Von Alexander Zieseniss f
Die folgende Untersuchung will an der Hand von zwei Lehrerzählungen
einen Beitrag zum Problem „Einwirkung indischer Lehren auf den
Isläm" liefern. Die erste von den Geschichten, die hier erörtert werden
soUen, ist die ,, Parabel von dem Blinden und dem Elefanten".
Sie findet sich im 4. Sutta des 6. Kapitels des ,, Udäna" des PäU-Kanonsi)
und wird dem Erhabenen bei Gelegenheit eines von den Jüngern be¬
lauschten und ihm berichteten Streites zwischen den Vertretern ver¬
schiedener Lehrmeinungen in den Mund gelegt. Sie lautet folgender¬
maßen : Der König von Sävatthi befiehlt eines Tages einem seiner Leute,
alle Blindgeborenen der Stadt an einem Ort zusammenzubringen und
ihnen einen Elefanten zu zeigen. Dies führt der Beauftragte des Königs
in der Weise aus, daß er die einzelnen Blinden je verschiedene Körper¬
teile des Elefanten betasten läßt und dabei jeweils sagt: ,,So ist ein
Elefant". (Diese Worte fehlen jedoch in der barmanischen und siame¬
sischen Ausgabe des Tripitaka.) Dementsprechend bestimmen die
Blinden auf Befragen des Königs das Aussehen eines Elefanten als das
eines Kessels, einer Worfel, einer Pflugschar, einer Stange am Pflug,
eines Kornspeichers, einer Säule, eines Mörsers, einer Keule und eines
Besens. In der Verteidigung ihrer verschiedenen Ansichten geraten die
Bünden dann in Streit und gehen mit Fäusten aufeinander los, sehr zum
Vergnügen des Königs. Der Erhabene zieht dann den Vergleich mit den
Asketen verschiedener Richtungen. Abschheßend tut der Erhabene einen
feierhchen Ausspruch des Sinnes, daß eben diejenigen Menschen, die nur
einen Teil (der Wahrheit) sehen, in Streit miteinander geraten.
Die Analyse des Inhalts der Parabel ergibt folgendes Bild : Wichtig ist
zunächst das Element der absichtlichen Irreführung der Blinden durch
den Beauftragten des Königs und des letzteren Vergnügen über den Streit
der Bhnden untereinander. Das zeigt, daß die Idee, die Blinden den Ele¬
fanten betasten zu lassen, offenbar als Ausgeburt boshaften Machtkitzels,
bestenfalls einer Herrscherlaune anzusehen ist. Eine Nutzanwendung
in dem Sinne, daß die Vertreter der verschiedenen Lehren böswillig Irr¬
lehren verbreiten, ergibt sich daraus nicht, anders als in der weiter unten
zu besprechenden Version der Parabel. Das bestimmende Element der
äußeren Form der Parabel ist die Aufzählung der neun Körperteile des
Elefanten, die von den Blinden betastet werden und eine jeweils scharf
1) Deutsche Übersetziuig bei K. Seidenstücker, ,, Udäna. Das Buch
der feierlichen Worte des Erhabenen" (Augsburg 1920); ferner H. Olden¬
berg, ,, Reden des Buddha" (München 1922) S. 130ff. ; H. v. Glasenapp,
„Gedanken von Buddha" (Berlin-Zürich 1942) S. 20ff.
268 A. Zieseniss, Zwei indische Lehrerzählungen im Isläm
umrissene falsche Deutung empfangen. Dieses Element läßt sich in
folgender Liste zusammenfassen.
1. Kopf des Elefanten : Kessel, 2. Ohr des Elefanten : Worfel, 3. Zahn des Elefanten: Pflugschar,
4. Rüssel des Elefanten : Stange am Pflug,
5. Rumpf des Elefanten : Kornspeicher, 6. Fuß des Elefanten: Pfeiler, 7. Hinterteil des Elefanten: Mörser,
8. Schwanz des Elefanten: Keule,
9. behaartes Schwanzende: Besen.
