sicherstel
len soll, daß keine der Gruppen bevorzugt oder benachteiligt wird - sowie einer besonderen Abga
be, die Bootsgruppen als Hauptprofiteur der wirt
schaftlichen Ressourcen an den Tempel entrichten müssen.
Wie die Haushalte diskriminiert die Tempelkorpo
ration auf der Basis von Alter, Familienstatus und Geschlecht: Frauen sind grundsätzlich von Äm
tern ausgeschlossen, für Männer stellt die Voraus
setzung zur Übernahme eines Amtes die Heirat und das Erreichen eines bestimmten Alters dar.
Politische Macht innerhalb des Dorfes ist in die Ämter des Tempels investiert. Neben den Dorfäl
testen ist das in neuerer Zeit das „Komitee für öf
fentliches Eigentum“ (gongchan weiyuan hui), eine Gruppe von neun Männern, die exklusiv mit der Verwaltung des Vermögens der Tempelkorpo
ration beauftragt sind. Diese werden von den drei jia, Untereinheiten des Tempels, für jeweils drei Jahre gewählt. Wie das von Norma Diamond be
schriebene taiwanesische Fischerdorf „K’un Shen“
ist Niaoyu eine „Tempelgemeinde“: „Die stärkste Organisationskraft im Dorf besitzt sein wichtigster Tempel“ (Diamond 1969: 77).
4. Wandel der sozialen Beziehungen infolge von Kommerzialisierung und
Technisierung
Aufgrund der einfachen Wirtschaftsstruktur war die Dorfgemeinschaft in der Vergangenheit beson
ders egalitär strukturiert. So gab es nur geringe Einkommensunterschiede und insbesondere kei
ne, in vielen Bauerndörfern Südostchinas herr
schenden, Klassenunterschiede wie zwischen Großgrundbesitzern und Pächtern. Die zuneh
mende Kommerzialisierung der Produktion seit 1933, insbesondere die Einführung moderner Fi
schereitechnik zu Beginn der achtziger Jahre, führ
te in Niaoyu zu einer klassischen Folge sozialen Wandels: der Zunahme sozialer Ungleichheit. Ei
gentümer von Netzbooten profitierten am meisten von diesen Veränderungen. Durch ihren wirt
schaftlichen Erfolg besaßen Bootsbesitzer allge
mein „Gesicht“ in der Dorfgemeinschaft und wur
den in die modernen haushaltsübergreifenden Or
ganisationen, wie das „Komitee für öffentliches
Eigentum“, gewählt. In dieser „modernen“ Orga
nisation, deren Einrichtung die nationalchinesi- sche Regierung nach dem zweiten Weltkrieg zu ei
ner gesetzlichen Pflicht für Tempel ab einer be
stimmten Größe machte (Feuchtwang 1974: 285- 286, Seaman 1978: 69-70), konnten die erfolgrei
chen Bootseigentümer ihre wirtschaftliche Macht und ihren Einfluß in der Dorfgemeinschaft durch die Übernahme eines politischen Amtes formali
sieren.
Mit zunehmender sozialer Stratifizierung stiegen jedoch auch die sozialen Spannungen innerhalb der Dorfgemeinschaft. Jede technische Verbesse
rung der Fischereimethoden verschärfte die Dis
krepanz zwischen formell gleichen Rechten aller am Eigentum des Tempels und der tatsächlich un
gleichen Ausbeute der wirtschaftlichen Ressour
cen. Die Konflikte verschärften sich, als Einkom
mensverbesserungen durch die Erhöhung der Fangquote Mitte der achtziger Jahre von den negativen Folgen technologisierter und markt
orientierter Fischerei eingeholt wurden: Bald war die Meereszone um die Insel überfischt, so daß ressourcenerhaltende Maßnahmen nötig wurden, die den Fischfang zu bestimmten Jahreszeiten ein
schränkten. Dazu kooperierten die Fischer Niao- yus mit den benachbarten Fischerdörfern. Die Fol
ge der Ressourcenverknappung war ein steigendes ökonomisches Risiko für Haushalte, die ihren Le
bensunterhalt primär aus der Fischerei bestritten.
Wesentlich zur Profitminderung der Fischerei trug auch bei, daß die taiwanesische Regierung 1991 den Import dieser Fischsorte aus den Philippinen erlaubte, wodurch der Marktpreis verfiel (Chen 1992: 133). Für die meisten Familien im Dorf wur
de ein ausreichendes monatliches Einkommen im
mer unsicherer. Viele Familien verließen deshalb die Insel und zogen in die Wirtschaftszentren Tai
wans.
