• Keine Ergebnisse gefunden

Auf die Sonne ausgerichtet? Zur Problematik einer möglichen solaren Ausrichtung von Kirchen am Beispiel der spätkarolingischen Stiftskirche in Meschede

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Auf die Sonne ausgerichtet? Zur Problematik einer möglichen solaren Ausrichtung von Kirchen am Beispiel der spätkarolingischen Stiftskirche in Meschede"

Copied!
21
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

1

Auf die Sonne ausgerichtet?

Zur Problematik einer möglichen solaren Ausrichtung von Kirchen am Beispiel der spätkarolingischen Stiftskirche in Meschede

von Burkard Steinrücken,

steinruecken@sternwarte-recklinghausen.de

Westfälische Volkssternwarte und Planetarium Recklinghausen

Stadtgarten 6,45657 Recklinghausen Ehemalige Stiftskirche St. Walburga in Meschede Foto: B. Steinrücken

Mai 2015 Einleitung

Sind Kirchen nicht nur grob geostet („orientiert“), sondern sogar genau auf die aufgehende Sonne an einem bestimmten Tag im Jahreskreis, z.B. dem Patronatstag, ausgerichtet?

Bei der Untersuchung auf eine mögliche Sonnenausrichtung einer Kirche sind viele Dinge zu beachten: Die Baugeschichte, das Gründungsdatum und -patrozinium, die Bedeutsamkeit eines bestimmten Feiertages für die Kirche, die Lichteinfallsgeometrie, die Horizontsituation in Richtung der aufgehenden Sonne, Fragen nach der Genauigkeit der Bauausführung und Achsenabsteckung und ob die Ausrichtung womöglich durch direkte Beobachtung der Sonne oder durch die Berechnung ihrer Aufgangsrichtung erfolgte.

Am Beispiel der Stiftskirche Meschede bzw. der Lichteinfallsmöglichkeit entlang der

Kirchenachse in den Reliquienstollen der Krypta wird exemplarisch vorgeführt, wie man bei einer Ausrichtungsuntersuchung vorgehen kann und welche verschiedenen Fallstricke und methodischen Probleme einer solaren Interpretation einer Kirchenachse im Wege stehen.

Es zeigt sich, dass unter Ausnutzung von gewissen Spielräumen bei der Argumentation der Stiftskirche Meschede eine archäoastronomische Bedeutung zugesprochen werden kann.

Jedoch wirft sich dabei die Frage auf, wie glaubwürdig dies ist, wo im Lauf der

Argumentation verschiedene Zusatzannahmen nötig sind, um zu einer solaren Interpretation zu gelangen. Ist die Argumentation schlüssig, oder verlässt sie irgendwo sicheren Grund?

Der diskutierte Fall ist ein Musterbeispiel für die Möglichkeiten und Probleme einer Untersuchung einer Kirche auf Sonnenausrichtung.

Die Stiftskirche Meschede

Die Stiftskirche in Meschede, Nordrhein-Westfalen, heute Pfarrkirche St. Walburga, ist ein herausragendes Baudenkmal von europäischem Rang. Die ursprüngliche dreischiffige spätkarolingische Querhausbasilika mit doppelgeschossiger Umgangskrypta lässt sich trotz verschiedener Umbauten noch vollständig rekonstruieren [1,2].

Der Bau stammt aus der Zeit um 900; dendrochronologisch konnte der Entstehungszeitraum auf die Zeit zwischen 897 und 913 eingegrenzt werden. In der Krypta befindet sich unterhalb des Chorquadrats ein Reliquienstollen aus dieser ersten Zeit, der nicht etwa nachträglich eingefügt wurde. Der Stollen ist ca. 120 cm tief, 80 cm breit und 100 cm hoch (Abb. 1 & 2).

(2)

2 Abb. 1: Isometrische Darstellung der Choranlage der karolingischen Basilika. Rekonstruktion von H. Claussen und U. Lobbedey. Entnommen aus [1].

Abb. 2: Grundriss der Umgangskrypta.

Rekonstruktion von U. Lobbedey.

Entnommen aus [2].

Die Kirche war wahrscheinlich ursprünglich nur Maria geweiht. In der Kaiserurkunde von 12.

Januar 959 werden Maria und erstmalig Walburga beide erwähnt, später nur noch Walburga.

Der Bau des Stollens erfolgte zusammen mit dem Chor, entweder bereits in Erwartung dieser Reliquien während des Kirchenbaus oder aber noch ohne Bezug auf die heilige Walburga.

Walburga (Feiertag 25. Februar) wurde am 1. Mai 870 heiliggesprochen. Die Erhebung der Gebeine durch den Eichstätter Bischof Otkar geschah im Jahr 871 und wahrscheinlich zwischen 911 und 918 gelangten Walburga-Reliquien nach Meschede.

Im 12. Jahrhundert gab es einen Umbau der Kirche. Die gesamte halbkreisförmige Ostwand und alle Fenster darin wurden erneuert. Die ursprünglichen Viertelkreissäulen im

Kryptenraum wurden entfernt, vor den Reliquienstollen eine große Säule gestellt und der Stollen hinter einer Wand verborgen.

Anhand der im Putz der seitlichen Zugangstollen markierten ursprünglichen Fenster lässt sich durch Analogieschluss folgern, dass die Fenster in der östlichen Rundwand auf Höhe des Kultgrabstollens lagen. Diese Fenster befanden sich auf dem Bodenniveau östlich der Kirche und folglich ist ein Lichteinfall vom Horizont durch das Fenster im Apsisscheitel in den Reliquienstollen denkbar, sofern der Landschaftshorizont in dieser Richtung den Horizont nicht blockiert (Abb. 3).

(3)

3

Abb. 3: Schnitt durch die Krypta entlang der Mittelachse und Rekonstruktion der Lage des Apsisfensters in der ursprünglichen Ostwand (rot). Die Größe und Höhe des Fensters lässt sich nur ungefähr rekonstruieren, mit einer Toleranz im Dezimeterbereich. Die waagerechte Linie durch das Fenster trifft die Rückwand des Reliquien- stollens etwa mittig. Direkter Einfall von Sonnenlicht auf die Rückwand des Stollens ist maximal bis zu einer Winkelhöhe von ca. 6° durch das Fenster möglich.

Horizontanalyse und Orientierung der Kirchenachse

Für die Untersuchung einer Kirche auf Sonnenausrichtung ist ihre Einbettung in den Landschaftsraum zu beachten und insbesondere die Frage zu klären, in welcher Höhe der sichtbare Horizont in Richtung der Kirchenachse liegt. Im heutigen Meschede lässt sich der Horizont nicht mehr einsehen, wenn man ihn vom Apsisscheitel der Krypta beobachten will.

Somit muss die Horizontsicht mit Hilfe von digitalen Geländedaten rekonstruiert werden.

Dazu bieten sich die Daten der Shuttle Radar Topographie Mission (SRTM) an, die mit einer Auflösung von 90 Metern im Internet kostenlos zugänglich sind. Zusammen mit den

topografischen Koordinaten der Krypta (alles im UTM-System, Zone 32) lassen sich die Rasterdaten des SRTM-Modells unter Berücksichtigung von Erdkrümmung und terrestrischer Refraktion in sichtbare Horizontpunkte umrechnen. Die Abbildung 4 zeigt das Ergebnis dieser Simulationsrechnung in östlicher Richtung.

Abb. 4: Simulierte Horizontsicht in östlicher Richtung. Die Kirchenachse (offenes Rechteck bei 79°

Nordazimut) weist durch das Ruhrtal und trifft in 14 km Entfernung auf den Langenberg.

In Richtung der Kirchenachse beträgt die Horizonthöhe rd. 1°.

