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Soziale Gerechtigkei t als Streitthem a- Das Gemeinsame Wort der K irchen

Ein Phantombegriff geistert durch politische Reden:

soziale Gerechtigkeit. Was das genau ist, meinen viele zu wissen, wie sie allerdings auf Zukunft hin herzustellen sei, können die wenigsten vorher-

sagen. Was verbirgt sich in der Worthülse? Der Sozial-

ethiker Andreas Lienkamp analysiert das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen.

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caritas in NRW 3/2000

nunmehr gut drei Jahren, im Frühjahr 1997, wurde das öku- menische Wirtschafts- und Sozialwort .. Für eine Zu- kunft in Solidarität und Ge- rechtigkeit" (ZSG) der Öffent- lichkeit vorgestellt. Es ist die Frucht eines für die bundes- deutschen Kirchen bislang einmaligen Konsultationspro- zesses, eines breit angelegten innerkirchlichen wie innerge- sellschaftlichen Beratungsver- fahrens. In seinem dritten und vierten Kapitel präsentiert die- ses wegweisende Dokument Prinzipien und Maßstäbe, die .unabdingbare Voraussetzung für eine solidarische und zu- ku nftsgerech te Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sind"

(ZSG Vorwort). Dabei spielt der Begriff der Gerechtigkeit

eine zentrale Rolle: Zielper- spektive des Gemeinsamen Wortes ist "ein größeres Maß an soZialer Gerechtigkeit" in Deutschland, Europa und der Einen Welt (ZSG 31).

Warum aber fügt der Text dem Substantiv "Gerechtigkeit" das Beiwort "sozial" hinzu? Ist der Begriff nicht von sich aus im- mer schon gesellschaftsbezo- gen? Vermutlich soll mit dem Adjektiv .sozial'' das Neue ge- genüber dem überlieferten Verständnis von Gerechtigkeit als einer der klassischen vier Kardinaltugenden, d. h. je neu einzuübenden HaLtungen des Einzelnen, aufgezeigt werden.

Demgegenüber wird der Aus- druck heute vor allem zur ethischen Bewertung und Ori- entierung sowohl gesellschaft- licher und internationaler Be- ziehungen als auch soZialer Regeln, Institutionen, Struk-

turen und Systeme sowie (im weitesten Sinne) politischer Praxis verwendet. Diesem Be- griffsinhalt geben die Kirchen den systematischen Vorrang gegenüber seinem tugendethi- schen Pendant, ohne damit die Bedeutung individuelle;

Gerechtigkeit aus dem Blick zu verlieren (ZSG 128).

Eingang in die katholische So- zialverkündigung fand der im

19. Jahrhundert geprägte Ter- minus der .sozialen Gerech- tigkeit" durch Pius XI .. der ihn in seinem Rundschreiben .Quadragesimo anno" von 1931 - neben der sozialen Lie- be - als regulatives Prinzip d. h. als ethischen Maßstab für Wirtschaft und Gesell- schaft (QA 88, 126) einführte Vor allem mit dem Pontifikat Johannes' XXIII. (1958-1963 und dem Zweiten Vatikani-

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sehen Konzil ( 1962-1965) be- gann der Ausdruck dann sei- nen Siegeszug innerhalb der universal- und regionalkirchli- chen Sozialverkündigung. un- ter Ausweitung vor allem auf die internationalen Beziehun- gen.

Gerechtigkeit

fordert Parteinahme Das Gemeinsame Wort for- dert. "bestehende Diskriminie- rungen aufgrund von Un- gleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und gleich- wertige Lebensbedingungen zu ermöglichen· (ZSG 111).

Soziale Gerechtigkeit. so fährt das Dokument fort. habe an- gesichts real unterschiedli- cher Ausgangsvoraussetzun- gen völlig zu Recht den Cha- rakter der Parteinahme für al- le, die auf Unterstützung und Beistand angewiesen seien.

.. Sie erschöpft sich nicht in der persönlichen Fürsorge für Be- nachteiHgte, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für den Mangel an Teilhabe und Teilnahme an gesellschafUichen und wirt- schaftlichen Prozessen" (ZSG

113). Ausgehend von der be- gründeten Annahme. dass Er- werbsarbeit auch zukünftig

"für die meisten Menschen den bei weitem wichtigsten Zugang zu eigener Lebensvor- sorge und zur Teilhabe am ge- sellschaftlichen Leben schafft"

(ZSG 151). setzt das Gemein- same Wort vor allem auf den Ausbau von Bildung und Be- schäftigung (ZSG 113).

Gerechtigkeit zwischen den Generationen fordert die finanzielle und soziale Absi-

cherung alter Menschen, ohne den nachwachsenden Generationen einen Schul-

denberg zu hinterlassen.

und die Armen?