Man hat hier eine sehr ins Einzelne gehende Neunzahl von Gleich¬
setzungen, deren zweite Bestandteile Kulturgeräte des indischen Dorfes
sind und teils mit dem Ackerbau zusammenhängen (2, 3,4, 5), teils Werk¬
zeuge des Haushaltes sind (1, 7, 9) bzw. in je einem FaUe einen wesent¬
hchen Bestandteil des Hauses (6: Pfeiler) und eine Waffe (8) befassen.
Die Mehrzahl der Gleichungen leuchtet ohne weiteres ein ; auch der Ver¬
gleich Kopf: Kessel und Rumpf: Kornspeicher, bei welchen die Analogie
der Form für den Europäer nicht so stark wie in den anderen Fällen in
die Augen springt, ist immerhin verständlich. Schwierigkeiten bietet
eigenthch nur die Identifikation des Hinterteils des Elefanten mit einem
Mörser, weil man hier den Anknüpfungspunkt des Vergleiches nicht er¬
kennen kann.
Eine zweite Version der Parabel findet sich in dem äivaitischen Text
Vrhaspatitattva, einem frühen Werk des Saiva-Systems im engeren
Sinne (Saivasiddhänta), das in der alt javanischen Literatur in der Form
eines Gerüstes von 84 Sanskritversen mit alt javanischer Paraphrase und
Textfortführung erhalten ist. Als Bestandteil der alt javanischen Lite¬
ratur mag das nur in jungen Handschriften erhaltene Werk in die Zeit
um 1000 n. Chr. gehören, als Bestandteil der Sanskrithteratur etwa zwei
Jahrhunderte jünger sein, ohne daß sich hier bis jetzt Sicheres sagen
läßfi).
Die fragliche Parabel erscheint in der Einleitung des Vrhaspatitattva,
deren Zweck es ist, darzutun, daß die verschiedenen in diesem Texte in
eigenartiger Weise miteinander verschmolzenen Sivaitischen Lehren als
gleichwertige Bestandteile einer höheren Einheit betrachtet werden
müssen.
Nach dieser Erzählung baten die Bhnden die Sehenden, daß sie sie den
Elefanten betasten ließen. Jeder der Blinden betastete den Elefanten
an einer anderen Stelle. Keiner von ihnen konnte aber die wahre Gestalt
1) Vgl. Zieseniss, Studien zur Geschichte desQivaismusI: Die ^ivaitischen
Systeme in der altjavanischen Literatur, Bijdragen tot de Taal-, Land- en
Volkenkunde van iNederlands Indie Deel 98, afl 1/2 S. 75 f. Der Verfasser
des vorliegenden Artikels hat eine kritische Ausgabe des Textes mit Über¬
setzung hergestellt und die Lehren des Werkes in einer größeren Mono¬
graphie erschöpfend behandelt. Beide liegen druckfertig vor.
des Elefanten erfassen, da sie immer nur einzelne Teile seines Körpers
befühlten. Die Blindheit der Blinden versinnbildlicht die innere Ver¬
blendung, der Körper des Elefanten den inneren Gehalt der Wahrheit,
und die einzehien Teile seines Leibes, Kopf, Stoßzahn, Rüssel usw. sind
die Lehrbücher mit den darin enthaltenen Lehren. Von diesen gibt es
viele; sie alle sind von der heiligen Wahrheit erfüUt (d. h. enthalten einen
Teil bzw. einen bestimmten Aspekt der höchsten Wahrheit) und ver¬
ursachen darum (wenn man die Unvollkommenheit des jeweils Gelehrten
nicht erkennt) tiefe Verwirrung. Vrhaspati bittet darauf um Darstellung
der wirkhch maßgebenden Lehre.