(4)

4

Eingetragen in Abbildung 4 ist ebenfalls das Nordazimut der Kirchenachse, welches sich zu 79°+-0,2° bestimmen lässt. Dazu wurde das Kartenmaterial des Online-Dienstes TIM-online NRW ausgewertet, welches neben topografischen Karten auch Luftbilder und

Liegenschaftskarten enthält. Darin lassen sich die Gitterazimute der verschiedenen Mauerlinien und des Dachfirstes der Kirche zu 79,5° +- 0,2° bestimmen. Relevant für die Ausrichtungsuntersuchung ist nicht das Gitterazimut im UTM-System, sondern das geografische Nordazimut, welches sich vom Gitterazimut um die Meridiankonvergenz  unterscheidet. Meschede (geografische Koordinaten  = 51°21´ N,  = 8°17´ O) liegt westlich des Mittelmeridians der UTM-Zone 32 (9° Ost), wo Gitternordazimute größer als

geografische Nordazimute sind (Abb. 5). Die Meridiankonvergenz beträgt in Meschede  = ( – 9°) sin () = -0,56° und das Gitterazimut der Kirchenachse damit praktisch genau 79°.

Abb. 5: Darstellung des Unterschieds zwischen Gitternord und geografisch Nord. Die verschiedenen

Längenkreise der Erde laufen in Richtung Nordpol zusammen. Die Geodäsie verwendet Bezugssysteme, die auf der transversalen Mercatorprojektion des Erdellipsoids beruhen und eine ebene Darstellung der gekrümmten Erdoberfläche ermöglichen. Die senkrechten Gitterlinien des Bezugssystems („Gitternord“) weisen gegenüber den Längenkreisen eine zunehmenden Verdrehung auf (Meridiankonvergenz), je weiter eine Gitterlinie vom Mittelmeridian der Projektion entfernt ist.

Die Horizont- und Ausrichtungsanalyse fördert eine Besonderheit der Stiftskirche Meschede zutage. Sie ist auf den (fast) entferntesten Sichtpunkt ausgerichtet, der sich über den Talgrund des Ruhrtales nur um einen Höhenwinkel von rd. 1° erhebt. Alle anderen Blickrichtungen außerhalb des Azimutbereichs 73° - 82° (siehe Abbildung 4) aus dem Talkessel von Meschede heraus führen auf die wesentlich höher aufragenden umliegenden Berge. Nur in Richtung des über 12 Kilometer linear verlaufenden Ruhrtals ist die Sicht auf den nahezu mathematischen Horizont möglich.

(5)

5

Wiese die Kirche in eine ganz andere Richtung, so wäre ein nahezu waagerechter Lichteinfall in die Krypta, der bis an die Rückwand des Reliquienstollens reicht, ausgeschlossen. Es drängt sich der Eindruck auf, als sei der genaue Standort und die Ausrichtung der Kirche in Bezug auf das Ruhrtal so gewählt, dass der Lichteinfall in den Reliquienstollen überhaupt möglich ist. Ferner ist die Symmetrie der Ausrichtung in Bezug zum Horizontverlauf in östlicher Richtung zu beachten (siehe Abbildung 4). Die Achse läuft mittig durchs Ruhrtal.

Sonnenaufgänge in Richtung der Kirchenachse

An welchen Tagen im Jahr scheint die aufgehende Sonne in den Reliquienstollen hinein? – Zur Beantwortung dieser Frage liegen mit der geografischen Breite Meschedes (51°21´ N), der Entstehungszeit der Kirche (um 900), dem Nordazimut der Kirchenachse (79°) und der Höhe des Landschaftshorizontes in dieser Richtung (1°) alle Größen vor, die für die

astronomische Berechnung erforderlich sind. Am anschaulichsten ist eine Berechnung und visuelle Darstellung der Aufgangsbahn der Sonne über dem Landschaftshorizont (siehe Abbildung 6). Dabei wurde die Situation gewählt, in der die Sonne schon fast vollständig sichtbar ist, nicht etwa jene, bei der der erste Sonnenstrahl in die Krypta einfällt.

Abbildung 6: Aufgang der Sonne in Richtung der Kirchenachse bei einer Sonnendeklination von 7,5°.

Der Refraktionseffekt, der zu einer scheinbaren Anhebung der Sonne führt, ist im Verlauf der Sonnenbahn eingerechnet.

Da aus dem Reliquienstollen offensichtlich nicht direkt beobachtet wird, sondern eher an eine Inszenierung zu denken ist, bei dem eine Reliquie oder ein Kultgegenstand von der

aufgehenden Sonne angestrahlt wird, ist der Effekt nur bei intensiver Beleuchtung eindrucksvoll. Das ist der Fall, wenn Licht von der ganzen Sonnenscheibe in die Krypta hineinscheint. In diesem Sinne wäre eine etwas größere Sonnenhöhe von z.B. 2° noch günstiger, weil in einer Höhe von 2° die Abschwächung des Sonnenlichtes durch die

Erdatmosphäre geringer ist als bei einer Höhe von 1°. Insofern ist die in Abbildung 6 gezeigte Situation nicht von ausschließlichem Charakter, sondern sollte so verstanden werden, dass auch eine noch etwas höher liegende Sonnenbahn in Frage kommt (bis zur Sonnendeklination von rd. 8,5°). Die Abbildung 7 zeigt, dass die Idealsituation eines Sonneneinfalls in den Reliquienstollen (unter den gegebenen Verhältnissen der hier durchgeführten

Fensterrekonstruktion) bei Sonnenhöhen im Bereich von 1° bis 2° auftritt.

(6)

6

Abb. 7: Idealtypischer Einfall des vollen Sonnenlichtes (ganze Sonnenscheibe) in den Reliquienstollen aus 1° Höhe (oben) und aus 2° Höhe (unten) entlang der Kirchenachse durch das Fenster im Apsisscheitel.

Die in Abbildung 6 simulierte Sonne weist eine Deklination von +7,5° auf. In heutiger Zeit - im gregorianischen Kalender - tritt diese Sonnendeklination am 9. April und am 3. September auf. Lässt man auch eine etwas höhere Sonnenbahn zu, so kommt man auf die Zeiträume 9.

bis 12. April und 31. August bis 3. September für diese Sonnenaufgangssituation.

Für die archäoastronomische Untersuchung sind natürlich die entsprechenden Daten in der Zeit um 900 relevant, als der julianische Kalender galt. Der julianische Kalender verliert wegen seiner zu einfachen Schaltregel (systematisch alle vier Jahre ein Schalttag) und seiner dadurch gegeben mittleren Jahreslänge von 365,25 Tagen gegenüber dem natürlichen

Sonnenjahr von 365,24220 Tagen alle 128 Jahre einen Tag. Naturjahr und Kalenderjahr weichen folglich im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr voneinander ab. Auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 wurde der für die Osterrechnung benötige Termin des

Frühlingsanfangs auf den 21. März im julianischen Kalender festgelegt, was zur Zeit des Konzils auch (fast) der Realität entsprach. Beim Bau der Stiftskirche Meschede waren seitdem rd. sechs Jahrhunderte vergangen und der Frühlingsanfang (Sonne auf dem

Himmelsäquator, Sonnendeklination 0°) trat bereits fünf Tage (genauer: 600/128 Tage) früher auf und lag im julianischen Kalender folglich auf dem 16. März. Diese Verschiebung hat zur Folge, dass Ereignisse, wie z.B. die Tage mit Sonnendeklination +7,5°, gegenüber den heutigen Daten im gregorianischen Kalender in der Zeit um 900 fünf Tage früher eintraten.

Das Sonnenereignis trat in der karolingischen Krypta folglich am 4. April und am 30. August auf (bei Sonnendeklination 8,5° am 7. April und 27. August).