Die sinkende Rentabilität der Fischerei und Res
sourcenverknappung verschärfte die Konkurrenz zwischen den Bootsgruppen der Insel um die Aus
beute der Fischgründe. In diesem Konkurrenzkli
ma mußten sich viele Bootsgruppen auflösen und Eigentümer ihre Boote verkaufen. Von ehemals 32 Bootsgruppen im Jahre 1988 (Chen 1992:132) exi
stierten nur noch 24 im Jahre 1991, die Zahl der Bootsgruppen nahm damit in nur drei Jahren um 25% ab. Mit der Überfischung der Gewässer trat damit die Situation ein, in der der ökonomische Erfolg einer Bootsgruppe den Mißerfolg anderer implizierte. Diese Situation ist nach Paul Alexan
der (1982) eine typische Folge der Einführung mo
derner Technik in „bäuerlichen Fischergruppen“,
wo Haushalte, die den Arbeitseinsatz oder den die Investition in Geräte erhöhen, dadurch profitie
ren, daß sie sich einen größeren Anteil an den Res
sourcen sichern. Da sich die Menge der Ressour
cen - der Fische - jedoch insgesamt nicht ändert, vermindert sich der Profit aller anderen Haushal
te, während der Haushalt, der dafür verantwort
lich ist, seinen Profit erhöht. Dieses Problem ist besonders unter marktwirtschaftlichen Bedingun
gen gegeben, denn erst dann existieren sowohl der Anreiz (die Nachfrage auf dem Markt), als auch die Möglichkeiten (moderne Technik), die zu einer Erhöhung der Fangquote führen.
Profit auf Kosten des anderen zu machen ist die Essenz von Beziehungen, für die Sahlins den Be
griff „negative Reziprozität“ geprägt hat. „Negati
ve“ bzw. „balancierte“ Reziprozität kennzeichnen nach Sahlins unterschiedliche soziale Beziehun
gen: Während Beziehungen zu Außenstehenden oft durch negative Reziprozität gekennzeichnet sind bzw. durch den Wunsch, den größten Profit herauszuschlagen, ist innerhalb der Verwandt
schaft oder der Nachbarschaft, in der eine Ver
pflichtung zur gegenseitigen Hilfe besteht, ausge
wogene Reziprozität der primäre Wert (Sahlins 1965). Infolge von Kommerzialisierung und Tech
nisierung der Fischerei verkleinerte sich in zuneh
mendem Maße der Zirkel balancierter Reziprozi
tät innerhalb der Dorfgemeinschaft. Konflikt und Konkurrenz bedrohten die „Moralökonomie“
(Scott 1976) innerhalb des Dorfes, den Zusam
menhalt und die Solidarität der Dorfgemein
schaft.
In Niaoyu ging die Ausdehnung des Zirkels un
gleicher Reziprozität jedoch mit einem gestiege
nen Bedarf an Kooperation zwischen den Familien einher. Durch die Krise der Fischereiwirtschaft waren Bootsgruppen nicht nur in erhöhtem Maße auf die Solidarität ihrer Mitarbeiter angewiesen, auch der Weiterbestand der Dorfgemeinschaft als solcher war auf die Kooperation jedes Haushaltes im Ressourcenschutz angewiesen. Wie ich zeigen möchte, ist die Aufrechterhaltung der Koopera
tion und die Vermeidung von Konflikten zwischen den Familien Basis zweier Phänomene innerhalb des Dorfes, die den Frauen eine ganz neue Posi
tion innerhalb der öffentlichen Sphäre einräumte:
eine bilaterale Verwandtschaftspram im Kontext patrilinearer Verwandtschafts/deo/og/e und die Übergabe des Managements der Haushaltsfinan
zen sowie finanzieller Transaktionen zwischen Haushalten an die Frauen.
Susanne Brandtstädter: „Heute ernähren uns unsere Töchter* 295 4.1 Bilaterales Verwandtschaftsverhalten in den
ökonomischen Beziehungen der Familien Durch die Größe der Bootsgruppen, die die Ko
operation mehrerer Haushalte erfordert, und das Anteilssystem, durch das das Risiko des Fischfangs von allen Teilnehmern mitgetragen wird, sind die Haushalte der Insel im hohen Maße ökonomisch interdependent. Wirtschaftlicher Erfolg ist damit nicht allein auf Bootsbesitz, sondern auch auf die Verfügung über ein ökonomisches Beziehungsfeld zurückzuführen, durch das Arbeitskräfte rekru
tiert und gebunden werden können. Im Kontext von Patrilinearität und Patrilokalität besteht eine ideologische Präferenz zur Zusammenarbeit und Solidarität mit agnatischen Verwandten. Diese Zu
sammenarbeit involviert oft auch stark wirtschaft
liche Ziele: Lineages, korporativ verfaßte Grup
pen bestehend aus agnatischen Verwandten, wa
ren im spätkaiserlichen China besonders in den stark kommerzialisierten Provinzen Guangdong und Fujian ausgeprägt und mächtig, wo sie den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und Märk
ten kontrollierten (Freedman 1966).