In vielen Bereichen tun sich prekäre Gerechtigkeitslücken auf: nicht nur hinsichtlich Einkommen und Vermögen, sondern auch in Bezug auf den Zugang zu Erwerbsarbeit, Bildung und Wohnung sowie

im Blick auf deren Verteilung zwischen Männern und Frau- en. Kinderlosen und Familien, zwischen Nord und Süd, West und Ost sowie nicht zuletzt zwischen den jetzt Lebenden und den nachfolgenden Gene- rationen. Gerechtigkeit muss deshalb sowohl räumlich als auch zeitlich konkretisiert werden.

Frage:

Nützt es den Armen?

Im Sinne der Option für die Armen fordert das Gemeinsa- me Wort. dass "alles Handeln und Entscheiden in Gesell- schaft. Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen wer- den [muss], inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortli- chem Handeln befähigt". Ziel ist es, .Ausgrenzungen zu überwinden und alle am ge- sellschaftlichen Leben zu be- teiligen" (ZSG 107). Es ist kein Zufall, dass die von der Kom- mission Vl der Deutschen Bi-

Schofskonferenz einberufene Expertengruppe in ihrem (an- sonsten umstrittenen) Memo- randum " Mehr Beteiligungsge- rechtigkeit" (1998) gerade die- sen sozialethisch höchst be- deutsamen Passus fast wört- lich aufgriff. Denn Armut wird hier primär unter der Perspek- tive des Ausschlusses bzw.

der Nichtbeteiligung in den Blick genommen (Die deut- schen Bischöfe - Kommission für gesellschaftliche und so- ziale Fragen. Heft 20, 6).

Dabei stand insbesondere der Hirtenbrief der US-amerikani- schen Bischöfe " Wirtschaftli- che Gerechtigkeit für alle"

(1986) Pate. der der Beteili- gungsgerechtigkeit eine be- deutende Funktion bei der Entfaltung des Konzepts so- zialer Gerechtigkeit zugewie- sen hatte. Ziel ist es auch hier, die BetroiTenen zu Betei- ligten zu machen, die Chan- cen der jeweils Schwächeren zu verbessern und die Armen und Ausgeschlossenen soweit wie möglich in den Stand zu setzen, sich von Objekten der Fürsorge zu Subjekten ihrer eigenen Zukunft zu ent- wickeln. Dennoch \vird es auch bei noch so großen bil- dungs- und beschäftigungspo- litischen Anstrengungen wei- terhin Menschen geben. die

weder die steigenden Kom- petenzanforderungen erfüllen noch in den enger werdenden Erwerbsarbeitssektor integ- riert werden können (oder wollen). ln diesen Fällen ver- langt die der Beteiligungs- Gerechtigkeit entsprechende Verteilungs-Gerechtigkeit. dass.

SOZIALE

GERECHTIG- KElT?

' '

Mangelnde Gerechtig- keit ist Folge davon, dass die Verhältnismäßigkei- ten nicht mehr gewahrt sind bei denen, die eine Mitarbei- ter-Abfindung von 60 Millio- nen zahlen und erhalten.

Hierbei driften Lebenswelten der Gesellschaft auseinan- der, denen es an gemeinsa- men Orientierungspunkten fehlt. Das macht es zuneh·

mend schwieriger, Verständ- nis für unterschiedliche Le- bensgeschichten zu finden und eine Verständigung darü- ber zu erzielen, wie gerechte- re Verhältnisse geschaffen werden können. Aufgabe der Caritas ist es, eine Vermitt- Iung zwischen den Lebens- weiten herzustellen. ' '

Bemhard Verholen, Geschäftsführer Caritasverbandfür die Regionen Aachen-Stadt und Aachen-Land e. V.

caritas in NRW 3/2000 17

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wo immer die Leistungen der sozialstaatliehen Sicherungs- systeme nicht ausreichen. er- gänzende Transferzahlungen der ölTentliehen Hände wenigs- Lens das soziokulturelle Exis- lenzminimum sicherstellen.

Nur wo dies gewährleistet ist.

sind Menschen überhaupt in der Lage. ihre Freiheitsrechte wahrzunehmen und sich aktiv in den gesellschaftlichen Pro- zess einzubringen.

Die Chancen- oder Beteili- gungsgerechtigkeit bedarf aber nicht nur in dieser Hinsicht einer Ergänzung. Mit dem Prinzip der Nachhaltigkelt das wie die Option für die Ar- men eine Übersetzung und Konkretisierung der sozialen Gerechtigkeit darstellt. leistet das Gemeinsame Wort einen

\\ichtigen Beitrag zur Weiter- entwicklung des sozialen Leh- rens der Kirche.

Das Kriterium der Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit als Wahrneh- mung der " Verantwortung für die nachfolgenden Generatio- nen" (ZSG 125) verlangt dabei eine dauerhafte und zukunfts- fähige Entwicklung in zugleich sozialer. wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht.