Aber auch innerhalb des vierjährigen Basisschaltzyklus gibt es leichte Veränderungen. Die Sonnendeklination variiert an einem bestimmten Kalenderdatum von Jahr zu Jahr um rd. ein Zehntelgrad, um nach vier Jahren nach erfolgter Schaltung wieder den Wert des ersten Jahres einzunehmen. Es ist folglich sinnlos, eine Genauigkeit von einem Zehntelgrad oder sogar besser für die Untersuchung der Ausrichtungsfrage bei Kirchen anzunehmen. Im Allgemeinen ist mit einer Übereinstimmung im Rahmen von bestenfalls 0,5°, eher 1° Toleranz zu rechnen, und das Lichteinfallsereignis tritt damit nicht nur an zwei bestimmten Tagen im Jahr auf, sondern an zwei Gruppen von jeweils drei Tagen an den Tagen der angepeilten

Sonnendeklination (hier +7,5° bis +8,5°) auf.

(7)

7 Die Suche nach dem richtigen Festtag

Die Idee einer solaren Interpretation der Ausrichtung der Kirchenachse und des Inszenierungsereignisses durch Lichteinfall in den Reliquienstollen impliziert die

Auszeichnung eines Datums, welches besondere Bedeutung für die Kirche und das adelige Damenstift Meschede hat. Als besondere Festdaten kommen das Datum der Kirchweihe und die Patronatstage in Frage; ggf. auch noch bestimmte Wallfahrtstage. Das Datum der Weihe der karolingischen Basilika ist unbekannt. Nach dem Umbau im 12. Jahrhundert wurde die Kirche an einem 22. Juli neu konsekriert und seitdem in Meschede alljährlich zur Erinnerung an dieses Datum, dem Festtag der heiligen Maria Magdalena, die „Magdalenenkirmes“

gefeiert. Für die Deutung der ursprünglichen Kirche ist das irrelevant. Infrage kommen weiterhin das Walburga-Patrozinium und das der Gottesmutter Maria, das wohl ursprünglich bestand und später durch das Walburga-Patrozinium überlagert wurde.

Der Festtag der heiligen Walburga ist der 25. Februar; ein Tag mit stark negativer

Sonnendeklination und einem Sonnenaufgang fernab der Kirchenachse. Aber auch der 1. Mai als Tag der Heiligsprechung kommt noch als Festtag der Walburga in Frage. Allerdings gewann dieser Tag, dessen Sonnenaufgang das Ende der „Walpurgisnacht“ brachte, erst im Mittelalter zunehmend an Bedeutung. Für die Zeit um 900, als die Walburga-Verehrung begann, ist von einer starken volkstümlichen Bedeutung dieses Datums noch nicht

auszugehen. Dennoch sei diese Situation rechnerisch überprüft. Am 1. Mai in der Zeit um 900, mit einer Deklination von +16,5°, stand die in Richtung der Kirchenachse in einer Höhe von 12,5°, also weit jenseits der Höhe 6°, aus der der Sonnenunterrand soeben noch die untere Kante der Stollenrückwand zu beleuchten vermag (siehe Abbildung 3). Am 1. Mai trat das Lichtereignis folglich nicht auf.

Bleibt noch das ursprüngliche Marienpatrozinium. Die katholische Kirche kennt zahlreiche Festtage der Gottesmutter, von denen aber vor allem die Hochfeste und einige weitere überregional bedeutsame Feste in Frage kommen:

Tab. 1: Die wichtigsten Marienfeste

1. Januar Hochfest der Gottesmutter (Oktavtag zu Weihnachten) 2. Februar Mariä Lichtmess

25. März Hochfest Mariä Verkündigung 15. August Hochfest Mariä Himmelfahrt 8. September Mariä Geburt

8. Dezember Hochfest der unbefleckten Empfängnis

Für die weitere Untersuchung ist nun eine Auswahl jener Feste zu treffen, die vielleicht für das Sonnenereignis in der Krypta in Frage kommen. Die Auswahl erfolgt anhand der Sonnendeklination an diesen Tagen. Ausschließen lassen sich sofort alle Daten aus dem Herbst und Winter, denn an diesen Tagen ist die Sonnendeklination negativ und die

dazugehörigen Sonnenaufgänge erfolgen nicht annähernd in Richtung der Kirchenachse. Von den verbleibenden Daten 25. März, 15. August und 8. September seien hier für die beiden letztgenannten die Sonnenaufgänge simuliert, die bei Sonnendeklinationen von +12,7° (15.

August um 900) und +4,0° (8. September um 900) auftreten und noch am ehesten in Frage kommen (Abb. 8 & 9).

In keinem der beiden Fälle tritt das Sonnenereignis in dem Reliquienstollen auf und damit sind alle sich unmittelbar anbietenden Daten ausgeschlossen. Möglicherweise wäre das nicht überlieferte erste Kirchweihdatum um 900 ein Treffer, oder aber die archäoastronomische Idee einer solaren Interpretation der Kirchenachse ist überhaupt verfehlt.

(8)

8

Abb. 8: Sonnenbahn am 15. August um 900 (Mariä Himmelfahrt) mit einer Sonnendeklination von +12,7°.

Abb. 9: Sonnenbahn am 8. September um 900 (Mariä Geburt) mit einer Sonnendeklination von +4,0°.

(9)

9

Das Aufscheinen einer weiteren Untersuchungsmöglichkeit

Mit einigem Grund könnte die Untersuchung hier mit dem Ergebnis, dass sich die

Ausrichtung der Kirchenachse nicht astronomisch deuten lässt, beendet werden. Das greift aber zu kurz, denn es sind noch nicht alle Spielräume bei der Ausrichtungsuntersuchung ausgelotet worden. Sinn der Studie ist ja, neben der umfassenden Behandlung eines prominenten Einzelfalls einer herausragenden karolingischen Kirche, eine Darstellung des gesamten Potentials einer solchen Untersuchung zu bieten und dieses zu diskutieren.

Die Ansätze und Möglichkeiten, einer Kirche eine Ausrichtung nach der Sonne zu

unterstellen, sind groß. Das hat schon die bisherige Diskussion der Frage nach dem richtigen Datum gezeigt, die einige Varianten bot (Kirchweihe oder Patrozinium, wenn Patrozinium, dann welches?). Schon aus Zufallsgründen erhöht eine Vielzahl möglicher Festtage die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer. „Treffer“ bedeutet hier „Koinzidenz der aufgehenden Sonne mit der Kirchenachse“.

Im Folgenden wird eine weitere Untersuchungsmöglichkeit durchgespielt, die letztlich einen Treffer bringen wird. Auch bei dieser neuen Variante kommt es auf die „richtige“ Auswahl bestimmter Einflußfaktoren an, was methodisch immer bedenklich ist. „Richtig“ bedeutet hier

„im Hinblick auf das erhoffte Ziel“, nämlich den oben genannten Treffer.

Die methodische Kritik dieser Vorgehensweise wird später noch näher ausgeführt.

Vorausgeschickt sei aber, dass es für jeden weiteren Schritt und jede Auswahl einen guten, plausiblen Grund gibt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Was nun folgt, muss folglich nicht zwangsläufig „Bastelkunst“ sein, sondern kann durchaus der Realität und

Vorgehensweise im spätkarolingischen Meschede in der Zeit um 900 entsprechen, als die Kirche geplant und gebaut wurde.

Den Einstieg in die neue Untersuchungsmöglichkeit bietet die Abbildung 10. Dort ist erneut die Sonnenbahn für den 8. September (Mariä Geburt) gezeigt, nicht aber für die Zeit um 900 wie in Abbildung 9, sondern für die Zeit um 300, also 600 Jahre vor der Errichtung der Kirche. Die Sonnendeklination betrug an diesem Tag nicht +4,0°, wie um 900, sondern +6,0°, und damit schon beinahe die für das Sonnenereignis in der Krypta erforderlichen 7,5°.