Obwohl nicht alle Familien in Bootsgruppen invol
viert sind, gibt es Eigentümer in Niaoyu, die aus Ermangelung von Mitarbeitern ihr Boot nicht e r setzen können; es scheint daher keine einfache Aufgabe zu sein, Mitarbeiter zu finden. Mit dem steigenden wirtschaftlichen Risiko der Fischerei lohnt sich die Teilnahme an Bootsgruppen für Mit
arbeiter ohne Besitzanteil finanziell immer weni
ger, sie müssen häufig ihr Einkommen mit Angeln aufbessern. So erzählte mir ein Besitzer eines klei
nen Bootes, daß er finanziell darauf angewiesen sei, neben seiner nächtlichen Arbeit als Mitarbei
ter einer Bootsgruppe tagsüber angeln zu gehen, dabei hätte er in den letzten sechs Monaten etwa
$60.000 NT6 durch seine Mitarbeit in der Boots
gruppe, $30.000 NT durch Angeln verdient. Kapi
täne von Bootsgruppen beklagten sich dagegen über unzuverlässige Mitarbeiter, die in Zeiten schlechterer Einnahmen einfach nicht zur Arbeit kämen und so die ganze Gruppe vom Fischfang abhielten; darüber hinaus würden Mitarbeiter im
mer häufiger in Erwartung eines besseren Ein
kommens von einer Gruppe zur nächsten wech
seln. Mit der Krise der Fischereiwirtschaft und der zunehmenden Konkurrenz zwischen den Boots
gruppen wurde die Solidarität und Kooperation auch in Krisenzeiten die wichtigste Voraussetzung 6 New Taiwan Dollar. Einhundert NT Dollar entsprechen etwa 6 DM.
zum Bestehen einer Bootsgruppe, die Zuverlässig
keit eines Mitarbeiters wurde eines seiner wichtig
sten Merkmale.
1991 befanden sich in Niaoyu 6 von 10 Netzbooten im gemeinschaftlichen Besitz von Brüdern. Nach Aussagen der Dorfbewohner waren früher Mitar
beiter einer Bootsgruppe auch in der Hauptsache Agnaten der Bootsbesitzer. Schließt man Famili
enmitglieder der Bootsbesitzer aus, rekrutierten sich dagegen im Jahre 1991 59% der Mitglieder aus der affinalen Verwandtschaft7 und nur 23%
aus der agnatischen Verwandtschaft; 18% waren
„Freunde“ der Familie des Kapitäns.8 * Womit läßt sich diese besonders hohe Beteiligung affinaler Verwandter in den Bootsgruppen erklären?
Die von der patrilinearen Ideologie geforderte So
lidarität zwischen agnatischen Verwandten wird in der Praxis oft von einer stark ausgeprägten ökono
mischen Konkurrenz überlagert. So wie Lineage- mitglieder meist gegenüber Außenstehenden Ver
bündete, untereinander jedoch Konkurrenten sind (Watson 1985), so ist auch die ökonomische Zu
sammenarbeit verheirateter Brüder von einer gut funktionierenden wirtschaftlichen Basis dieser Kooperation abhängig. Ehefrauen, die weniger die wirtschaftlichen Interessen der Großfamilie als ganzer, als vielmehr die ihrer eigenen Kleinfamilie vertreten, setzen sich in wirtschaftlichen Krisen schnell für die Beendigung der Kooperation und die Trennung des gemeinsamen Haushalts ein (Cohen 1976). Auch die Kooperation von Freun
den, deren Solidarbeziehung auf individueller Zu
neigung, und nicht wie zwischen Affinalverwand- ten auf der kulturellen Verpflichtung zwischen zwei Gruppen beruht, erwies sich in Niaoyu als nur wenig stabil: sieben nach 1988 verkaufte Netzboo
te befanden sich im gemeinsamen Besitz von Freunden.
Während die Solidarität zwischen agnatischen Ver
wandten auf der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Patrilinie beruht, ist die Basis affinaler Be
ziehungen die Heirat. Der Austausch von Gütern und Bargeld während der Verlobungs- und Hoch
zeitszeremonien symbolisiert dabei die starke Ver
pflichtung der Brautnehmer gegenüber denjeni
gen, die ihnen eine Braut gegeben haben (Ahern 1974). Ökonomische Beziehungen zwischen Affi- 7 Ich unterscheide hier bewußt nicht zwischen affinalen und matrilateralen Verwandten, da, und das ist hier wich
tig, beide Verwandte über Frauen sind.
8 D iese Angaben stützen sich auf die Auswertung der per
sonellen Zusammensetzung von 16 Bootsgruppen in Niaoyu (n=136).
naiverwandten scheinen sich in Niaoyu stabiler in Krisenzeiten zu erweisen, da Bootsbesitzer auch im Kontext patrilinearer Verwandtschaftsstruktu
ren offensichtlich die Zusammenarbeit mit ange
heirateten Verwandten bevorzugen.