Statt der zehn Teile des Elefantenkörpers mit ihren Entsprechungen
bat die Sivaitische Version nur je sechs, die sich folgendermaßen in einer
Iiiste zusammenfassen lassen:
1. Kopf des Elefanten: Topf,
2. Ohr des Elefanten: Fächer,
3. Stoßzahn des Elefanten : gedrechseltes Holz,
4. Rüssel des Elefanten: Schlange,
5. Bauch des Elefanten: Abhang eines Berges (unsicher),
6. Schwanz des Elefanten : Flöte.
Die Vergleiche sind auch hier unmittelbar dem Bereiche der gegen¬
ständlichen Kultur entnommen, ohne, wie in der buddhistischen Version,
eindeutig auf die Geräte der Dorfgemeinschaft bezogen zu sein. Die An¬
zahl der Körperteile des Elefanten ist geringer als in der buddhistischen
Version, aUe dort genannten Gliedmaßen kehren jedoch, da man Rumpf
und Bauch identifizieren darf, auch hier wieder. Die Vergleiche sind
durchweg treffend und verständlich, wenn man das oben über die
Gleichung Kopf des Elefanten : Kessel, hier Topf Gesagte berücksichtigt.
Die Identifikation von Ohr, Rüssel und Schwanz mit Fächer, Schlange
und Flöte sind sogar auffaUend plastisch und für den Europäer fast noch
besser verständhch als ihre Entsprechungen in der buddhistischen Form
der Parabel. Etwas farbloser, aber durchaus auch noch verständlieh ist
die Gleichung: Stoßzahn des Elefanten: gedrechseltes Holz. Auch den
zunächst etwas seltsam anmutenden Vergleich des Rumpfes des Ele¬
fanten mit dem Abhang eines Berges kann man bei einigem Nachdenken
schon verstehen. Die Sivaitische Form der Parabel stellt also gegenüber
der buddhistischen eine einfachere, minder durchgebildete Prägung dar.
Die buddhistische Form erscheint in erster Linie durch die Erhöhung der
Anzahl der Körperteile, aber auch durch die scharfe Herausarbeitung
der Beziehung zur indischen Dorfkultur in den Dingen, mit denen diese
Ghedmaßen identifiziert werden als die komphziertere und in höherem
Maße entwickelte Gestalt der Parabel.
Die Tatsache des Vorliegens der einfacheren Form in dem jüngeren
Text könnte man angesichts der Erhaltung alter VorsteUungen im Be¬
reiche des Sivaismus so deuten, daß hier der Sivaismus das Ältere be¬
wahrt hat. Der Gedanke einer Übernahme des Grundgedankens der
270 A. Zieseniss, Zwei indische Lehrerzählungen im Isläm
Parabel und einer Neugestaltung derselben in freier Nachbildung in
Anlehnung an das Vorbild unter Beschränkung auf das Wesentliche
liegt aber angesichts des Auftretens dieses Falles der islamischen Form
vielleicht näher^).
Die Parabel von den Bhnden und dem Elefanten erscheint auch in der
islamischen Literatur, und zwar in der Ihyä des berühmten Religions¬
philosophen al-Ghazzäli (11. Jahrh. n. Chr.). Hierauf hat Rhys Davids
im Journal of the Royal Asiatic Society 1911, S. 200 kurz hingewiesen,
ohne auf die islamische Form der Parabel näher einzugehen. Diese ist
dem Indologen zugänglich durch die in Browne's ,, Literary History of
Persia" (Vol. II, S. 319f.) gegebene Übersetzung ihrer Darstellung in
dem ,,Hadiqatu '1 Haqiqat" (Garten der Wahrheit) des ersten per¬
sischen Dichters mystischer Mathnawi, des Sanä'i (12. Jahrh. n. Chr.).
Die Parabel hat bei Sanä'i folgende Form: In der Nähe der Stadt
Ghur befand sich einstmals eine Stadt, deren Bewohner samt und sonders
blind waren. Ein Sultan schlug, als er in diese Gegend kam, sein Lager
in der Nähe der Stadt auf. In diesem befand sich als Symbol seiner
Macht ein riesiger Elefant. Die Bhnden wünschten das Wesen dieses
Elefanten kennenzulernen. Sie schickten deshalb eine Gesandtschaft.