Ursache ist der Eintritt des Herbstäquinoktiums in der Zeit um 300 am 23. September, nicht am 18. September, wie in der karolingischen Epoche. Der 8. September lag um 300 noch mehr in Sommer als bei einem um fünf Tage früher eintretenden Herbstanfang in

spätkarolingischer Zeit um 900. Deshalb lag die Sonnenbahn noch etwas höher.

Betrachtet man den Sonnenaufgang nicht auf dem Landschaftshorizont, sondern auf dem mathematischen Horizont, so liegt die Aufgangsrichtung bei 79,5°, also praktisch in der Kirchenachse. Sollte der relevante Aufgang der Sonne am 8. September, dem Tag der Feier von Mariä Geburt, nicht beobachtet, sondern womöglich berechnet worden sein?

Eine Berechnung, die für die Ermittlung der Deklination am 8. September von den

Verhältnissen der Zeit um 300 ausging, als das Frühlingsäquinoktium tatsächlich noch am 21.

März und das Herbstäquinoktium am 23. September eintrat, würde zu einem Treffer führen, sofern man zusätzlich noch annimmt, die Berechnung sei für den mathematischen Horizont durchführt worden, nicht für einen erhöhten realen Landschaftshorizont. Diese Annahme trägt sogar der Tatsache Rechnung, dass der sichtbare Horizont in der fraglichen Richtung – und nur dort – kaum gegen den mathematischen Horizont überhöht ist.

Wie hätte in karolingischer Zeit eine Berechnung der Sonnenaufgangsrichtung an einem bestimmten Datum erfolgen können? - Nach Art der simulierten Sonnenbahnen wie in Abbildung 10 und anderen Abbildungen dieser Arbeit natürlich nicht. Dort sind z.B.

Refraktionseffekte eingerechnet, von denen im frühen Mittelalter noch nichts bekannt war.

(10)

10

Ferner gehen präzise Daten der modernen Geodäsie ein, wie z.B. die genaue geografische Breite von Meschede, sowie ein Kirchenazimut, das auch auf der Grundlage moderner Vermessungsdaten (TIM-online NRW) gewonnen wurde. Es muss eine adäquate

Berechnungsmethode gefunden werden, die mit den Mitteln der damaligen Zeit zu bewältigen war.

Abb. 10: Sonnenaufgang am 8. September in der Zeit um 300 mit einer Sonnendeklination von +6,0°. Auf dem mathematischen Horizont erfolgt der Sonnenaufgang bei einem Nordazimut von 79,5°

Spuren von Vitruv in der Mescheder Stiftskirche und das Analemma des Vitruv

Ein besonderer Umstand kommt hier zu Hilfe, der einerseits nochmals die baugeschichtliche Bedeutung der Stiftskirche Meschede belegt, andererseits auch den Blick auf die geeignete Rechentechnik zur Bestimmung von Sonnenaufgängen eröffnet. Bei Ausgrabungen in der Stiftskirche wurden rd. 150 Keramikgefäße gefunden, die sowohl im Kirchenboden als auch in den Wänden eingelassen waren. Die in den Wänden befindlichen Töpfe, allesamt

handelsübliche Gebrauchskeramik, waren mit ihrer offenen Mündung zum Kirchenraum hin ausgerichtet (Abb. 11), während die Gefäße im Kirchenboden abgedeckt und verborgen eingebaut waren. Offensichtlich handelt es sich hier um Schallgefäße, die die Akustik im Kirchenraum verbessern sollten. Archäologische Belege für derartige Schalltöpfe gibt es aus verschiedenen Kirchen, in keiner zweiten jedoch in dieser Fülle und Zahl wie in Meschede.

Von „ehernen Vasen“ zur Verbesserung der Akustik in Theatern berichtet Vitruv im fünften Buch seiner Architekturlehre [3]. Die Schallgefäße in karolingischen Kirchen werden allgemein als Beleg dafür angesehen, dass die frühmittelalterlichen Baumeister antike Techniken, wie Vitruv sie hier überliefert, übernahmen und anwendeten.

(11)

11

Abb. 11: Drei keramische Schallgefäße aus der Stiftskirche Meschede, ausgestellt im Westfälischen Museum für Archäologie in Herne. Fotos: B. Steinrücken

Wenn den Baumeistern in Meschede Vitruvs Architekturlehre bekannt war, dann waren sie auch in Berührung mit der mathematischen Technik, mit der sich Sonnenstände am

Himmelsgewölbe zeichnerisch ermitteln lassen. Vitruv beschreibt im neunten Buch seiner

„Zehn Bücher über Architektur“ sein berühmtes „Analemma“, eine zeichnerische Technik zur Konstruktion des Liniennetzes auf Horizontalsonnenuhren mit einem Gnomon als

Schattenwerfer. Beigefügt ist folgende Zeichnung (Abb. 12), die auf die volle Ausbildung des Verfahrens des zeichnerisch sphärischen Rechnens hindeutet, auch wenn Vitruv im Text selber nicht alle Einzelheiten dieses Verfahrens umfassend beschreibt, aus der „Besorgnis, durch allzu große Weitläufigkeit zu missfallen“.

Abb. 12: Das Analemma des Vitruv

(12)

12 Die Bestimmung der Polhöhe mit dem Gnomon

Die Linie A-B in Vitruvs Analemma (Abb. 12) stellt den senkrechten Schattenwerfer

(Gnomon) dar, die Linie B-C den Mittagsschatten der Sonne bei den Tag-Nacht-Gleichen, B- R den kürzesten Mittagsschatten zur Zeit der Sommersonnenwende und B-T den längsten Mittagsschatten zur Zeit der Wintersonnenwende. Der Gnomon ist in neun Unterabschnitte unterteilt, der äquinoktiale Mittagsschatten in acht ebensolche Abschnitte. Das Verhältnis des äquinoktialen Schattens zur Gnomonhöhe beträgt folglich 8/9 und damit sind die Verhältnisse vom Rom wiedergegeben. Aus dem Verhältnis von 8/9 lässt sich die geografische Breite

bestimmen, denn der Winkel zwischen der Horizontline B-C und der Line C-A beträgt (90°

- ). Senkrecht zur Linie A-C bzw. N-F (Himmelsäquator) steht die Linie Q-P, bei der es sich um die Polachse der Himmelskugel handelt. Sie schließt mit der Horizontline B-C (bzw. E-I) bekanntlich den Winkel der geografischen Breite  ein. Der Winkel wird auch „Polhöhe“

des Beobachtungsortes genannt.

Vitruv gibt ds Verhältnis S/H von Äquinoktialschatten S und Gnomonhöhe H für

verschiedene Orte an, was uns Aufschluß über die Genauigkeit der Polhöhenbestimmung in der Antike gibt. Die folgende Tabelle enthält neben Vitruvs Verhältniszahlen S/H für verschiedene Orte die daraus ermittelten geografische Breiten nach der Formel = arctan (S/H) und in der letzten Spalte die korrekten modernen Werte. Die Abweichung beträgt im Allgemeinen ca. 1 Grad.

Tabelle 2: Antike Polhöhen- bzw. Breitenbestimmung mit dem Gnomon

Ort S/H (Vitruv) (real)

Rom 8/9 41°38´ 41°53´

Athen 3/4 36°52´ 37°59´

Tarent 9/11 39°17´ 40°28´

Alexandria 3/5 30°58´ 31°13´

Rhodos 5/7 35°32´ 36°11´

Mit Hilfe des Gnomons lässt sich auch die Nord-Süd-Richtung gradgenau bestimmen. Man bestimmt dazu die Länge eines Vormittagsschattens und wartet ab, bis ein Schatten gleicher Länge am Nachmittag auftritt. Die Verbindungslinie beider Schattenenden ist die Ost-West- Linie und die senkrechte Linie dazu, die sich leicht mit dem Zirkel konstruieren lässt, die Nord-Süd-Linie. Die spätere Absteckung des errechneten Aufgangsazimutes der Sonne erfolgt dann in Bezug zur Nord-Süd- und Ost-West-Linie und kann wiederum mit der Hilfe geeigneter Verhältniszahlen für die Anteile der Kirchenachse in beiden Richtungen

geschehen. Auch das kann mit Gradgenauigkeit erfolgen.