Es geht um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundla- gen, um den Schutz der Inte- ressen und Bedürfnisse. ja Rechte der jetzt lebenden und der kommenden Generationen ZSG 122). die im Wirt- schaftsprozess, in der Tages- politik. aber auch im Handeln von Institutionen und Einzel- personen nur allzu leicht un- ter den Tisch fallen.

In welchem Verhältnis steht nun aber die soziale Gerech- tigkeit zu der vor allem von den "Erfolgreichen" in unserer Gesellschaft immer wieder an- 18 caritas in NRW 3/2000

... und die Armen?

gemahnten Leistungsgerech- tigkeit? Einmal abgesehen da- von. dass individuelle Leis- tung nie nur auf persönlichen Einsatz zurückgeht, sondern von ererbten oder sonst wie zugefallenen Faktoren ab- hängt. ist es dennoch eine Forderung auch der sozialen Gerechtigkeit, dass Leistun- gen für das Gemeinwohl nicht demotiviert, sondern durch geeignete Anreize gefördert werden. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Leistungsprinzip aus sich he- raus dazu tendiert, die beste- henden sozialen Ungleichhei- ten noch zu vergrößern. Um den Widerstreit Z\vischen den

ln zahlreichen Städten sorgen "Tafeln" dafür, dass arme Menschen günstig Lebensmittel erhalten.

beiden Orientierungen gesell- schaftlicher Verteilung - Be- darf versus Leistung - auf- zulösen. legt die Option für die Armen nahe, zunächst ei- ne leistungsunabhängige, be- darfsorientierte Grundsiche- rung zu gewährleisten, bevor Leistungsaspekte Berücksich- tigung finden. Dabei ist das Verhältnis von Bedarfs- und Leistungsorientierung im de- mokratischen Prozess je neu

auszuhandeln und zudem die erbrachte Leistung stärker als bisher in Relation zu den indi- viduellen Ausgangsbedingun- gen zu bewerten.

Ist Reichtum ungerecht?

Dies führt unmittelbar zu der Frage. ob. welche und wie viel Ungleichheit sich mit sozialer Gerechtigkeit verträgt. Eine strenge materielle Gleichver- tellung. darüber besteht wohl weitgehender Konsens. wider- spräche der tatsächlichen Un- gleichheit des Bedarfs. Ist aber die auch hierzulande

wachsende Ungleichverteilung von Einkommen. Vermögen, Macht und Einfluss-und da- mit von Lebenschancen - noch als gerecht zu bezeich- nen? Wie steht es um das Gleichheitsgebot das auf- grund der gleichen Menschen- würde allen gleiche Freiheiten und Rechte zuerkennt und im Sinne der Goldenen Regel will- kürliche Ungleichbehandlung als ungerecht disqualifiziert?

Der US-amerikanische Philo- soph John Rawls. dessen

"Theorie der Gerechtigkeit"

(1971) die sozialethische De-

batte entscheidend beeinflusst hat, bietet dazu einen wichti- gen Maßstab an. Danach müssen gesellschaftliche und ökonomische Ungleichheiten zwei Bedingungen genügen:

" Erstens müssen sie mit Äm- tern und Positionen verbun- den sein, die allen unter Be- dingungen fairer Chancen- gleichheit offen stehen. und zweitens müssen sie den größ- ten Vorteil für die am wenigs- ten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen." (Die Idee des politischen Liberalis- mus. Frankfurt/M. 1992.

160). Indem dieser Maßstab die Zulässigkelt von Ungleich- heiten an die Besserstellung der am wenigsten Begünstig- ten bindet, entspricht er zu- gleich der Option für die Ar- men und damit einem zentra- len Kriterium christlicher Ethik.

Zweifel an der Aussagekraft und Brauchbarkeit der Kate- gorie sozialer Gerechtigkeit bleiben. Sie erweisen sich je- doch als hilfreiche Stachel. die eine weitere Vertiefung und Differenzierung des Begriffs sowie eine gesellschaftliche Verständigung über seine nor- mativen Gehalte provozieren Soziale Gerechtigkeit bleibt ei- ne wichtige. allerdings span- nungsreiche und je neu aus- zutarierende Zielperspektive für die Gestaltung gesell- schaftlicher Strukturen sowie zur Orientierung individuellen und kollektiven Handeins - auch wenn eine christliche Sozialethik das definitive Kommen des Gottesreiches und seiner Gerechtigkeit von

Gott erhofft. C

Dr. theoL Andreas Lienkamp ist Habilitand im Fach Christli- che Sozialethik und Dozent der Katholischen Akademie des Bistums Essen "Die Wolfs- burg" in Mülheim an der Ruhr.

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