Jeder der Abgesandten betastete aber nur einen Teil des Elefanten¬
körpers und bildete sich danach eine Vorstellung von demselben. Dem¬
entsprechend fielen ihre Antworten auf die Fragen ihrer Mitbürger nach
dem Wesen des Elefanten aus. Einer, der nur das Ohr des Elefanten be¬
fühlt hatte, sagte: ,, Er ist wie ein Teppich, hart und flach ausgebreitet und umfangreich". Derjenige, der den Rüssel des Elefanten betastet hatte,
verbesserte ihn: ,,Nein, der Elefant ist wie ein Wasserleitungsrohr, hohl,
aber gleichzeitig Verderben bringend" (man hat an den Druck des
Wassers im Rohr zu denken). Derjenige, der nur die Beine des Elefanten
befühlt hatte, sagte dagegen: ,,Nein, der Elefant ist wie eine Säule, die
spitz zu einem Kegel zuläuft". Weil jeder nur einen Teil des Ganzen er-
1) Als Variante der im Vrhaspatitattva erhaltenen Version ist anzusprechen
die dem Verfasser durch II. von Glasenapp und Carl Schneider in Königs¬
berg zugänglich gemachte Version der Parabel, welche sich in dem Buche
von E. S. Robinson, Readings in General Psychology S. 245 in der Form
eines Gedichtes findet. Hier hat man gleichfalls die Sechszahl von Ver¬
gleichspunkten, aber zum Teil mit anderen Einzelheiten : Seite des Elefanten :
Mauer, Stoßzahn : Speer, Rüssel : Schlange, Knie (= Bein) : Baum, Ohr :
Fächer, Schwanz : Strick. Ganz gleich sind hier nur die Entsprechungen
Rüssel : Schlange und Ohr : Fächer. Die Deutung des Stoßzahns als Speer ist
mit derjenigen der Öaiva-Version fast identisch insofern der Speerschaft
gedrechseltes Holz sein kann. Die Entsprechung Knie (Bein) : Baum findet
sich ähnlich in der buddhistischen Version wieder, welche Bein und Pfeiler
in eins setzt. Das Gedicht zeigt im Stil eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit demjenigen der englischen Wiedergabe der Version bei Sanä'i durch Browne.
Der Schluß des Gedichtes ,, Though each was partly in the right And all
were in the wrong" ist nicht etwa im Sinne einer Skepsis zu verstehen,
sondern gibt in etwas ungeschickter Form den Grundgedanken der Un¬
richtigkeit der Teilerfassung der höchsten Wahrheit wieder, den die Parabel zu lehren hat.
kannt hatte, versanken sie in so verhängnisvollen Irrtum. (Nutzanwen¬
dung) : Ebenso kann das Herz des Menschen kein Mittel finden, um das
AU in seiner Vollständigkeit zu erfassen.
Wie in der sivaitischen Version der Parabel und abweichend von der
buddhistischen Version beruht das Betasten des Elefanten auf dem
Wunsche der Blinden, das Wesen dieses merkwürdigen Tieres zu er¬
kennen und nicht auf der Kaprize des Königs von Sävatthi. Es fäUt
dabei auf, daß man sich hier die Bhnden als in einer in der Nähe von
Ghur (Afghanistan) lokahsierten Stadt zusammenwohnend vorstellt
sowie daß eine ausdrückliche Begründung für das Erscheinen des Ele¬
fanten vor ihrer Stadt als Prunkstück eines Fürsten und Beweis seiner
Macht gegeben wird.
Die Zahl der Körperteile des Elefanten und ihrer Entsprechungen be¬
trägt hier nur drei gegenüber den neun der buddhistischen und den
sechs der Sivaitischen Version. Es entsprechen sich:
1. Ohr des Elefanten: Teppich, 2. Rüssel des Elefanten: Wasserrohr,
3. Bein des Elefanten : nach oben in einen Kegel zu¬
laufende Säule.
Die beiden ersten Körperteile kehren in beiden indischen Versionen
wieder, das Bein des Elefanten nur in der buddhistischen Version. Die
VergleichsvorsteUungen weichen mit Ausnahme der letzten gänzhch von
denen der indischen Formen ab. Der Pfeiler der buddhistischen Version
und die Säule der iranischen Version sind dagegen als identisch zu be-
trachten*).
Daß die Parabel aus dem indischen Kulturbereich in den des Islams
übernommen worden ist, daran kann kein Zweifel sein. Der Elefant ist
in Indien heimisch und nicht in den islamischen Grenziändern. Darum
wird auch in der Darstellung des Sanä'i eine ausdrückliche Begründung
für das Erscheinen des Elefanten im Gefolge eines Fürsten gegeben.