Eine Entwicklung verstärkt bilateralen Verwandt
schaftsverhaltens infolge von Marktanbindung und Industrialisierung ist auch in anderen Ge
meinden im urbanen und ländlichen Taiwan do
kumentiert worden (Schak 1991, Gallin/Gallin 1985), darüber hinaus in chinesischen Überseege
meinden, wie z. B. in Papua Neuguinea (Inglis 1991). Bernard und Rita Gallin, die diese Ent
wicklung in dem Dorf „Hsin Hsing“, Taiwan, fest
stellten, erklären sie mit der in der modernen Marktwirtschaft entstandenen Notwendigkeit, Be
ziehungen jenseits der Dorf- und Lineagegrenzen zu schaffen, die in der Hauptsache nicht politi
scher Macht, sondern der sozioökonomischen Ab
sicherung der Dorfbewohner dienen (Gallin/Gal
lin 1985: 107). In Niaoyu, wie wir gesehen haben, sind jedoch Solidarbeziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft von besonderem ökonomi
schen Interesse. Eine verstärkte ökonomischen Kooperation mit Affinalverwandten scheint des
halb nicht nur aus externen Strukturen (moderne Marktwirtschaft) ableitbar zu sein. Meine These ist, daß der Wandel zu bilateralem Verwandt
schaftsverhalten in Niaoyu seine Begründung auch in den indigenen Strukturen findet: Die Be
ziehung mit angeheirateten Verwandten erweist sich als stabiler, weil im Unterschied zu der Bezie
hung zwischen Agnaten die Beziehung zwischen Affinalverwandten einen Dritten, nämlich die Frau, involviert, deren „Gabe“ diese Beziehung etabliert.9 Da Frauen jedoch nicht nur Tauschob
jekte sondern auch handelnde Subjekte sind, tre
ten sie als in Affinalbeziehungen als Vermittlerin
nen auf: Frauen etablieren in Niaoyu dabei nicht nur häufig die Arbeitsbeziehung selbst, indem sie Mitglieder ihrer Geburtsfamilie vorschlagen, son
dern können auch als „go-between“ in Krisen auf- treten, da sie, im Unterschied zu Beziehungen zwischen Agnaten, in ökonomischen Beziehungen zwischen Affinalverwandten beiden Seiten ver
pflichtet sind. Affinalbeziehungen sind dadurch doppelt „gesichert“: sie basieren einerseits auf ei
ner aus dem Tausch einer Frau entstandenen Ver
pflichtung zwischen beiden Familien; andererseits
9 Zur Bedeutung der Frau als „Gabe“, über die gesell
schaftliche Beziehungen geschlossen werden, s. Levi- Strauss 1993 (1949).
auf der aktiven Vermittlung der Frau, die mit bei
den Familien verwandt ist.
Die Einbindung der dörflichen Wirtschaft in die moderne Marktwirtschaft führte demnach in Niao
yu zu einer starken Differenz zwischen „offizieller Verwandtschaft“ und „Gebrauchsverwandt
schaft“,10 der Gruppe der Verwandten, auf die ein Haushalt zur Sicherung des täglichen Lebensun
terhaltes zurückgreift. Während sich Beziehungen mit Affinalverwandten typischerweise im rituellen Bereich von Heirat, Geburt, und Tod manifestie
ren, so bedeutet die „Aktivierung“ dieser Bezie
hungen im ökonomischen Kontext, daß Frauen als
„Brücken“ zu den Affinalverwandten, als aktive Vermittlerinnen in Arbeitsbeziehungen und als wesentliche „Sicherung“ dieser Beziehungen eine Schlüsselposition in dem ökonomischen Bezie
hungsfeld der Haushalte und damit der dörflichen Wirtschaft einnehmen.
4.2 Die „Domestizierung“ des Geldes durch die Frauen
Die wachsende Bedeutung der Frauen in Niaoyu als Vermittlerinnen in ökonomischen Beziehungen findet ihr Gegenstück in der Tatsache, daß Männer im Dorf zumeist die Verwaltung der Haushaltsfi
nanzen an ihre Frauen abgeben, sowie abgeneigt sind, in finanzielle Transaktionen zwischen Haus
halten der Dorfgemeinschaft involviert zu werden.