Bei der Bestimmung der geografischen Breite von Meschede aus der Länge des äquinoktialen Schattens ist folgendes zu beachten. Sofern die karolingischen Baumeister diese Methode angewendet haben, werden sie das Experiment am kalendarischen Frühlingsanfang, dem 21.

März, oder am kalendarischen Herbstanfang, dem 23. September, durchgeführt haben. Von der Verlagerung der Tag-Nacht-Gleichen im julianischen Kalender (alle 128 Jahre auf ein um einen Tag früheres Datum) haben sie nichts gewusst, oder, wenn ihnen das doch durch

systematische Experimente mit dem Gnomon bekannt gewesen sein sollte (ein völlig unglaubwürdiger Umstand für die karolingische Epoche), wurde dies ignoriert, da die Osterfestberechnung verbindlich vom 21. März als Termin für den Frühlingsanfang

auszugehen hatte. In der Zeit um 900 lag die Sonnendeklination am 21. März bei +2° (fünf Tage nach dem astronomischen Frühlingsanfang) bzw. am 23. September bei -2° (fünf Tage

(13)

13

nach dem astronomischen Herbstanfang). Dieser Fehlwinkel gegenüber der Deklination 0°, für die der Äquinoktialschatten eigentlich zu bestimmen ist, wirkt sich in Vitruvs Methode zur Polhöhenbestimmung voll auf die Höhe der Mittagssonne aus, folglich auch auf die Polhöhe und die geografische Breite. Je nachdem, ob das Experiment in der Zeit um 900 am 21. März oder am 23. September durchgeführt wurde, erhält man damit zwei verschiedene Werte für die geografische Breite, die sich um 4° unterscheiden. Die Tabelle 3 listet diese beiden Möglichkeiten auf. Vorangestellt ist in der ersten Zeile der Wert bei einer Bestimmung am Tag der astronomischen Tag-Nacht-Gleiche (TNG; um 900 am 16. März und 18. September).

Die Spalte 3 enthält analog zu Vitruv geeignete, und dabei möglichst kleine Verhältniszahlen.

Die letzte Zeile schließlich enthält eine zusätzliche Angabe, wobei ein kleiner Fehler in der Verhältniszahl angenommen wurde (13/9 gegenüber 4/3 = 12/9 in der vorletzten Zeile). So wird anschaulich, wie sich ein kleiner Bestimmungsfehler in der Schattenlänge auswirkt.

Denkbar ist, dass nach Vitruvs Vorbild die Höhe des Gnomons in 9 Unterabschnitte eingeteilt und die Länge des Schattens ebenso in dieser Längeneinheit gemessen wurde. Bei einer Messung am 23.9. erhält man dann 12 dieser Einheiten für die Schattenlänge. Der

kleinstmögliche Bestimmungsfehler von 1 Einheit würde dann z.B. auf 13 Einheiten führen.

Tabelle 3: Ergebnisse möglicher Polhöhenmessungen in Meschede um 900 nach Vitruvs Methode Messzeitpunkt Sonnendeklination S/H (Vitruv) (real)

TNG 0 5/4 51°20´ 51°21´

21.3. +2° 7/6 49°24´

23.9. - 2° 4/3 = 12/9 53°08´

23.9. - 2° 13/9 55°18´

Da unbekannt ist, an welchem Datum und wie genau gemessen wurde (die Anwendung dieses Verfahrens im Folgenden einmal vorausgesetzt) eröffnen sich hier verschiedene Varianten für die Weiterrechnung. Es wird jene ausgewählt (sic!), mit der sich der erhoffte Treffer

einstellen wird, nämlich S/H = 12/9 und = rd. 53°. Mit S/H = 13/9 bzw.  = rd. 55° passt es noch besser, aber das wäre vielleicht ein zuviel an „richtiger“ Auswahl, weil dabei noch ein Messfehler unterstellt werden muss, der sich als begünstigend für die Koinzidenz zwischen Sonnenaufgangsrichtung und Kirchenachse erweist. S/H = 12/9 immerhin ist eine von zwei sinnvoll möglichen Varianten, was die Auswahl zumindest begründet erscheinen macht. Mit diesem Wert wird im Folgenden weitergerechnet.

Der Meridianschnitt der Himmelskugel im Analemma des Vitruv

Vor der Berechnung des Sonnenaufgangsazimutes am 8. September (Mariä Geburt) ist ein weiterer Blick auf das Analemma des Vitruv nötig, wobei das Augenmerk nun auf die Verhältnisse an der Himmelskugel gerichtet sei, die in Abbildung 12 im kreisförmigen Meridianschnitt mit der Spitze A des Gnomons als Mittelpunkt dargestellt ist. Die Linie E-I stellt die im Meridian geschnittene Horizontebene der Himmelskugel dar, die Linie P-Q die Polachse und die Linie N-F die geschnittene Äquatorebene des Himmels. Der Punkt I ist der Nordpunkt des Horizontes, der Punkt E der Südpunkt. Weiterhin sind zwei Sonnenbahnen eingezeichnet, die parallel zum Himmelsäquator liegen (der selber schon die geschnittene Sonnenbahn zu den Tag-Nacht-Gleichen bezeichnet). K-H bezeichnet die geschnittene Bahnebene der Sonne bei der winterlichen Sonnenwende, die mit dem selben Abstand zum Himmelsäquator nördlich gelegene Linie L-S (noch zu verlängern bis zum Rand der

Himmelskugel) die geschnittene Bahnebene der Sonne zur Zeit der sommerlichen Wende. Die Linien A-R und A-T führen zu den Schnittpunkten dieser beiden extremalen Sonnenbahnen

(14)

14

an der Himmelskugel (einer dieser Schnittpunkte ist mit H bezeichnet, der andere

Schnittpunkt in Verlängerung der Linie L-S ist unbezeichnet). Mit dem Äquatorteilstück A-F schließen diese Linien jeweils den Winkel 24° ein, die als 15. Teil des Vollkreises leichter konstruierbare antike Näherung für die Ekliptikschiefe (Schiefstellung der Erdbahnebene gegen die Äquatorebene). Die Ekliptikschiefe von hier 24° entspricht auch den extremalen Sonnendeklinationen von +24° im Sommer und -24° im Winter. Die Sommerbahn L-S schneidet die Horizontebene im Punkt S, die Winterbahn K-H im Punkt V. Diese Punkte bezeichnen die in den Meridianschnitt hineinprojizierten Auf- bzw. Untergangspunkte der Sonne auf dem Horizont. Mit Hilfe dieser Punkte lassen sich die Aufgangsrichtungen der Sonne an den Wendetagen ermitteln (dazu später mehr). Für die Bestimmung der Lage einer beliebigen Sonnenbahn fügt Vitruv seinen berühmten kleinen Hilfskreis „Menaeus“ zwischen die extremalen Sonnenbahnen L-S und K-H ein. Er ist rechts unten am Rand der

Himmelskugel zu sehen und besitzt den Radius D-H. Mit dieser trickreichen

Hilfskonstruktion lässt sich für einen beliebigen Tag im Jahr die ekliptische Länge der Sonne innerhalb des Menaeus festlegen und daraus die Deklination der Sonne und deren Bahnlage zwischen den extremalen Bahnen der Winter- und Sommersonne finden. Dies wird nun im Einzelnen für den Fall Meschede mit einer geografischen Breite von 53° (gemäß Zeile 3 in Tabelle 3) durchgeführt und weiter erläutert.