Auf die Übernahme eines fremden VorsteUungsbereiches weist es
ferner ziemUch sicher hin, daß die islamische Form der Parabel sich auf
1) Während der Drucklegung macht uns Dr. Annemnrie Schimmel freund¬
lichst darauf aufmerksam, daß sich das Elefantengleichnis auch in Math¬
nawi, Buch III Vers 1259 des Jaläladdin Rümi (gestorben 1273 n. Chr.)
findet. Dort sind es aber nicht Blinde, die den Elefanten zu beschreiben
versuchen, sondern Sehende, die in ein dunkles Haus geführt werden, in
welchem Inder einen Elefanten ausgestellt hatten. Die betasteten Körper¬
teile des Elefanten und ihre Entsprechungen sind folgende : Rüssel (Wasser¬
pfeife) , Ohr (Fächer) , Bein (Säule) , Rücken (Thron) . Die aus der Geschichte
gezogene Folgerung lautet in Dr. Schimmels Übertragung :
,,Hätt' jeder eine Kerze in den Händen,
Verschiedenheit der Rede müßte enden.
Der Hand kannst du den Siimenblick vergleichen, nie kann die Hand das ganze Tier erreichen.
Das Meer ist anders, und des Schaumes Schnee —
du laß den Schaum, sieh mit dem Blick der See".
18 ZDMO Heft 2
272 A. Zieseniss, Zwei indische Lehrerzählungen im Isläm
die drei Körperteile des Elefanten beschränkt, welche wegen ihrer Be¬
tätigungsart bzw. Form dem mit diesem nicht Vertrauten besonders
auffaUen müssen, nämhch Rüssel, Ohr und Bein. Hier ist die Tatsache
einer Übernahme des Grundgehaltes der Parabel in dessen Wiedergabe
in freier Form unter ganz lockerer Anknüpfung an die indischen Vor¬
bilder eindeutig klar.
Durch die einleitende Erwähnung des Wissensdurstes der Blinden
steht die so verkürzte islamische Version mit der Sivaitischen Form der
Parabel, durch die Erwähnung des Beines des Elefanten und seiner
Identifikation mit der Säule mit der buddhistischen Form der Parabel
in Verbindung.
Zeitpunkt und Weg der Übernahme der Parabel in den Islam lassen
sich nicht mit Sicherheit feststellen. Zeit und Art des ersten Belegs bei
Ghazzäh im 11. Jahrhundert deuten auf eine Übernahme in den Grenz¬
landen zwischen Indien und Iran nach der Einführung des Islam, denn
al-Ghazzäli war Ostiraner und wirkte zunächst in Naishapur in dem
Afghanistan benachbarten Chorasan. Auf eine Übernahme aus Afghani¬
stan deutet auch die Lokalisierung der Legende in Ghur bei Sanä'i.
Hiernach wäre Afghanistan das Vermittlungsland für die Übertragung
der Parabel nach Iran. Die Möghchkeit ist aber nicht restlos ausge¬
schlossen, daß sie auf dem weiteren Wege über Ostturkestan und Sogh-
diana bzw. Transoxanien nach Chorasan gekommen ist zur Zeit, als die
Städte der beiden erstgenannten Gegenden noch Zentren buddhistischer
Kultur waren, denn es ist natürlich nie mathematisch genau zu er¬
rechnen, auf welchem Wege eine derartige Übermittlung stattgefunden
hat. Andererseits weiß man natürhch noch nicht, ob die Parabel nicht
etwa schon vor al-Ghazzäli im Islam bekannt war. In diese Richtung
könnte es weisen, daß schon die Lehre des al-Mukanna, des ,, Ver¬
schleierten", des ,, Veiled Prophet of Khorassan" Thomas Moores,
Ende des 8. Jahrhunderts neben gnostisch-manichäischen Zügen die
Wiedergeburtslehre aufweist (Browne a. a. 0., Vol. I, S. 311, 318).