Während meines Aufenthalts in Niaoyu stellte ich fest, daß es in der Regel Frauen waren, die das Geld der Familien verwalteten. So wurden in der Familie, in der ich während meiner Forschung leb
te, die Gesamteinnahmen an die verwitwete Mut
ter weitergegeben. Diese verwaltete die Haus
haltsfinanzen und organisierte den Kauf von Le
bensmitteln, Haushaltsgeräten und Kleidung für die ganze Familie. Während ein kleinerer Teil der Einkünfte an die drei, im gleichen Haushalt leben
den Schwiegertöchter weitergegeben wurde, führ
ten die Männer der Familie nur ein Taschengeld mit sich. Auch die fast ausschließliche Beteiligung von Frauen in dem im Dorf existierenden Kredit
10 Beide Begriffe stammen von Pierre Bourdieu, der zwi
schen Gebrauchsverwandtschaft und offizieller Verwandt
schaft unterscheidet: „Die offizielle Verwandtschaft ist ein unveränderliches Ganzes, ein für allemal durch die proto
kollarischen Normen der Genealogie festgesetzt; die Grenzen und Definitionen der Gebrauchsverwandtschaft dagegen sind ebenso zahlreich und wechselnd wie die Per
sonen, die sie gebrauchen, und die Anlässe, bei denen sie gebraucht wird.“ (Bourdieu 1976: 75)
Susanne Brandtstädter: „Heute ernähren uns unsere Töchter1 297 vereinen,11 in die sie das Geld ihrer Familie inve
stierten, läßt den Schluß zu, das die Verwaltung der Familienfinanzen durch die Frauen keine Aus
nahme im Dorf darstellt. Als Begründung dieser Situation erhielt ich während meiner Forschung die Antwort, daß Männer die Involvierung in fi
nanzielle Transaktionen innerhalb des Dorfes „be
schämt“. Nach Aussage der Frauen des Dorfes wa
ren es in der Vergangenheit jedoch wesentlich mehr Männer, die das Geld einer Familie verwal
teten. Die Frauen begründeten diese interessante Entwicklung in den Familien mit der Tatsache, daß man früher nichts auf der Insel selbst kaufen konn
te. Die Männer, die durch den Handel mit Fischen häufiger nach Magong zum Markt kamen, kauften damals dort gleichzeitig die notwendigen Lebens
mittel ein. Außerdem hätten Frauen früher nicht rechnen und darum finanzielle Angelegenheiten nicht übernehmen können.
Diese plausible Begründung erklärt allerdings nicht, warum Männer die Finanzverwaltung in der Folge an die Frauen abgaben, insbesondere bietet sie keine Erklärung dafür, warum Männer nun die Involvierung in finanzielle Transaktionen im Dorf
„beschämt“. Ich vermute dagegen, daß auch diese Entwicklung auf die Zunahme sozialer Ungleich
heit und die daraus resultierenden Konflikte inner
halb des Dorfes zurückzuführen ist. Während in Arbeitsbeziehungen Solidarität weitgehend eine Funktion der Verwandtschaft ist, ist auf Dorfebe
ne - wie im Ressourcenchutz - Solidarität auch zwischen nicht-verwandten Haushalten notwen
dig. Die Kooperation zwischen nicht-verwandten Haushalten, der Unterordnung individueller Inter
essen unter das Gemeinwohl, sind abhängig von der Identifikation des Einzelnen mit der Dorfge
meinschaft. Kollektive Identitäten in Niaoyu beru
hen wesentlich auf der Idee der Gleichheit aller Familien des Dorfes. So wurde mir gegenüber mehrfach betont: „Wir sind alle gleich, wir sind alle Fischer“. Diese Aussage spiegelt die einfache Wirtschaftstruktur der Insel und gleiche Anrechte aller auf das Eigentum der Tempelkorporation wi- 11 * 11 Im August 1991 exitierten zwischen 30 und 40 Kredit
vereine (genhui) in Niaoyu mit durchschnittlich 45 Mit
gliedern. Kreditvereine dienen hauptsächlich dazu, kurz
fristige Kredite zur Finanzierung eines Bootes, Hauses o.ä. zu erhalten, in Zeiten geringer Einnahmen aus dem Fischfang auch dazu, das monatliche Einkommen einer Familie zu aufzubessern. Für Dorfbewohner, die nicht auf einen Kredit angewiesen sind, stellt die Beteiligung an ei
nem Kreditverein eine Investitionsmöglichkeit dar. Zur Funktionsweise der Kreditvereine siehe Brandtstädter 1994: 90ff.
der. Sie negiert dabei Differenzen im Vermögen der Familien, deren sich die Dorfbewohner jedoch sehr wohl bewußt waren. Die Identität der Dorfge
meinschaft als einer „Gemeinschaft von Gleichen“
und die Gefahr, die von individuellem Gewinnstre
ben für das Gemeinwohl ausgeht, führt dazu, daß wirtschaftlich besonders „aktive“ Familien mit Mißtrauen beobachtet werden und übler Nachre
de ausgesetzt sind. Die betroffenen Familien ver
suchen auf verschiedenen Wegen, einer negativen Reputation entgegenzuwirken: In einem Fall ve- suchte eine Familie, die in mehr Kreditringe des Dorfes investierte, als als „normal“ galt, dies durch einen falschen Namen zu verbergen. In einem an
deren Fall besaß eine Familie den Ruf „geldgierig“
zu sein, da sie selbst bei schlechtem Wetter zum Fischfang fuhr, während die meisten anderen Fi
scher an Land blieben. Sie waren jedoch die einzi
gen, die sich verpflichtet fühlten, einem der ärm
sten Mitglieder der Dorfgemeinschaft zu helfen.