Die Berechnung des Sonnenaufgangs am 8. September mit dem Analemma

Abbildung 13 zeigt das Analemma des Vitruv für eine Polhöhe von 53°, jetzt ohne den Gnomon und die Konstruktion der Mittagsschatten.

Abb. 13: Das Analemma des Vitruv für die Polhöhe 53°

Der entscheidende Schritt zur Lösung der Aufgabenstellung, die Berechnung der Sonnenaufgangsrichtung am 8. September, ist nun die Konstruktion der Sonnenbahn an

(15)

15

diesem Tag im Meridianschnitt. Die geschieht mit Hilfe des Menaeus, der in Abbildung 13 in 12 gleiche Unterabschnitte geteilt ist, die den 12 Winkelabschnitten der Tierkreiszeichen auf der scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik) entsprechen. Die Symbole der ersten drei Zeichen vom Frühlingspunkt (FP) bis zum Sommerpunkt (in dem der Menaeus die sommerliche Sonnenbahn tangiert), Widder, Stier und Zwillinge, sind eingetragen.

Gemäß der Festlegung des Konzils von Nicäa erfolgt der Eintritt der Sonne in das Zeichen des Widders am 21. März. Die Sonne steht dann im Frühlingspunkt (FP) auf dem

Himmelsäquator. Bis zum Herbstanfang am 23. September hat die Sonne den halben Menaeus durchwandert und steht erneut im Himmelsäquator - im Herbstpunkt (HP). Der Stand der Sonne im Menaeus entspricht ihrer ekliptischen Länge, gezählt ab dem Frühlingspunkt. Beim Frühlingsanfang beträgt die ekliptische Länge 0°, beim Sommeranfang 90°, beim

Herbstanfang 180° und beim Winteranfang 270°.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich im julianischen Kalender seit dem Konzil von Nicäa das Datum des astronomischen Frühlingsanfangs systematisch im Kalender auf frühere Daten zurückverlagert, muss bei der Anwendung des Analemmas im frühen Mittelalter davon ausgegangen werden, dass – analog zur Osterfestberechnung – in Unkenntnis der

Datumsverschiebung der astronomische Frühlingsanfang mit dem 21. März im julianischen Kalender gleichgesetzt wurde. Und entsprechend der Herbstanfang mit dem 23. September.

Der 8. September liegt 15 Tage vor dem 23. September und demnach beträgt die ekliptische Länge der Sonne am 8. September 180°-15° = 165° (genauer: 180°- 15 x (360°/365,25) = 165,2°, während sie bei richtiger Kenntnis über die Lage des Herbstpunktes in der Zeit um 900 (23. September - 5 Tage = 18. September) stattdessen zu 180° - 10° = 170° bestimmt werden müßte. Man erhält folglich mit dieser Berechnung eine etwas höhere Bahn am 8.

September, gegenüber der tatsächlichen Bahnlage in der Zeit um 900. Die Abbildung 14 zeigt die Konstruktion dieser Sonnenbahn mit der ekliptischen Länge 180° - 15° = 165°.

Abb. 14: Bestimmung der Sonnenbahn bei einer ekliptischen Länge von 165°

und Konstruktion des Nordazimuts der Sonnenaufgangsrichtung.

(16)

16

Im Menaeus ist ein kleines Sonnensymbol für die Position der Sonne bei einer ekliptischen Länge von 165° eingezeichnet (8. September um 300). Die Bahnebene der Sonne an diesem Tag erhält man durch Konstruktion einer zum Himmelsäquator parallelen Linie, die dieses Sonnensymbol schneidet. Der Schnitt dieser Linie (in Abbildung 14 in blau gezeichnet) mit der Horizontlinie ist der in den Meridianschnitt projizierte Aufgangsort der Sonne.

Tatsächlich muss man sich die Sonne auf dem Rand des Horizontkreises denken, der im Meridianschnitt nur als waagerechte Linie erscheint. Der vollständige Horizontkreis lässt sich aber durch Umklappen um den Winkel 90° in der Meridianebene darstellen, wie es für den Osthorizont durchgeführt ist (roter Halbkreis in Abbildung 13). Das Symbol der aufgehenden Sonne kommt dadurch ganz oben am Rand des roten Halbkreises zu liegen. Schließlich lässt sich auch die Richtung des Sonnenaufgangs entnehmen (rote Linie von der Mitte der

Himmelskugel zum Sonnensymbol am oberen Rand). Der Winkel dieser Richtung mit der Nord-Süd-Richtung (waagerechte Linie im Meridianschnitt) ist das Nordazimut des Sonnenaufgangs. Es beträgt 80°.

Vitruvs Konstruktionsverfahren liefert mit etwa Gradgenauigkeit die gesuchte Richtung. Im Rahmen der Genauigkeit, die man bei den verschiedenen Konstruktionsschritten und der Festlegung der eingehenden Winkel (Ekliptikschiefe 24°, geografische Breite 53°, ekliptische Länge der Sonne am 8. September 165°) erwarten kann, stimmt sie mit der Kirchenachse, deren Azimut 79° beträgt, sehr gut überein. Der Treffer von Sonnenaufgangsrichtung und Kirchenachse hat sich also doch noch eingestellt!

Die Aufgangssituation stellt sich nun so dar, wie in Abbildung 15 wiedergegeben. Die Sonnenmitte erhebt sich bei einem Nordazimut von 80° über den mathematischen Horizont.

Refraktionseffekte, die bei den real beobachtbaren Sonnenaufgängen zu berücksichtigen sind (siehe Abbildungen 6, 8, 9 und 10), fehlen hier natürlich. In Abbildung 15 blass hinterlegt ist noch der erhöhte Landschaftshorizont, der aber ebenfalls in der Berechnung mit Vitruvs Analemma unberücksichtigt bleibt.

Abb. 15: Darstellung der Sonnenaufgangsbahn gemäß der Berechnung mit Vitruvs Analemma mit den hier benutzten Eingangsdaten und Festlegungen (siehe Text).

(17)

17

Der Vergleich der Abbildung 15 mit Abbildung 10 ist instruktiv. In beiden Abbildungen ist die gleiche Situation gezeigt; einmal mit Vitruvs Analemma nach der hier geschilderten Vorgehensweise berechnet, und einmal nach der modernen Methode mit Berücksichtigung aller Einflußfaktoren und größtmöglicher Exaktheit.

Sollten die karolingischen Baumeister in Meschede tatsächlich auf diese Weise die Richtung des Sonnenaufgangs zu Mariä Geburt berechnet haben, so lässt sich die Ausrichtung der Kirchenachse auf das Nordazimut 79° und den nahezu flachen Horizont verstehen.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass in dem Fall das intendierte Ziel, eine Lichtinszenierung im Reliquienstollen am Festtag der Geburt der Gottesmutter verfehlt wurde. Denn die Berechnung geht ja von der falschen Ausgangssituation aus, das Frühlingsäquinoktium läge in der Zeit um 900 auf dem 21. März.

Die gradgenaue Übereinstimmung für die Kirchenachse erhält man nur auf dem

mathematischen Horizont und auf dem Landschafthorizont beträgt die Diskrepanz 2,5° (Abb.

15). Ungleich größer fällt die Diskrepanz noch aus, wenn man das Berechnungsergebnis mit der realen Aufgangssituation am 8. September in der Zeit um 900 vergleicht. Die Sonne erscheint bei einem Azimut von 87° (siehe Abbildung 9) und ist damit um 8° aus der Peilung.

Für die Baumeister muss diese Feststellung ernüchternd gewesen sein – ist doch ihr Versuch, mit Vitruvs Methode die Sonnenaufgangsrichtung zeichnerisch zu berechnen, aufgrund der Unzulänglichkeit des julianischen Kalenders gescheitert. Es wäre eine noch weitergehende Spekulation, darin sogar einen Grund für den Wechsel des Patroziniums oder die völlige Aufgabe des Reliquienstollens beim späteren Umbau sehen zu wollen.