Wenn die letztere Lehre indisch und nicht auf gnostische Einflüsse
zurückzuführen ist, würde es naheliegen, ein Bekanntwerden der Parabel
im Islam schon für diese Zeit anzunehmen. Man denke an die Zeit der
Übertragung indischer Werke wie des Pancatantra in das Pehlewi unter
Khosrau Anushirwan (6. Jahrh.).
Die zweite Parabel, von der hier gehandelt werden soll, ist ohne
Durcharbeitung der in ihr enthaltenen Probleme bereits von indologischer
Seite kurz besprochen worden. Es ist die Legende von dem Hundeaas
mit den schönen Zähnen in Haribhadras Kommentar zu dem jinistischen
Ävassayasutta (ÄvaSyakasütra), welches die sechs notwendigen Pf hebten
der Jainas behandelt.
Nach dieser preist Indra im Himmel vor den Göttern den Väsudeva,
weil er in aUem nur das Gute sieht. Um Väsudeva auf die Probe zu stellen,
verwandelt sich eine Gottheit in ein Hundeaas mit schönen Zähnen.
Während alle anderen Leute vor dem Gestank entsetzt zurückweichen.
sagt Väsudeva nur ruhig: ,,Wie herrlich doch die Zähne dieses Hundes strahlen!" Diese Parabel ist nach den Angaben von K. Seidenstücker
auch buddhistisch, da sie im Kommentar zum Udäna zu finden ist. Die
gleiche Erzählung nur mit Jesus statt Väsudeva als dem Helden, tritt auf
bei dem iranischen Dichter Nizämi und ist von Goethe in den ,, Noten
und Abhandlungen zum besseren Verständnis des westöstlichen Diwans"
wiedergegeben worden. (Werke, eingeleitet von K. Goedeke, Stuttgart
1881, II, S. 328.)!)
Der der Parabel zugrunde hegende Sachverhalt des auf der Straße
herumliegenden Hundeaases ist etwas, was man im ganzen Orient er¬
warten kann. Im Gegensatz zur Parabel vom Blinden und den Elefanten
läßt sich hier aus dem Inhalt der Parabel die Entlehnung aus Indien in
den Islam nicht erschheßen. Das kann ledighch auf Grund der Analogie
zu der Parabel von den Bhnden und auf Grund der zeithchen Verhält¬
nisse der beiden Autoren geschehen, deren Fassungen bekannt sind.
Haribhadra gehört der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts nach Chr. an,
Nizämi dem 12. Jahrhundert. Nach dem Alter des islamischen Beleges
zu urteilen, möchte man auch in diesem Falle an eine Entlehnung zur
Zeit der vollen Herrschaft des Islams in Iran denken. Ob dann eine
Entlehnung aus dem Buddhismus oder dem Jinismus erfolgt ist, läßt
sich nicht mit Sicherheit sagen. Für ersteres spricht die Analogie der
ersten Parabel und man würde an eine Übernahme auf dem Wege über
Chorasan bzw. Ostturkestan Soghdiana Transoxanien denken.
Die zweite Möglichkeit der Entlehnung direkt aus dem Jinismus ist
aber nicht auszuschließen, falls die Plünderungs- und Eroberungszüge
des Mahmud von Ghazna im 10. Jahrhundert sich bis nach Gujarat,
noch heute einem Hauptsitz der Jainas, herunter erstreckten. Man muß
sich in diesem Falle die Wirkung dieser Kriegszüge auf die Kenntnis des
Islams von Indien in das Gedächtnis zurückrufen, wie sie in Alberunis
großem Werk über Indien zum Ausdruck kommt. Auch in diesem Falle
-wäre die Möglichkeit eines Eindringens in den Islam bereits zu früherer
Zeit bzw. in vorislamischer Zeit in Erwägung zu ziehen.
1) John Jacob Meyeb, ,, Hindu Tales. An English Translation of Ja¬
cobi's ,Ausgewählte Erzählungen in Mähäräshtri' " (London 1909) S. 88,
Anm. 2; vgl. M. Wintebnitz, ,, Geschichte der indischen Literatur"
II. Band (Leipzig 1920) S. 322 und „History of Sanskrit Literature"
vol II S. 488.