Dieser Mann, der in Scheidung lebte, hatte schon mehrere Haftstrafen hinter sich und war fast unun
terbrochen betrunken. Die Familie gab ihm trotz
dem Arbeit auf ihrem Boot und teilte auch häufig die Mahlzeiten mit ihm, etwas, wozu selbst die Ver
wandten des Mannes keine Verpflichtung empfan
den. Sie begründeten mir gegenüber ihr Verhalten damit, daß sie - im Unterschied zu anderen Be
wohnern - ein „gutes Herz“ hätten. Insbesonders das gemeinsame Essen, das diesen Mann symbo
lisch in die Familie integrierte, legt jedoch nahe, daß der eigentliche Grund dieser Hilfe der Ver
such war, einer negativen Reputation entgegenzu
wirken und die Zugehörigkeit zur Solidargemein- schaft zu demonstrieren.
Die Abneigung der Männer, in finanzielle Trans
aktionen zwischen Haushalten involviert zu wer
den, die individuellen Profit zum Ziel haben, läßt sich auf den gleichen Grund zurückführen. Durch ihre Position als Teilhaber am Eigentum eines Haushalts sind Männer Repräsentanten der Haus
halte, im Gegensatz zu Frauen besetzen sie formel
le Positionen in den politischen Strukturen des Dorfes und der Familien. Als Statusträger inner
halb des Dorfes „schämen“ sich Männer, in finan
zielle Transaktionen involviert zu werden, die mit negativer Reziprozität assoziiert werden und die dadurch eine Gefahr für die Kooperation und Soli
darität zwischen Haushalten bilden. Frauen sind dagegen von mit formaler Autorität ausgestatteten Positionen in Familie und Tempelkorporation aus
geschlossen. Durch ihre daraus resultierende
„Gleichheit“ gegenüber diesen formellen Autori
tätsstrukturen und ihre Vermittlerfunktion sind sie
die eigentlichen Träger der dörflichen „Moralöko
nomie“: Im Kontext ortsendogamer Heiraten stif
ten sie Solidarbeziehungen zwischen den Familien des Dorfes; Frauen vermitteln in Arbeitsbeziehun
gen und ausschließlich Frauen beteiligen sich an dem unbezahlten, reziproken Arbeitsaustausch zwischen Haushalten. Die Vermeidung finanzieller Transaktionen durch Männer und die Übernahme dieser Transaktionen durch die Frauen läßt sich hier als symbolische Strategie verstehen, einem Verlust an „Gemeinschaft“ durch die Zunahme so
zialer Ungleichheit entgegenzuwirken.12 Für die Frauen des Dorfes bedeutete dieser Wandel eine weitere Ausdehnung ihres Einflußbereiches in den Familien.
Die Verschiebung systemtragender sozialer Bezie
hungen zwischen den Haushalten in Niaoyu von androzentrischen (in der Hauptsache männlichen) Beziehungen zu Beziehungen, in denen Frauen das zentrale Bindeglied darstellen, führt zu einer verstärkten Einbindung von Frauen in die öffentli
che Sphäre des Dorfes, zum Gegenteil dessen, was unter „Hausfrauisierung“ verstanden wird. Wie lassen sich die Ausweitung der Einflußsphäre von Frauen innerhalb des Dorfes, ihre starke Präsenz im Dorf mit der augenscheinlichen „Verdrängung“
von Frauen in der Fischereiwirtschaft in Einklang bringen, die anfangs angesprochen wurde? Die Verdrängung von Frauen aus einer traditionell männlichen Domäne und der wichtigsten Art der Warenproduktion der Insel infolge der Technisie
rung der Fischerei scheint hier eher zu einem Sta
tusverlust von Frauenarbeit beigetragen zu haben.
Auch in diesem Falle muß man sich die Verände
rungen der Einkommenssituation jedoch insge
samt ansehen, um diese Aussage treffen zu kön
nen.
5. Der neue Beitrag der Frauen zum Familieneinkommen - Wandel der innerfamiliären Beziehungen
Nachdem Frauen ihre Arbeitsplätze in den Boots
gruppen verloren hatten, migrierten die unverhei
rateten Frauen in großer Zahl nach Taiwan. Dort nahmen sie in der Regel Arbeit in Fabriken an.