Bewertung der Vorgehensweise

Die Untersuchung der Ausrichtung der Stiftskirche Meschede hat erbracht, dass man ihr durchaus eine archäoastronomische Relevanz zusprechen kann. Die mit Vitruvs Analemma und sinnvollen Annahmen für die Eingangsgrößen bestimmte Aufgangsrichtung der Sonne am 8. September stimmt etwa gradgenau mit der Kirchenachse überein (in der Zeit um 300 und auf dem mathematischen Horizont).

Allerdings waren auf dem Weg zu diesem „Ziel“ eine Reihe von Zusatzannahmen nötig, die sich zwar alle begründen lassen, aber in ihrer Fülle einen Spielraum eröffnen, um durch geeignete Auswahl das Ziel einer archäoastronomischen Interpretation der Kirchenachse erreichen zu können. In methodischer Hinsicht ist deshalb jetzt eine umfassende Bewertung der Vorgehensweise angebracht. Folgende Annahmen wurden gemacht:

1) Eine archäoastronomische Relevanz der Stiftskirche Meschede ist gegeben

Hierbei handelt es sich um die Arbeitshypothese und eine solche aufzustellen ist methodisch selbstverständlich völlig unbedenklich. Die Hypothese soll durch die Untersuchung geprüft und verworfen oder bestätigt werden. Die Arbeitshypothese stützt sich einerseits auf die architektonische Auffälligkeit des Reliquienstollens in der Kirchenachse, der sich in

Verbindung mit dem Fenster im Apsisscheitel der Krypta für eine Lichteinfallsinszenierung eignet. Andererseits auf die topografische Besonderheit, dass die Kirchenachse auf jenen kleinen Bereich des gesamten Horizontes ausgerichtet ist, der überhaupt einen horizontnahen Lichteinfall in die Krypta zulässt.

(18)

18

2) Festlegung des Patroziniums und eines Festtagsdatums für die Lichtinszenierung Die Untersuchung macht nur Sinn, wenn das durch Lichteinfall möglicherweise

hervorgehobene Datum bekannt ist. (Mit der Lichteinfallsgeometrie ein bestimmtes Datum als bedeutsam für Meschede konstruieren zu wollen, setzte ja voraus, die solare Ausrichtung sei bereits erwiesen. Ein logischer Zirkelschluß.)

Für Meschede kommen Maria und Walburga in Betracht (und der nicht überlieferte Termin der ersten Weihe). Im Fall des Marienpatroziniums kommen verschiedene Festtage der Gottesmutter Maria in Frage, wodurch die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Koinzidenz von Kirchenachse und Sonne an einem dieser Festtage ansteigt.

Die Auswahl jenes Festtages, bei dem es am ehesten passt, ist willkürlich und damit

methodisch bedenklich. Es müssen unabhängige historische Belege für eine solche Auswahl beigesteuert werden, z.B. in der Art, dass ein Fest anlässlich Mariä Geburt am 8. September in Damenstiften allgemein üblich war.

3) Die Kirchenachse wurde bei Planung und Bau der Stiftskirche rechnerisch bestimmt

Hätte es mit einem beobachtbaren Sonnenaufgang an einem der Marienfeiertage gepasst, wäre die Untersuchung mit dem Ergebnis einer Ausrichtung nach der Sonne sofort beendet worden.

Dem zweiten Versuch, es mit der Berechnung des Sonnenaufgangs für die Epoche 300 zu versuchen, nachdem die beobachtbaren Sonnenaufgänge der Epoche 900 nicht zum erhofften Ergebnis führten, haftet damit von vornherein der Makel einer Reservemöglichkeit zur Rettung der Hypothese an. Sobald man nur einmal von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss man sie bei allen derartigen Untersuchungen gleichberechtigt zur Methode einer

Ausrichtung nach beobachteten Sonnenaufgängen mit behandeln. Mit zwei Möglichkeiten zur astronomischen Deutung einer Kirchenachse steigt auch die Zufallswahrscheinlichkeit an.

4) Die Berechnung des Sonnenaufgangs erfolgt mit Vitruvs Analemma

Und ebenso die Bestimmung der geografischen Breite nach dem von Vitruv geschilderten Verfahren mit dem Gnomon. Diese Annahmen sind naheliegend und nachvollziehbar und im Kontext der karolingischen Gelehrsamkeit auch denkbar. Die Kenntnis von Vitruv in

Meschede ist durch die Verwendung der Schalltöpfe archäologisch noch zusätzlich belegt.

Damit ist diese Annahme, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens, in methodischer Hinsicht unproblematisch, zulässig und diskussionswürdig.

5) Die Rechnung erfolgt mit Bezug auf den kalendarischen Frühlingsanfang am 21. März Anders wäre es schwer denkbar. Die Diskrepanz zwischen dem kalendarischem und dem astronomischem Frühlingsanfang hat erst im 16. Jahrhundert zur gregorianischen

Kalenderreform und Wiederherstellung der alten Verhältnisse geführt, obwohl bereits seit dem 14. Jahrhundert verschiedene Gelehrte eine Reform forderten. Die Berechnung des Osterfestes erfolgt trotz der zunehmenden Diskrepanz immer nach der Festlegung des Frühlingsanfangs auf den 21. März im Konzil von Nicäa. Ein lokales Abweichen von dieser Tradition durch die Mescheder Baumeister ist sehr unwahrscheinlich. Die Annahme ist damit hinreichend gut begründet.

6) Es wurden sinnvolle Näherungen und Vereinfachungen für die Berechnung angewendet Das zeichnerische Rechnen mit dem Analemma des Vitruvs erfordert Konstruktionen mit Zirkel und Lineal, Winkelbestimmungen auf dem Zeichenbrett und Absteckungen im Gelände. Die Genauigkeit der zeichnerischen Berechnung und der Absteckung der

(19)

19

Kirchenachse wird deshalb nach der Durchführung des ganzen Verfahrens kaum besser sein können als 1°. Im Rahmen dieser Genauigkeitseinschränkungen ist die Vernachlässigung der restlichen Überhöhung des Landschaftshorizontes in der fraglichen Richtung von 1° über dem mathematischen Horizont vertretbar. Die hier angesetzten Näherungswerte stützen sich auf leicht nachvollziehbare Plausibilitätsüberlegungen und sind zwar diskussionswürdig, aber methodisch nicht zu beanstanden.

7) Die Wahlfreiheiten bei der Untersuchung werden im Hinblick auf einen Treffer genutzt An verschiedenen Stellen (Wahl des Festtages; Wahl der Bestimmungsmethode, Wahl des Wertes der geografischen Breite u.a.) wurden Auswahlen getroffen, die letztlich zu der

gewünschten Koinzidenz des Sonnenaufgangs am 8. September mit der Kirchenachse führten.

Wäre die Wahl jeweils anders ausgefallen, hätte sich die Koinzidenz nicht herausgestellt oder wäre schlechter ausgefallen. Durch den Dschungel der verschiedenen Untersuchungsansätze, Methoden und Festlegungen wurde hier ein Weg hin auf das vorher gesteckte Ziel

geschlagen. Methodisch ist dieses „selbstgesteuerte Auswahlverfahren“ höchst bedenklich, denn auch wenn sich jede Einzelentscheidung auf dem Weg zum Ziel noch recht gut begründen lässt, so ist das Vorgehen insgesamt doch tendenziös, weil die Wahl nicht frei erfolgt, sondern vorbestimmt ist.

Die Diskussion der verschiedenen Punkte soll verdeutlichen, wie zahlreich und komplex die vielen Fragestellungen sind, die einem bei der Untersuchung einer Kirchenausrichtung auf die Sonne begegnen, und wie viel zusätzliches Wissen aus unterschiedlichsten Quellen vorliegen muss, um eine sichere Interpretation durchführen zu können, die der methodischen Kritik standhält.