18*
Bücherbesprechungen
Erich Haenisch, Manghol un niuca tobca'an (Yüan-ch'ao pi-shi). Die
Geheime Geschichte der Mongolen. Aus der chinesischen Transkription
(Ausgabe Ye Teh-hui) im mongolischen Wortlaut wiederhergestellt.
Leipzig, Otto Harrassowitz, 1937, XII u. 140 S. mit 2 Tafeln in 8°.
Erich Haenisch, Wörterbuch zu Manghol un niuca tobca'an (Yüan-
ch'ao pi-shi). Geheime Geschichte der Mongolen, Leipzig, Otto Hab-
RASsowiTZ, 1939, VII u. 191 S. in 8».
Erich Haenisch, Die Geheime Geschichte der Mongolen, aus einer mon¬
golischen Niederschrift des Jahres 1240 von der Insel Kode'e im Ke-
luren-Fluß erstmalig übersetzt und erläutert. Leipzig, Otto Harrasso¬
witz, 1941, XXVII u. 210 S. mit 2 Karten und 2 Tafeln in 8".
Die Auflagen der drei Werke sind beim Leipziger Luftangriff 1943 ver¬
brannt. Vom Wörterbuch allein ist ein kleiner Restbestand gerettet. —
Die Übersetzung ist i. J. 1948 in zweiter Auflage neu erschienen, ohne Liste
der Personennamen. Von der Textausgabe ist eine neue verbesserte Auf¬
lage geplant.
Mit dem Erscheinen der zu besprechenden Arbeiten von Professor
Haenisch hat die Mongolistik die erste vollständige Ausgabe des ältesten
Denkmals der mongolischen Literatur, ein Wörterbuch dazu und eine
Ubersetzung erhalten, worauf die Mongolisten schon gegen siebzig Jahre
warteten. Wäre das von Palladius entdeckte Exemplar des Yüan-ch'ao
pi-shi schon damals in den siebziger Jahren des XIX. Jh. herausgegeben
und in irgendeiner europäischen Transkription veröffentlicht worden,
stünde jetzt die gesamte Mongolistik auf einer viel bedeutenderen Höhe.
Ja, man kann sogar sagen, daß man einmal in Zukunft die Geschichte der
Mongolistik in zwei Hauptperioden einteilen wird, und zwar in eine der
Yüan-ch'ao-pi-shi-'FoT6e\\\ing vorhergehende und eine auf sie folgende
Periode. Man kann schon jetzt behaupten, daß die Geschichte der mon¬
golischen Sprachen ohne ernste Berücksichtigung der Sprache der Ge¬
heimen Geschichte nicht erforscht werden kann, weil letztere das älteste
Literaturdenkmal der Mongolen darstellt, dessen Sprache ein mittel¬
mongolischer Dialekt ist. Unsere Kenntnis des Mittelmongolischen war
noch vor kurzem ziemlich dürftig. Die jetzt gesprochenen mongolischen
Sprachen, die unter der Sammelbenennung ,, Neumongolisch" zusammen¬
gefaßt werden, stellen eine Weiterentwicklung des Mittelmongolischen dar.
Um die sprachgeschichtliche Bedeutung der Geheimen Geschichte richtig
zu verstehen, genügt hier zu sagen, daß wir bis jetzt nur über mittel¬
mongolische Glossare und keine größeren zusammenhängenden Texte ver¬
fügten. Auf Grund des jetzt veröffentlichten Textes des Yüan-ch'ao pi-shi
kann eine vollständige Grammatik, einschließlich der Formen- und Satz¬
lehre zusammengestellt werden. Die Sprache der Geheimen Geschichte bietet
auch ein für den Sachverständigen wichtiges Material zur Lautgeschichte.
Indem wir uns zum ersten von den zu besprechenden Büchern wenden,
wollen wir hervorheben, daß die Transkribierung des mit chinesischen
Schriftzeichen geschriebenen mongolischen Textes ungeheure Schwierig¬
keiten barg, die Professor Haenisch mit Erfolg überwunden hat. Der von
ihm veröffentlichte mongolische Text liegt in einer verhältnismäßig ein¬
fachen Transkription vor, die aber denjenigen, die mit der Lautgesohichte