Der Umfang der Arbeitsmigration zeigt sich darin, 12 Nach Abner Cohen nimmt der Bedarf an symboli
schem Ausdruck der Gemeinschaft dann zu, wenn die tat
sächlichen Fundamente der Gemeinschaft durch struktu
relle Ausdifferenzierung unterminiert oder andersweitig geschwächt werden (Cohen 1985).
daß 1991 nur drei unverheiratete Frauen im hei
ratsfähigen Alter in Niaoyu lebten, zwei davon wa
ren leicht geistesbehindert, die dritte bereits ver
lobt. Im Gegensatz dazu gab es 65 Haushalte im Dorf, deren unverheiratete Töchter in Taiwan ar
beiteten. Als Begründung der Migration wurden mir gegenüber immer wieder die Annehmlichkei
ten des Stadtlebens für junge Frauen betont und auf die Langeweile und körperliche Belastung des Landlebens hingewiesen. Obwohl das durchaus ein Motiv vieler Frauen zur Migration nach Tai
wan sein mag, erscheint es jedoch unwahrschein
lich, eine Abwanderung in diesem Umfang allein auf persönliche Gründe zurückführen zu können.
Das chinesische Gebot der Kindespietät, das den Kindern auferlegt, ihr Leben lang eine Schuld de
nen gegenüber abzutragen, die sie aufgezogen ha
ben, und die Verfassung des Haushalts als Resi
denz- und Wirtschaftseinheit13 verlangt von den in Taiwan arbeitenden, unverheirateten Töchtern, den Großteil des von ihnen verdienten Geldes an ihre Familien abzuführen. In allen mir bekannten Fällen leisteten die in Taiwan arbeitenden Töchter nicht nur diesen Beitrag, sie taten dies offensicht
lich auch in größerem Umfang als unverheiratete Söhne. Eine Frau, deren eigene Töchter in Taiwan arbeiteten, schätzte in einem Gespräch, daß Töch
ter 70% ihres Einkommens nach Hause schicken, Söhne dagegen nur 30%. Ihr Mann bemerkte dazu, daß Töchter Eltern gegenüber pietätvoller (xiao shun) seien.14 Für die Familien stellt dieser Geldtransfer eine wichtige Einnahmequelle dar, die gerade im Zuge der Krise der Fischereiwirt
schaft eine besondere Bedeutung erhielt. Um nicht mehr allein von der Fischerei abhängig zu sein, die nur noch eine unzureichende ökonomische Sicher
heit bot, mußten die Familien des Dorfes ihre wirt-
13 Aus einem Haushalt „entlassen“ und damit aus der Verpflichtung, sein Einkommen in einen gemeinsamen
„Pool“ einzuzahlen, wird man erst, im Falle eines Sohnes, durch eine formelle Haushaltsteilung, im Falle einer Toch
ter, durch eine Heirat. Symbolisiert wird die Haushaltstei
lung durch getrennte Kochstellen. Arbeitsmigration als solches ändert daher nichts an der Zugehörigkeit zu ei
nem Haushalt.
14 Der Unterschied im Verhalten von Töchtern und Söh
nen läßt sich wohl damit erklären, daß Töchtern eine ge
ringere Zeit zur Abzahlung der „Schuld“ gegenübern den Eltern zur Verfügung steht. Während Söhne im Kontext von Patrilinearität und Patrilokalität ihr gesamtes Leben zur finanziellen Unterstützung der Eltern verpflichtet sind, endet für die Töchter diese Pflicht mit der Heirat, wenn die Rechte an der Arbeitskraft einer Frau an die Fa
milie des Ehemannes übergehen.
Susanne Brandtstädter: „Heute ernähren uns unsere Töchter“ 299 schaftliche Basis erweitern und einen Zugriff auf
andere Einnahmensquellen sichern. Da dies in Niaoyu nur in geringem Umfang möglich ist,
„schickt man seine Töchter nach Taiwan, wenn die Einnahmen aus dem Fischfang nachlassen“. Die Familien besitzen durch die Fabrikarbeit der Töchter die Sicherheit geregelter Einkünfte, die ihnen der Fischfang nicht mehr bietet. So war in den von mir untersuchten Fällen in der Regel das Einkommen der Familien aus der Fabrikarbeit der Töchter dem Einkommen aus der Fischerei gleich
wertig oder überstieg es (vgl. Brandtstädter 1994:
83-84). Welche Bedeutung dem Verdienst der Frauen heute zukommt, spiegelt besonders ein
drücklich der Satz wider, mit dem eine Frau die Si
tuation in der Vergangenheit mit der Situation im Jahre 1991 verglich: „Früher hat uns das Meer er
nährt, heute ernähren uns unsere Töchter“.