Damit ist nicht gesagt, dass die festgestellte – sogar recht spektakuläre - astronomische Deutungsmöglichkeit für die Stiftskirche Meschede falsch ist. Aber ob hier der wahren Intention der Erbauer einfühlend in ihren zeitgenössischen Kontext nachgespürt wurde, oder das Vorgehen allein von eigenen Vorstellungen und Einbildungen geleitet wurde, lässt sich letztlich nicht entscheiden. Die geleistete Arbeit ist nicht per se wertlos, sieht sich aber ständig der Möglichkeit eines solchen Urteils ausgesetzt und ist damit von fraglicher Relevanz.

Diese Mahnung für den Freund der solaren Kirchenausrichtung ist das Hauptanliegen dieser methodischen Lehrstudie. Am herausragenden Beispiel der Stiftskirche Meschede, die zu einer vollständigen Auslotung der verschiedenen Untiefen bei der solaren Interpretation der Achsenorientierung geradezu einlädt und herausfordert, ließ sie sich idealtypisch entwickeln.

Einzelfalluntersuchungen vs. statistische Analyse

Das Schicksal der unentscheidbaren wissenschaftlichen Relevanz teilen viele

Einzelfalluntersuchungen, die mit einem nicht hinreichenden Datenmaterial oder ohne sichere Grundlagen aus nicht vorhandenen schriftlichen Quellen auskommen müssen.

Aussagensicherheit kann dann nur durch die Untersuchung einer größeren Stichprobe gleichartiger Fälle mit den Methoden der mathematischen Statistik gewonnen werden. Ideal wäre es, wenn alle vergleichbaren Fälle innerhalb einer bestimmten Region eine

Sonnenorientierung nach gleichem Muster zeigen, wodurch sich das Zufallsargument zurückdrängen ließe.

(20)

20

Bei einer statistischen Analyse an einem umfangreichen Datensatz ließen sich auch besonders interessante Untergruppen (z.B. nur Kirchen mit Krypten und besonderen

Lichteinfallsmöglichkeiten o.ä.) bilden und separat untersuchen. Bereits eine oberflächliche Durchsicht der romanischen Kirchen in Westfalen zeigt leider, dass es in dieser Region keine hinreichend großen Datensätze von derartigen Untergruppen gibt. Deshalb kann auch eine statistische Analyse nur zu globalen Aussagen über das gesamte Ensemble romanischer Kirchen führen, wie z.B. zur generellen Genauigkeit der Ostung, ob es systematische

Abweichungen von der genauen Ostrichtung nach Nordosten oder Südosten gibt und ob ggf.

zur Deutung der Ausrichtung die Patrozinien oder andere Festtage in Frage kommen. Ein Beispiel für eine solche Studie, die die Gesamtheit der Kirchen im Rheinland und in Westfalen in den Blick nimmt, findet sich in [4].

Für die besonders interessanten Einzelfälle wie Meschede gibt es nur gelegentliche punktuelle Vergleichsmöglichkeiten. Die Krypta der Stiftskirche Meschede kann z.B. mit der Krypta der Pfarrkirche St. Hippolyt in Attendorn-Helden verglichen werden. Die in ihrer urtümlichen Form erhaltene, etwas jüngere Krypta aus dem 10./11. Jahrhundert ähnelt ihrem älteren Mescheder Vorbild. Und tatsächlich lässt sich auch für Helden eine solare Ausrichtung postulieren. Die beobachtbare Aufgangsrichtung der Sonne am 13. August (um 1000), dem Feiertag des heiligen Hippolyt, stimmt etwa gradgenau mit der Kirchenachse überein (Abb.

16).

Abb. 16: Sonnenaufgang am 13. August um 1000 in Helden. Die aufgehende Sonne strahlt aus einer Höhe von 2° in die Krypta hinein und beleuchtet die Reliquiennische. Das Kirchennordazimut beträgt 71°+-0,3° (blaues Rechteck). Der sichtbare Horizont in 1,3° Höhe wird von einer 440 Meter entfernten, der Kirche vorgelagerten kleinen Kuppe in Helden gebildet.

Also doch ein bemerkenswerter Gleichklang zu Meschede mit einer Ausrichtung auf das Patrozinium und Lichteinfall der Sonne aus 2° Höhe in die tonnengewölbte Reliquiennische!

In Helden handelt es sich allerdings um eine funktionierende Ausrichtung auf den echten

(21)

21

Sonnenaufgang im 10./11. Jahrhundert (heute ist die Sichtline verbaut), nicht um die

theoretische Berechnung der Situation für die Zeit des Konzils von Nicäa, wie in Meschede.

Zwei architektonisch unmittelbar vergleichbare Fälle innerhalb der gleichen Region, aber der Schluss auf eine astronomische Intention der Erbauer müsste aufgrund unterschiedlicher Argumente erfolgen – in Meschede durch theoretische Berechnung, in Helden durch direkte Sonnenbeobachtung. Ein einheitliches Bild ergibt sich nicht.

Referenzen

[1] Hilde Claussen, Uwe Lobbedey: Die karolingische Stiftskirche in Meschede; erschienen in: Westfalen - Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde, 67. Band 1989, 116 – 126 [2] Uwe Lobbedey: Romanik in Westfalen, Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2000 [3] Vitruvius, übersetzt von August Rode: Des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst, Leipzig 1796; Digitalisat der Universität Heidelberg unter http://digi.ub.uni-

heidelberg.de/diglit/vitruvius1796a/ (Aufruf im Mai 2015)

[4] Christian Wiltsch: Das Prinzip der Heliometrie im Lageplan mittelalterlicher Kirchen – Nachweis der Ausrichtung von Kirchenachsen nach Sonnenständen an Kirchweih und Patronatsfesten und den Folgen für die Stadtentwicklung; Dissertation RWTH Aachen 2014, Skaker Verlag, Aachen 2014

Abbildung

Abb. 2: Grundriss der Umgangskrypta.
Abb. 4: Simulierte Horizontsicht in östlicher Richtung. Die Kirchenachse (offenes Rechteck bei 79°
Abb. 5: Darstellung des Unterschieds zwischen Gitternord und geografisch Nord. Die verschiedenen
Abbildung 6: Aufgang der Sonne in Richtung der Kirchenachse bei einer Sonnendeklination von 7,5°
+7

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Aus diesen Betrachtungen lassen sich drei grundlegende Tatsachen für Geländebeobachtun- gen der Wirkrichtung folgern. Erstens gestattet die Verteilung der

Januar 2002 hat der Koordinierungsausschuss (heute Gemeinsamer Bundesausschuss) dem BMGS die Einführung von strukturierten Behandlungs- programmen für die folgenden vier

Die Agenda 2030 greift vieles auf, was die Kirchen bereits seit den 1980er Jahren im Rahmen des weltweiten „Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Be- wahrung

Aber wenn jetzt das vierte, fünfte Kind auf der Welt ist und die Frauen keine Angst mehr haben müssen, dass die, die sie bereits haben, sterben werden, dann wollen sie keine

C.. Kapitel Gegenüberstellung der alten und neuen Fassung des § 51 UrhG. Die Bedeutung der Zitierfreiheit gemäß § 51 UrhG 5 II. Verbot der Substitutionskonkurrenz 10. 6.

GOST-R Zertifikat = Voraussetzung für die Einfuhr der zertifizierungspflichtigen Produkte in die Russische Föderation. Notwendig auf

Bevor 1970 das Staatssekretariat für Körperkultur als Organ des Ministerrates geschaffen wurde, stellte das seit 1952 bestehende Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport eine

ne Kompetenz dagegen et- inel anstatt Celigoj - vie- Greiner bemüht sich wirklich was zu unternehmen; dies len Dank an die Fach- redlich, die bestehenden und sei wohl