Wie sah im Vergleich dazu die Einkommenssitua
tion der verheirateten Frauen aus, der Frauen, die in Niaoyu lebten? Auch sie trugen auf unter
schiedlichste Weise zum Familieneinkommen bei:
Meist sammelten sie Muscheln am Strand, die sie an Händler in Niaoyu verkauften; sie verkauften im Sommer Obst und Gemüse von Handwagen in den Straßen, reparierten als Tagelöhner Netze, trockneten oder handelten mit Fischen. Die zwölf kleinen Läden im Dorf wurden ausschließlich von Frauen geleitet. Darüber hinaus stellte in der Zeit zwischen November und Dezember das Sammeln von Seetang auf den unbewohnten Inseln um Nia
oyu eine wichtige Einnahmequelle von Frauen dar.
Jeweils etwa zehn Frauen arbeiten dabei in einer Gruppe zusammen. Nach meinem Eindruck ver
dienen Frauen in Niaoyu nur dann kein eigenes Geld, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben oder kleine Kinder betreuen müssen.
Interessant ist hier, daß die meisten dieser Ein
kommensquellen von Frauen sich erst in jüngerer Zeit ergeben haben. Muscheln können die Frauen erst seit etwa 1984 finanziell lohnend verkaufen.
Seit dieser Zeit stieg der jährliche Touristenstrom aus Taiwan auf die Penghu-Inseln, was zu einer er
höhten Nachfrage nach Meeresfrüchten führte, die den Preis der Muscheln in die Höhe trieb (Chen 1992: 134). Das Entstehen eines Marktes für ein ursprünglich der Familiensubsistenz dienendes Produkt führte hier zu einer eigenständigen, von Männern unabhängigen Verdienstmöglichkeit für Frauen. Auch die von Frauen geleiteten kleinen Läden gibt es erst seit etwa zwölf Jahren. Eine ebenso „moderne“ Entwicklung ist das Sammeln von Seetang auf Lohnbasis. Anfang der achtziger Jahre beschloß die Tempelkorporation, Rechte am
Sammeln von Seetang nicht mehr jedem erwachse
nen Mann (ding) zu übertragen, sondern die Sam
melrechte einmal im Jahr an den Meistbietenden zu übertragen. Um dies finanzieren zu können, schließen sich Haushalte in Gruppen zusammen.
1991 wurden die Rechte an insgesamt sieben Par
teien verteilt. Obwohl meist Männer als Repräsen
tanten der Familien die Rechte ersteigern, waren 1991 auch erstmals drei Frauen an diesen Gruppen beteiligt. Diese Entwicklung spiegelt die gewach
sene wirtschaftliche Macht der Frauen und ihre größere Präsenz innerhalb des Dorfes wider.
Anstatt also bloß eine Verdrängung der Frauen aus den Bootsgruppen mit sich zu bringen, eröff- nete wirtschaftlicher Wandel den Frauen Niaoyus neue Verdienstmöglichkeiten. Das Einkommen der Frauen ist heute meist regelmäßiger als das der Männer. Frauenarbeit liefert hier die in der moder
nen Marktwirtschaft wesentliche Erweiterung der wirtschaftliche Basis der Familien. Der finanzielle Beitrag der Frauen erfuhr demnach in dem Maße eine Aufwertung, in dem durch die Krise der Fi
scherei der Beitrag der Männer eine Abwertung erfuhr. Dieses eigenständige Einkommen nutzen heute verheiratete Frauen auch, um - im krassen Bruch mit der „Tradition“ - auch nach ihrer Heirat und ritueller „Inkorporation“ in die Familie des Mannes ihre eigenen Eltern in unregelmäßigen Abständen finanziell zu unterstützen.
Dieser Bruch mit der dominanten patrilinearen Ideologie läßt aus der Aussage „Früher ernährte uns das Meer, heute ernähren uns unsere Töchter“
noch eine weitere Dimension des Wandels, einen Wandel der Identität von Töchtern herauslesen.
Der antizipierte Bruch in den Beziehungen zwi
schen einer verheirateten Frau und ihrer Geburts
familie war ein wesentlicher Grund der Bevorzu
gung von Söhnen, da nur sie eine soziale Sicherheit für ihre Eltern im Alter darstellten. Mit der Verla
gerung dieser Beziehungen sozialer Sicherung auf die Töchter wird dieser Bevorzugung von Söhnen ein Großteil ihrer Grundlage entzogen. Pejorati
ven chinesischen Redewendungen, die Töchter als
„verschüttetes Wasser“ bezeichneten bzw. ihre Aufzucht mit einer Fehlinvestition verglichen („Güter, an denen man verliert“), fehlt in Niaoyu heute die reale Basis.
6. Frauen als „social agents“: Einfluß auf Familienstrukturen
Sollen Frauen nicht nur als passive Rezipienten des Wandels verstanden werden, dann stellt sich